Anregend
Ein schöner Artikel, der meinen aktuellen Denk- und Fühlzustand trifft.
Warum ist (sexuelle) Treue so hoch bewertet? Vielleicht spielen zwei weitere Gründe eine Rolle, die ich noch in die Diskussion einwerfen möchte:
1. Der Wunsch, der/die Einzige zu sein.
Jeder Mensch ist einzigartig und möchte auch in seiner Einzigartigkeit bestätigt werden. Die Wahrnehmung, dass ein anderer Mensch scheinbar das Gleiche von meinem Partner bekommt, konfrontiert mich mit der Frage, ob ich vielleicht doch nicht so einzigartig bin.
Wenn man da intensiver drüber nachdenkt, kommt man vielleicht zu dem Schluss, dass eine "konkurrierende" Beziehung eben nicht genau "das Gleiche" zum Inhalt hat wie die eigene. Es gehört schon eine ordentliche Portion Selbstwert dazu, einerseits seine eigenen Einzigartigkeit wahrzunehmen, ohne andere zu diskontieren, und andererseits der scheinbaren Wettbewerbssituation standzuhalten.
Für mich ist es eine Frage des eigenen Egos.
2. Sexuelle Treue ist leichter festzustellen als Liebe.
Liebe ist ein Gefühl, dessen Existenz und Intensität von Außen nicht erkennbar ist. Liebt sie mich, oder nicht? Ich kann es niemals wissen. Viele Menschen sind sich selbst noch nicht einmal ihrer eigenen Gefühle gewiss. Wie soll das ein Dritter erkennen können?
Die Beobachtung von Verhalten ist da scheinbar ein Ersatz, denn Handlungen kann ich erkennen und bewerten. Einen Verstoß gegen die sexuelle Treue kann ich relativ einfach an externen Faktoren festmachen - haben sie Sex miteinander gehabt oder nicht?
Die Tatsache, dass man aus dieser Beobachtung nur schlecht auf die innere Gefühlslage schließen kann, wird häufig ignoriert - denn dann wäre ja die Vereinfachung "sexuelle Treue = Liebe" keine mehr. Oft wird stattdessen gefordert "Wenn Du mich liebst, dann ..." um genau diese schwache Kausalkette zu stärken - und sei es nur, durch den zusätzlichen Druck, den diese Condition-sine-qua-non ausübt.
Die richtigere Frage ist aus meiner Sicht "Fühle ich mich geliebt?" Die Antwort auf diese Frage sollte meines Erachtens nicht davon abhängen, ob mein Partner sexuell treu ist. Dass es auch anders geht, zeigen ja gerade die Polys - und treten damit den Beweis an, dass ein Zusammenhang zwischen sexueller Treue und Liebe nicht besteht, wenn man ihn nicht konstruiert.
Noch besser wäre jedoch, wenn ich mich auf meine eigene Liebe konzentriere, statt etwas vom Partner zu fordern. Meine Liebe kann ich wahrnehmen und pflegen.
Was gibt es Schöneres als das eigene Gefühl jemanden zu lieben?