Zum Thema Pathologisierung
So, zur Vorwarnung, das ist jetzt ein bisserl Offtopic:
Kirk: Find ich cool, dass du diesen Unterton zugibst.
Wann immer ich von Totalversklavungen und naturdevoten Dreilochstuten lese, werd ich auch gern erstmal etwas erheitert bis skeptisch. meiner Erfahrung nach jedoch liest sich das alles immer bedeutend spektakulärer als es letztlich in der Realität ist.
(das ist der Punkt, wo viele dann sagen: mei, habt's euch halt net so, ihr spielt das doch auch bloß)
Es ist ein stinknormales Abgrenzungsphänomen, dass innerhalb von Gruppen auftritt, dass manche dazu neigen, sich noch extremer präsentieren zu wollen, um eben ja nicht mit den anderen, weniger extremen, in den gleichen Topf geworfen zu werden.
Wenn man über Themen wie TPE und 24/7 redet, dann haben viele Leut auch gleich eher so spektakuläre Beziehungsunfälle im Kopf, und Leute mit einem offensichtlichen Dachschaden, die in diversen Foren/Communities recht präsent sind.
Damit so eine solche Beziehungsform allerdings dauerhaft gut funktioniert
müssen die Beteiligten, ganz gleich ob Sub oder Dom, über gute zwischenmenschliche Fähigkeiten und eine aufgeräumte Psyche verfügen. Die Mär vom passiven, unselbständigen Sub, der einfach nur Verantwortung für alles abgeben möchte, ist da leider immer noch ziemlich präsent.
Die, bei denen es einfach prima funktioniert, die einen guten funktionalen Kommunikationsstil etabliert haben und die auf ein semantisches Brimborium und gestenschwangeres Tschingdarassabumm in der Außendarstellung verzichten, fallen da erstmal gar nicht auf - das ist meine Erfahrung dazu.
Und so kommt's dann zum Gesamteindruck, dass solche Leute doch allesamt nicht mehr ganz heile in der Birne sein müssen.
Es ist auch zu verführerisch, da in freudianischer Tradition ganz offensichtliche Verbindungen zu konstruieren:
Da stimmt sicherlich was mit der Verbindung zum Vater nicht, und deshalb sucht die weibliche Sub in jeder partnerschaftlichen Beziehung eine Vaterfigur. Und der männliche Dom hat sicher nur ein sehr schwaches Ego und kann mit einer selbstbewussten Frau in einer gleichberechtigten Beziehung nicht umgehen. Die dominante Frau wiederum leidet nur unter verkappten Männerhass, den sie über die BDSM-Neigung ausagieren kann und/oder kriegt wahlweise auf Vanillawegen niemanden ab und profiliert sich deshalb als Domse auf dem Beziehungsmarkt. Hmm...was können wir beim devoten Mann reinkonstruieren... ah, sicher, der wurde bestimmt als Kind misshandelt und steckt jetzt in einer Traumaspirale fest, wo er versucht, das ganze immer wieder zu wiederholen. Oh, und wer eine offene Beziehung führt, oder gar polyamor lebt, der ist einfach nur bindungsunfähig. Swinger? Pah, sexsüchtig, triebgesteuert, unreife Sexualität! [/ironie]
Solche Pseudotheorien sind auch dem einfachsten Gemüt in kürzester Zeit verständlich zu machen. Wenn ätiologische Zusammenhänge hier allerdings eins sind, dann sicherlich
nicht einfach (e.g. direkt/monokausal/linear).
Es ist so verlockend, krankhafte Ursachen für ein Verhalten zu finden das nicht der Norm entspricht. Und vieles erinnert auch an die heutzutage sehr seltsam wirkenden Versuche, für die mittlerweile als nicht mehr krankhaft geltende homosexuelle Ausrichtung Erklärungsansätze zu finden.
In der Wissenschaft ist die Post-Hoc-Generierung von "bewiesenen" Vermutungen und die kausale Interpretation vom gemeinsamen Auftreten zweier oder mehr Phänomene seit langem geächtet. Aber in den Köpfen vieler passiert immer noch genau das.
Es gibt diverse Forschungsarbeiten zu dem Thema, ob möglicherweise problematische Persönlichkeitskonstitutionen mit einer BDSM-Neigung einhergehen; die D/s-affinen Menschen
waren dabei auch Teil der untersuchten Population. Ein pathologischer Zusammenhang konnte dabei aber nicht festgestellt werden.
Auch in neueren Lehrbüchern ist (endlich!) eine eindeutige Trennung von einvernehmlichen BDSM-Praktiken und pathologischen, bedenklichen, sich nur äußerlich ähnelnden Formen vorgenommen worden.
Und auch bei noch so spektakulär anmutenden Varianten von D/s steht immer ein Metakonsens am Anfang - wo wir eben unsere Einvernehmlichkeit hätten.
ich bin nicht gegen eine kritische Reflektion der eigenen sexuellen Neigungen, Kinks und Phantasien; ganz und gar nicht, denn für einen erwachsenen Menschen der verantwortungsvoll damit umgehen möchte, ist das unabdingbar.
Aber ich wünsche mir, dass man dabei keine vorschnellen Urteile fällt, pathologisiert, ausgrenzt, weil etwas nicht der allgemein anerkannten gesellschaftlichen westlichen Norm entspricht.
Es wäre wirklich schön, wenn so ein kritisches Denken auch unter dem psychiatrischen Volk verbreitet wäre. Das ist allerdings bei weitem nicht die Regel. Was sicherlich auch der Art der Ausbildung geschuldet ist - wer halt Diagnosenstellung via Kästchenabhaken im Studium lernt, wer nicht kapiert hat, dass die Kategorisierung von Symptomen ein künstlicher Vorgang und immer auch nur eine Momentaufnahme des wissenschaftlichen Konsens ist, der wird eben auch zu oberflächlichen Pauschalurteilen neigen.
Und wer eben in die Hände eines solchen Therapeuten gerät, der nicht "kink-aware" ist und seine eigene Haltung da mal kritisch hinterfragt hat, der wird sehr wahrscheinlich bewusst oder unbewusst mit einer Stigmatisierung aus der Sache rausgehen.
Deshalb ist es wichtig, an dieser Stelle auf Anlaufstationen wie die von Mayday-SM zu verweisen.
Immer wieder nett zum Schmunzeln dazu übrigens der Beginn eines durchs Netz geisternden Textes zur Diagnosenstellung, der die ganze Problematik augenzwinkernd illustriert:
Vanille (Syn. Stino [vulgär], Normalo; engl.: Vanilla) n. "Psychosexuelle Krankheit'' aus der Gruppe der Perversionen (Paraphilien), gekennzeichnet durch eine reduzierte Fähigkeit zur adäquaten Reaktion auf bestimmte sexuelle Reize, einer stereotypisch begrenzten Wahl der angewandten sexuellen Praktiken und einem verarmten Phantasieleben.
die mademoiselle Savoir_Vivre