Infos zu Sinn und Wesen von Tantra
Liebe JCler.
Zunehmend hört und liest man von Tantra. Oftmals wird damit sehr Suspektes verbunden, oder der "Modetrend" wird aufgegriffen im Rahmen der Wellnessbewegung.
Selbst habe in meiner professionellen berufl. Massageausbildung eine ärztl. Lehrer gehabt, der fast 20 Jahre in Indien lebte. Einem kleinen Kreis ausgesuchter Schüler und Schülerinnen vermittelte der die Philosophie des Buddhismus und Hinduismus. Lehrte uns fernöstliche Techniken und Methoden. So auch das Tantra.
Mein Beitrag zum Thema soll etwas über Sinn und Wesen euch mitteilen.
Das Wort Tantra entstammt dem altindischen Sanskrit und heißt wörtlich: "Gewebe, Zusammenhang, Kontinuum". Im Wörterbuch findet man unter "Tantra": 1. Webstuhl, Webkette, Gewebe; 2. Grundlage, Norm, Regel; 3. Lehrbuch, Lehre; 4. Literaturgattung magisch-mystischen Inhalts; 5. Zauberformel; 6. Mittel, Trick; 7. Arzneimittel; 8. Autorität; 9. Saite.
Das Sanskritverb "tan" heißt ausbreiten, ausdehnen, das Suffix "tra" bedeutet, daß etwas für eine andere Sache gut geeignet ist. So ist ein Mantra (man: denken) gut für das Denken, ein Yantra (yan: halten) gut zur Stütze, Tantra ist also etwas, das die Ausdehnung fördert, und zwar die Ausdehnung des feinstofflichen Körpers; es meint aber gleichzeitig, diese Ausdehnung selbst, und obendrein bezeichnet es auch ihre Wirkung.
Was ist Tantra?
a) Die Philosophie
Das Tantra ist ein ganzheitlicher Weg zur Verwirklichung Höchster Liebe. Das Tantra ist ein Übungsweg mit einer breitgefächerten Vielzahl an Methoden, Techniken und Ritualen. Das Ziel ist die höchste menschliche Verwirklichung.
Darunter ist ein Zustand größtmöglicher Erfüllung und Befriedigung zu verstehen. Das ist eins mit dem, was im Osten Erleuchtung, Nirvana oder Samadhi, d. h. absolute Verwirklichung genannt wird.
Es geht um das Bewußtsein, in dem der Mensch in tiefstem Frieden ist und höchster Glückseligkeit zugleich. Das ist Ekstase, das höchste Entzückt- und Verzückt-Sein.
Es ist ein Zustand, wo alle menschliche Sehnsucht gestillt und jeglicher Kampf und Schmerz beendet ist. Damit hat die Tantrikerin/der Tantriker die ganze Schöpfung verstanden. Sie/Er ist eins damit, die Trennung und Abspaltung ist beendet. Sie/Er schwingt vollkommen und im Strom des Einverstanden-Seins.
Es gibt nichts Schöneres, als solchen Menschen zu begegnen, denn diese beseligende Verzückung ist höchst ansteckend. Auf das Erreichen dieses Zieles ist der ganze Tantra-Weg ausgerichtet. Somit will Tantra genau wie Yoga die Vereinigung des Menschen mit seinem ursprünglichen natürlichen Zustand wiederherstellen. Es geht um nichts anderes als wahre Selbsterkenntnis, und die Entdeckung des wirklichen "Ich".
Dieser abenteuerliche Weg der Selbstentdeckung ist lohnend. Es gibt nichts Wichtigeres, als den Sinn Deines Lebens zu verwirklichen.
b) Die Rolle des Körpers
Im Vergleich zu vielen spirituellen Richtungen und Übungswegen fällt im Tantra die starke Bejahung und Betonung des Körpers auf. Für die Tantrikerin/den Tantriker ist der Körper die Wahrheit, der Weg und das Leben. Der Körper in seiner Unvollkommenheit ist so vollkommen wie er ist. Der Körper ist Fahrzeug und Werkzeug zur Erleuchtung. Der Körper ist der geheiligte Tempel des Göttlichen. Der Körper ist das wunderbare Musikinstrument, auf dem das Göttliche seine Musik ertönen läßt. Der Körper ist das ästhetische Gewand und Ausdruck der Seele. Der Körper ist der Mikrokosmos, der den Makrokosmos, d. h. die ganze Schöpfung wiederspiegelt. Die Tanrikerin/der Tantriker entdeckt und versteht darin die Gesetzmäßigkeiten und das intensive Spiel der Gegensätze. Das ganze Universum wird als kosmisches Spiel "Lila" begriffen.
Die Gegensätze heißen im Tantra Shakti (das urweibliche, dynamische Prinzip) und Shiva (das urmännliche, statische Prinzip). Shakti und Shiva erscheinen als:
Yin - Yang
Mond - Sonne
Schwarz - Weiß
Nacht - Tag
Kalt -Warm
Einatmen - Ausatmen
Körper - Bewußtsein
Materie - Geist
Unten - Oben
Yoni - Lingam (Scheide - Penis)
usw. - und natürlich als
Frau - Mann.
Das Tantra ist somit ein Weg, der Gegensätzlichkeit bejaht und akzeptiert. Tantra heißt, nichts auszuschließen. Schwarz und weiß, weiblich und männlich werden als gleichwertige Manifestation der göttlichen Energie verstanden. Für die Tantrikerin/ den Tantriker gibt es nichts Schlechtes oder Falsches, von dem sie/er sich absondern müßte. Es gibt keine Moral und keine starren Regeln. Das Leben selbst ist der Meister.
Die Tantrikerin/der Tantriker muß nichts bekämpfen, unterdrücken oder ablehnen. Es gibt nicht Schmutziges, Verkehrtes oder Verwerfliches in dieser Schöpfung. Der Geist der Tantrikerin / des Tantrikers wird so weit, daß immer mehr darin Platz hat. Sie/Er wird zum Gefäß, das alles aufnehmen kann. Eine Leere entsteht, die von allem erfüllt werden kann. Der Geist der Tantrikerin / des Tantrikers ist somit höchste Ehrfurcht vor allem Leben, egal ob es sich schwarz oder weiß, schön oder häßlich, jung oder alt, wonnevoll oder schmerzlich manifestiert. Die Tantrikerin/der Tantriker gibt sich hin und fließt mit, ohne Widerstand zu leisten. Dadurch wird ihr/sein Wesen auf ein enorm hohes Energieniveau gehoben. Das ist der Weg der Ekstase - der Weg höchster Glückseligkeit. Die Tantrikerin / der Tantriker läßt sich von allem Leben anrühren. Auch zerstörerische Aspekte wie Wut oder Zorn (Kali/Shiva) sind Teil der göttlichen Energie.
Die Tantrikerin / der Tantriker möchte das Spiel von Shiva und Shakti bewußt erleben und auch, wenn es sein soll, die Vereinigung der Gegensätze geschehen lassen. Die Tantrikerin / der Tantriker braucht nichts zu zwingen, da sie/er weiß, das ohnehin alles zum Besten geschieht. Der Körper braucht nicht sublimiert oder abgestoßen zu werden, um Gott zu verwirklichen, sondern der Körper ist Gott, der Geist hat es nur noch nicht verstanden. Damit er's versteht, üben wir Tantra. Die Tantrikerin/der Tantriker vereint zwei Strömungen: den Körper zu vergeistigen und den Geist zu verleiblichen. Daraus entsteht das alchemistische Gold, das leuchtende Herz. Im Tantra geht es nicht darum, etwas Neues auf unser Mensch-Sein zu packen, sondern darum:
das Wunder zu entschleiern, das wir jetzt schon sind.
Es soll uns erwecken, aus unserer Trance und ins wirklichwache Sein führen, jenseits von Problemen, Sorgen und Verwicklungen des Geistes.
c) Die Sinnlichkeit
Das Besondere an Tantra ist das Ernstnehmen unserer Sinnlichkeit. Tasten, Riechen, Schmecken, Hören, Sehen sind göttliche Fähigkeiten, wenn sie richtig kultiviert werden. Es sind die Tore der innersten Glückseligkeit. Es sind die Tore zur höchsten Selbst-verwirklichung. Der ganze Körper ist Sinnlichkeit. Wenn das nicht sein sollte, hätten wir vom Göttlichen gar keinen Körper bei der Geburt erhalten. Darum ist es der göttliche Wille, daß wir unsere Sinne gebrauchen, verfeinern und in höchster Form zelebrieren. Der Tantriker entkommt der abstumpfenden Reizüberflutung der modernen Welt durch Achtsamkeits-Übung und Meditation. Die Wahrnehmung verschärft sich deutlich durch diese Praktiken. Ja, wahrscheinlich ist es der Sinn des Lebens, die Sinnlichkeit zu feiern. Durch Sinnlichkeit (Sensualität) gelangen wir zum Sinn. Die Schönheit in aller sinnlichen Wahrnehmung zu erkennen, ist wahrer Gottesdienst.
d) Erotik und Sexualität
Erotik ist der spannungsreiche Kontakt eines Sinnesorganes mit einem Reiz. Es ist das Wahrnehmen von zweien, die sich berühren und vereinigen möchten zu einem. Es ist der natürliche Zustand sich mit dem Schönen zu vereinigen. Deshalb spielt die sexuelle Vereinigung im klassischen Tantra immer eine zentrale Rolle. Da mit der Vereinigung auch die machtvollsten Vorgänge der Menschheit, Zeugung und Empfängnis verbunden sind, liegt es nahe, das hiervon ungeheure Energien ausgehen, die Tantra sich zunutze macht.
Der Tantrismus ist eine der buntesten und schillerndsten Blüten der indischen Kultur, ähnlich wie die geistigen Bewegungen der frühen Upanishaden-Zeit der epischen Tradition, kann man ihn sicher als kulturelle Revolution bezeichnen. Vielleicht war er das sogar in noch größerem Maße als alle anderen Bewegungen vor und nach ihm. Denn der Tantrismus stellt quasi die ganze Religionswelt auf den Kopf.
Die Grundtexte des Tantrismus - die Tantras und Agamas - bezeugen, daß auch der Tantrismus aus einem Randbereich der etablierten Kultur kam. In diesem Falle ist das sogar "handgreiflich" in geographischem Sinne zu verstehen. In den nord-westlichen und nord-östlichen Randzonen Indiens entstand etwa ab dem sechsten Jahrhundert n. Chr. eine Kulturströmung, die alle wesentlichen Dogmen der bekannten Religionswelt umwertete. Der Tantrismus postulierte eine radikale Hinwendung zur Welt. Die Welt war nicht mehr "lauter Übel" (sarvam duhkham) wie in vielen Upanishaden, auch nicht mehr Stätte der Pflicht (dharmaloka), wie in den Epen, sondern Stätte des Genußes (bhogaloka), Gottes "süßes Spiel" (Lila).
Es ist ein Grundgedanke des Tantra, daß der Mensch durch das Leben hindurchgehen müsse, und zwar nicht, indem er sich von der Natur abwendet, sondern indem er sie benutzt.
So entdeckte der Tantrismus den ganzen Bereich der erotischen Sinnlichkeit, die vor allem durch die asketisch orientierten Sekten religiös verbrämt worden war. Die verdrängte Weiblichkeit kam (wieder) zu ihrem Recht: auf der metaphysischen Ebene durch die Aufwertung der weiblichen Ur-Kraft (shakti), auf der gesellschaftlichen Ebene durch eine religiöse Gleichwertigkeit der Frauen, die jetzt verstärkt auch Lehrer (guru) waren.
So entdeckte der Tantrismus den menschlichen Körper. Auch war er jetzt nicht mehr die "Quelle der Schmerzen", sondern der "Tempel Gottes". In der radikalen Kosmo-logisierungstendenz des Tantrismus wurde der Körper - das Abbild der Welt - zum perfekten Werkzeug für die Befreiung. Für den Tantriker mußte der Körper so lang als möglich und in vollkommenem Zustand erhalten werden, gerade um die Meditation zu erleichtern.
So entdeckte der Tantrismus den rituellen Genuß (bhoga). Durch die Integration sinnlicher Elemente (z. B. des rituellen Geschlechtsverkehrs - "maithuna") in den tantrischen Übungsweg (sadhana), wurde Bhoga neben Yoga zum Eckpfeilder der tantrischen Praxis. Ja, es kam sogar zur großen tantrischen Grundregel, - die sich so stark von den frühen hindu-istischen Yogalehren unterscheidet: Yoga (die Anjochung des empirischen Bewußtseins an das transzendente Bewußtsein) und Bhoga ("Genuß", Erfahrung von Lebensfreude und Leid) sind das Gleiche. Bhoga selbst kann zu einem Lebensweg werden. Aus dieser Geisteshaltung entstand der Hatha-Yoga, die letzte Etappe der indischen Yoga-Geschichte vor dem Übergang in die Moderne. (Ende Zitat Dr. Fuchs)
Tantra im Hinduismus
Im Lexikon der östlichen Weisheitslehren findest Du über Tantra, hinduistisch, buddhistisch, Sanskrit wörtlich: "Gewebe, Zusammenhang, Kontinuum", hinduistisch: Das Tantra gehört nach dem Veda, den Upanishaden, den Puranas und der Bhagavad-Gita zu den Grundlagen des Sanatana-Dharma, der "ewigen Religion" des Hinduismus. Sein zentrales Thema ist die göttliche Energie und Schöpfungskraft (Shakti), die personifiziert als Devi oder Göttin, die jeweilige Form eines Gottesaspektes als seine Gemahlin darstellt, hauptsächlich als Gemahlin Shivas. Entsprechend Shivas verschiedenen segensreichen oder furchterregenden Formen nimmt auch seine Shakti segensreiche Gestalten wie Maheshvari, Lakshmi, Sarasvati, Uma, Gauri und andere, oder furchterregende wie Kali und Durga an.
Die ebenfalls als Tantra bezeichneten tantrischen Schriften und die tantrische Praxis bergen für Menschen, die nicht gewillt sind, sich einer strengen spirituellen Disziplin zu unterwerfen, Gefahren. Zwei tantrische Schulen haben sich herausgebildet.
1. der ungeläuterte, gefahrvolle Weg des Vamachara ("Linke-Hand-Weg"), der sich ungezügelten Riten und sexuellen Ausschweifungen hingibt;
2. der Dakshinachara ("Rechte-Hand-Weg") mit einem läuternden Ritual und strenger spiritueller Disziplin, die absolute Hingabe an die göttliche Mutter in ihren mannigfachen Formen fordert.
Jedes Tantra sollte 5 Themen beinhalten:
Die Schöpfung der Welt
ihre Zerstörung oder Auflösung
die Anbetung Gottes in seinem männlichen oder weiblichen Aspekt, d. h. die Anbetung einer der zahlreichen männlichen oder weiblichen Gottheiten
die Erlangung übernatürlicher Fähigkeiten
die verschiedenen Wege der Vereinigung mit dem Höchsten durch entsprechende Meditation
Sie setzen sich aus den verschiedenen älteren Yoga-Praktiken wie Karma-Yoga, Bhakti-Yoga, Kundalini-Yoga und anderen Yoga-Wegen zusammen.
Die tantrischen Abhandlungen sind meistens in Form eines Dialoges zwischen Shiva, dem göttlichen Herrn und seiner Shakti, der göttlichen Energie, abgefaßt. Sie versuchen, den ganzen Menschen zu göttlicher Vollkommenheit zu erheben, indem sie ihn lehren, die kosmische Kraft in sich (Kundalini-Shakti) durch besondere Riten und Meditation zu erwecken.
Fünf Dinge werden für die Riten des Tantra benötigt:
1. Madya, Wein
2. Mansa, Fleisch
3. Matsya, Fisch
4. Mudra, geröstetes Getreide und mystische Gesten
5. Maithuna, Geschlechtsverkehr.
(Anmerkung von Lucian: In Punkt vier streiten sich die Gelehrten, in wie weit die fünf M's wörtlich oder symbolisch zu verstehen sind; 4. z. B. könnte auch Masturbation bedeutet haben)
Eine Einführung in die geistigen Grundlagen des hinduistischen Tantra ist:
A. Bharati, Die Tantra-Tradition, Freiburg 1977
Tantra im Buddhismus
Im Tibetischen Buddhismus ist Tantra die Bezeichnung für verschiedene Arten von Texten (medizinische Tantras, astrologische Tantras, etc.); in erster Linie jedoch Oberbegriff für die Grundwerke des Vajrayana und die von diesen beschriebenen Meditationssystemen. Die Verkündigung der Tantras wird Buddha Shakyamuni zugeschrieben in seiner Manifestation als Dharmakaya (Trikaya). Tantra heißt hier "Kontinuum" oder "System".
Diese stark auf die menschliche Erlebnisfähigkeit ausgerichtete Überlieferung beschreibt die spirituelle Entwicklung in Hinsicht auf die Kategorien Basis, Weg und Frucht. Die Basis ist die praktizierende Person, der Weg besteht aus den meditativen Pfaden, die diese Basis reinigen, und die Frucht ist der Zustand, den diese Praktiken herbeiführen. Um diese drei Phasen geht es in allen Ausdrucksformen des Tantra.
Die tibetische Tradition spricht von vier "Tantraklassen": Kriya-Tantra (Handlungstantra), Charya-Tantra (Ausübungstantra), Yoga-Tantra und Höchstes Yoga-Tantra. Die Kriterien für diese Unterteilung sind die Unterschiede in den geistigen Fähigkeiten der Übenden und der Wirksamkeit der Mittel, die zur Erleuchtung (Bhodi) verhelfen. Zu den wichtigsten Werken des Höchsten Yoga-Tantra zählen z. B. Guhyasamaja-Tantra und das Kalachakra-Tantra. Die "Alten Tantras" der Nyingmapa-Schule unterteilten das Höchste Yoga-Tantra in drei weitere Klassen: Maha-, Anu- und Ati-Yoga (Dzogchen). Diese Tantras akzeptieren die schon immer gegebene Reinheit des Geistes als Grundlage ihrer Praxis; das bekannteste unter ihnen ist das Gyhyagarbha-Tantra.
Das Denken der Tantras in Polaritäten findet seinen stärksten Ausdruck in einer vielschichtigen sexuellen Symbolik. Die Aufhebung der Dualität vom männlichen Prinzip (Methode, Upaya) und weiblichen Prinzip (Weisheit, Prajna) durch ihre Einswerdung wird als herausragendes Merkmal des Höchsten Yoga-Tantra bezeichnet.
Eine gute Einführungsliteratur in das Tantra des Tibetischen Buddhismus ist: Tantra in Tibet, Das geheime Mantra des Tsong-ka-pa, hrsg. von J. Hopkins, Düsseldorf/Köln 1980.
Viel Spaß