Kapitel 7 bis 9
7.
Man soll sich nicht selber loben, aber ich bin ein guter Vorleser und selten, nur ganz selten schläft das Publikum bei meinen Lesungen ein.
Natürlich hatte ich immer wieder einmal den Blickkontakt zu Fiona gesucht. Das spärliche Licht des Kerzenstummels reichte jedoch nicht für eine vernünftige Beleuchtung und nach einigen Minuten verlosch die Flamme ganz, weil das Wachs aufgebraucht war. Nun gab es nur noch zwei Lichtquellen im Raum: Ein wenig schien durchs Fenster von einer Straßenlaterne zu kommen und tauchte einen Teil der Küchenzeile in blasses Orange.
Die zweite Leuchtquelle war mein Tablet, das mich überdies blendete, wenn ich ins Dunkel schaute. Ich unterbrach meine Tätigkeit und lauschte Fionas Atem. War sie eingeschlafen? Ich versuchte das schwache Dämmerlicht zu durchdringen. Es gelang mir nicht.
Um den Zauber des Augenblicks nicht zu stören schaltete ich das Pad aus, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Eine völlig friedliche Stimmung umgab mich. Fiona, diese seltsame Mädchenfrau, einerseits frech wie Bolle, klug und trotz ihrer Behinderung selbständig und mitten im Leben, auf der anderen Seite verletzlich und klein unter ihrer Decke, voller Vertrauen in einem Raum mit einem Kerl von dem sie nichts, oder kaum etwas wusste. Oder?
Ich hätte inzwischen nicht mehr darauf geschworen, ob Fiona nicht doch die Gabe hatte, in verborgene Winkel meiner Seele vorzudringen. Wenn ich mir gegenüber ehrlich sein wollte, musste ich zugeben, ich begann Gefühle für sie zu entwickeln und das war mir nicht recht. Nein, schlimmer, es erfüllte mich mit Panik. Die Gründe verstand ich selbst nicht so genau, obwohl ich bei einigem Nachdenken darauf hätte kommen können.
Die schöne Frau auf der Couch schien schneller und durch den Mund zu atmen. Ich erlebte voller Staunen, wie man in der Dunkelheit mit den Ohren Dinge wahrnahm und konnte nicht sicher sein, ob meine Beobachtung der Realität entsprach. Hoffentlich fängt sie nicht an zu schnarchen, lächelte ich in mich hinein und spitzte weiter die Löffel. Sie schien sich zu bewegen, langsam, fast unmerklich aber dennoch rhythmisch. Bald konnte ich die reibenden Geräusche der Wolldecke von denen ihres Atems unterscheiden. Sehr, sehr leise nahm ich ein Geräusch auf, das aus dem Bereich ihres Kopfes zu mir drang. Ein klitzekleines, repetierendes Seufzen, wie es schien, das Erinnerungen an längst vergangene Nächte in mir weckte. Meine Fantasie begann mich zu narren. Bewegte sich ihr Arm unter der Decke? Ihre Hand? Langsam? Kreisend? Da!
Wieder ein Seufzer. Klein. Klagend. Mein Hirn begann zu interpretieren, Fantasien zu entwickeln und meine Lenden reagierten. Mein Mund fühlte sich trocken an, vermutlich weil die Feuchtigkeit an anderer Stelle gebraucht wurde. Eines meiner Körperteile, von dem ich fast vergessen hatte, dass es noch existierte, begann zu erwachen. Vorsichtig stellte ich meine Beine nebeneinander und streifte meinen Slip bis zu den Knien herab. Ich bemühte mich, das geräuschlos zu tun. Möglicherweise bildete ich mir ja alles nur ein und Fiona schlief. Ich schloss die Lider und fasste mich an. Seit langer Zeit das erste Mal.
Ein Geraschel veranlasste mich, die Augen wieder zu öffnen. Ich konnte Fionas Umrisse unmittelbar vor mir erkennen. Mit einer einzigen fließenden Bewegung streifte sie ihr Baumwollhemdchen über den Kopf und stand nun völlig nackt vor mir. Ich betrachtete sie still voller Begehren und hielt die Luft an.
„Fünfundachtzig, sechzig, hundert!“, flüsterte sie. „Fällt Ihnen dazu jetzt etwas ein?
„Hundert?“, fragte ich ebenso leise zurück.
„Ein Wort über meinen Bratarsch und ich mache dich fertig, Gabriel“, erwiderte sie mit einem leisem Seufzen aber auch einem Lächeln in der Stimme.
Ich legte die Hände auf ihre Hüften, spürte die Wärme ihrer Haut, sog den Duft ihres Schoßes ein und fühlte meine inneren Widerstände wie von einer Flutwelle davon gerissen. Mit katzenartiger Gewandtheit kletterte sie rittlings auf meinen Schoß und nahm mich in sich auf, so wie sie mich vorfand. Sie zog meinen Kopf an ihre Brust, streichelte mir unter unverständlichen Lauten das Haar und ich umschlang ihre schlanke Taille mit den Armen.
So saßen wir, für eine Sekunde, eine Minute, einen Tag, eine Ewigkeit jeder mit dem anderen und im Ganzen mit dem Universum eins, geborgen und beschützt, bis wir unbewusst und in völliger Übereinstimmung taten, was die Natur uns gebot.
Die Nacht verging im Sinnenrausch. Wir liebten und vergaßen uns, verloren uns keuchend und mit schrecklicher Wildheit, mit Zähnen, Klauen, Haut und Haar in- und aneinander, als sei es das erste und das letzte Mal, - die Blinde und der Penner.
8.
Die Zwillinge parkten ihren schwarzen Cayenne einige Straßen weiter, stiegen aus und zogen die Kapuzen ihrer dunklen Pullover über den jeweiligen Kopf. Um diese Zeit lag die ruhige Wohnstrasse des Barmbeker Komponistenviertels fast wie ausgestorben. Die beiden trugen schwarz gefärbte Vollbärte. Auch die Haare waren dunkel nachgetönt. Die Namen Seif und Abdullah hatten sie angenommen, nachdem sie zum Islam konvertiert waren und noch bevor sie für drei Jahre im Nahen Osten untertauchten. Das sollte verbergen, dass ihre ursprünglichen christlichen Taufnamen Peter und Paul lauteten. Während ihres persönlichen Djihad in Syrien und im kurdischen Grenzgebiet bestand Gelegenheit, sich ein paar spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen, die sie nun gut verwenden konnten, nachdem ihr Führer ihnen die deutsche Niederlassung anvertraut hatte.
Sie näherten sich der kleinen Altbauvilla von hinten, über den Sportplatz, durch den bepflanzten Garten, der gute Deckung sowohl gegen die Straße, als auch gegen das Gebäude selbst bot. Die geschmeidige Sicherheit, mit der sie sich bewegten, ließ vermuten, dass sie solche nächtlichen Ausflüge auf fremde Grundstücke öfter durchführten oder doch zumindest gewohnt waren, sich in offenem Gelände möglichst unsichtbar zu bewegen. Mit katzenartiger Gewandtheit überwanden sie die meterhohe Mauer und den modernen Zaun, der die Terrasse des Gebäudes vor neugierigen Blicken schirmte. Sie postierten sich links und rechts der raumhohen Glastür, die ins Haus führte.
„Und wenn sie nicht aufmacht?“, raunte Abdullah seinem Bruder zu.
„Die gottlose Hure wird öffnen. Allah ist mit uns. Lass mich nur machen.“ Er fummelte ein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich eine weibliche Stimme meldete.
„Ich bin auf der Terrasse. Ich muss dich sofort sprechen. Mach auf. Es geht um Leben und Tod. Kein Licht!“, krächzte er mit heiserer Stimme ins Mikrofon und legte auf.
„Sie kommt. Du weißt was zu tun ist.“ Abdullah nickte. Mit einer fließenden Bewegung postierten sie sich links und rechts der Tür, den Rücken flach an die Wand gepresst. Bereits nach kurzer Zeit schien sich jemand im Inneren des Hauses an der Tür zu schaffen zu machen.
„Du hast sie wohl nicht alle, hier mitten in der Nacht aufzutauchen. Hast du unsere Abmachungen vergessen? Und was soll das, es geht um Leben und Tod?“, beschwerte sich die Frau, die im Nachtgewand die Terrassentür öffnete mit unterdrückter Stimme.
Abdullahs Antwort hörte sie nicht mehr. Mit einem trockenen Knacken brach ihr Jochbein, als er sie mit dem Schlagring im Gesicht traf. Sie ging sofort zu Boden.
„Los, rein!“, befahl Seif. Du bringst sie in den Heizungskeller. Ich suche nach Laptop und Handy.
Als Seif wenige Minuten später im Keller erschien, hatte sein Bruder die Frau bereits mit Kabelbinder an einem an der Decke verlaufenden Wasserrohr befestigt. Sie war nackt. Offenbar hatte Abdullah sie mit einem Eimer kalten Wassers aufgeweckt. Ihr blondes Haar klebte wirr am Kopf. Aus einer Platzwunde im Gesicht tropfte Blut. Ihr linkes Auge war bereits blau unterlaufen und dick angeschwollen, das angsterfülltes Gesicht von Panik gezeichnet.
„Bitte! Wenn Sie Geld wollen, alles was ich im Haus habe liegt in der Schreibtischschublade im Arbeitszimmer, der Schmuck ist in einer Schatulle im Schlafzimmerschrank, die Kreditkarten sind in meiner Handtasche, bitte, tun Sie mir nichts“, schluchzte sie.
„Madame, ich entschuldige mich für Ihre unkomfortable Lage“, begann Seif in höflichem Plauderton, „mein Bruder ist mitunter etwas jähzornig und unbeherrscht wenn er länger warten muss. Bitte haben Sie dafür Verständnis. Wir haben nur einige Fragen. Ich bin sicher, Sie werden uns helfen, dann verlassen wir Sie unverzüglich und Sie können in Ruhe den Notarzt rufen. Einverstanden?“ Die Frau nickte verängstigt.
„Wo ist Bastian Rausch?“, fragte er unvermittelt mit scharfer Stimme.
Das Opfer riss die Augen auf. „Ich, ich, ich weiß es nicht“, stammelte sie.
„Wallah billah? Bist du sicher, Weib, schwörst du bei Gott?“, fragte Seif ruhig, während Abdullah sein Bowiemesser zog und unvermittelt eine Brustwarze der Frau zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte.
Eine halbe Stunde später verließen die Brüder das Gebäude durch den Hauseingang, nachdem sie im Inneren sorgfältig den Blutfleck vor der Terrassentür entfernt, ihre sonstige Spuren verwischt und den Anrufbeantworter eingeschaltet hatten. Die Tür zum Heizraum hatten sie abgeschlossen und den Schlüssel mitgenommen. Seif buchte mit Hilfe des Notebooks der Frau eine Bahnfahrkarte 1. Klasse nach Wien und bezahlte mit ihrer Kreditkarte. Die Handtasche mit Handy, Geldbörse und Notizbuch, sowie den Laptop nahmen sie mit. Seif drehte den Schlüssel zur Haustür zweimal im Schloss um und entsorgte den Bund einige Strassen weiter in einem Gullischacht.
„Wenn der ungläubige Schmierfink sich meldet“, meinte Seif, „können wir unseren Auftrag zu Ende führen. Der Mullah wird zufrieden sein und wir haben unsere Bewährungsprobe bestanden.“ Er las noch einmal die Mail, die er mit dem Handy der Frau geschrieben hatte:
„Ich muss Dich dringend sprechen. Zwei Männer verfolgen mich. Araber. Nenn mir einen Treffpunkt per Mail. Ich werde dort hinkommen. Keine Telefonate!“
Er entfernte die SIM-Karte aus dem Telefon und ließ es achtlos zu Boden fallen. Abdullah zerstörte es mit einem Tritt seiner Springerstiefel und kickte es zu dem Schlüssel in den Gulli.
In aller Ruhe bestiegen die beiden ihren schwarzen Geländewagen und fuhren davon.
9.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich erwachte. Widerstreitende Gefühle tobten in mir. Was nun? Diese Frau hatte es mit ihrer direkten Art ohne großen Anlauf geschafft, meine fest verrammelte Tür weit aufzubrechen oder, wenn wir schon bei Metaphern sind, meine sorgfältig gepflegten Mauern einzureißen. Wollte ich das zulassen? Ich lag eine ganze Weile still auf dem Rücken und lauschte in mich hinein.
In der Küche fand ich meine frisch gewaschenen und getrockneten Sachen. Fiona musste schon fleißig gewesen sein. Ein Zettel, mit krakeliger Handschrift mehr gemalt, als geschrieben, lag daneben:
„Muss in die Praxis. Bleiben Sie, wenn Sie wollen und machen Sie sich nützlich!“ Es irritierte mich, dass sie nach dieser Nacht ohne Umschweife wieder zum förmlichen „Sie“ zurückkehren konnte.
Ich zog mich an, packte und suchte in den Schränken nach etwas Essbarem, fand Fionas Bargeld-Vorrat in der Zuckerdose, steckte fünfzig Euro ein und verließ das Haus. Die zwei Kilometer zum Autobahnzubringer lief ich fast. Ich hob den Daumen und stieg in das erste Auto, dessen Fahrer anhielt. Das Ziel spielte keine Rolle. Nur weg.