Kapitel 4
„Sie heißen Bastian Rausch.“
„Toll. Ich hatte mich, glaube ich, vorgestellt.“
„Ja, das hatten Sie. Sie sind 55 Jahre alt und schriftstellernder Journalist. Sie haben für einige große Zeitungen aus Kriegsgebieten berichtet, vier Sachbücher, einen Roman, einen Band mit erotischen Kurzgeschichten und Gedichten veröffentlicht und darüber hinaus eine Schlammschlacht-Scheidung hinter sich. Sie haben ein Alkohol-Problem und sind kürzlich in der Gosse gelandet, in der Sie sich immer noch befinden. Reicht das fürs Erste?“
Ich konnte nicht antworten. Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte sie mich im übertragenen Sinne auf die Bretter geschickt.
„Ich beginne gerade mein Bild von blinden, hilfsbedürftigen Frauen zu revidieren. Wer sind Sie, Lady? Die Reinkarnation von Baba Wanga?“
„Sollte ich den kennen, den Baba Dingsda?“
„Die. Baba Wanga. Eine berühmte bulgarische Seherin, die übrigens auch blind war.“
„Ach? Tatsächlich? Das ist ja spannend. Kennen Sie die Dame näher? Könnten Sie ein gutes Wort bei ihr für mich einlegen? Ich würde so gern ein bisschen was über meine Zukunft erfahren.“
„Könnte schwierig werden. Die Frau ist 1996 gestorben. Aber sie enttäuschen mich gerade. Ich habe Anfang der Neunziger eine Reportage über diese Frau geschrieben. Eines meiner vier Sachbücher ist eine Biografie über die Seherin von Petritsch, wie sie auch genannt wurde. Haben sie das etwa nicht gewusst? Sie hat mir übrigens einen gewaltsamen Tod vorausgesagt. “
„Sobald ihr Verlag dieses epochale Werk in Braille herausbringt, werde ich es lesen. Bestimmt reizvoll und was ihren gewaltsamen Tod angeht: daran glaube ich nicht. Im Delirium langsam weg zu dämmern, kann so schrecklich nicht sein.“ Ich ignorierte diese letzte Bemerkung.
„Ich werde sehen was ich tun kann. Seit es Brailleschrift-Drucker gibt, stellen sie immer mal wieder einige nachgefragte Exemplare als Einzelanfertigung her. Nun weiß ich aber immer noch nicht, woher sie ihre erstaunlichen Kenntnisse über meine Lebensumstände beziehen.“
„Nun, wer und was ich bin, hatte ich schon erwähnt und dem ist wenig hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass der Dicke gelegentlich bei mir in Behandlung ist. Rücken. Sie verstehen?“
Mir ging nicht nur ein Licht, sondern ein ganzer Kronleuchter auf. Der Dicke also, dieses alte Waschweib. Natürlich.
„Sie haben das alles gewusst?“, fragte ich pikiert.
„Als sie ihren Namen nannten, habe ich eins und eins zusammengezählt. Den Rest hat meine Schwester Luci ergoogelt.“
„Ah ja.“ Ich drehte das leere Glas verlegen und unentschlossen in meinen Händen. Auch wenn man schon in der Gosse liegt, tut es nicht gut, mit den nackten Tatsachen konfrontiert zu werden.
„Deshalb konnte ich sie auch so schnell finden. Ich war nur kurz beim Obdachlosenwohnheim und schon wusste ich, wo sie stecken.“
Ich fühlte mich ertappt und ließ den Gesprächsfluss abreißen. Leider hatte ich auch nicht viel in der Hand um Fiona die Tritte gegen meine lädierten Schienbeine heim zu zahlen. Das Schlimme: die aufgezählten Fakten entsprachen der Wahrheit, dazu noch ein paar unschöne Kleinigkeiten von denen sie nichts wusste, wie die Schulden, die beiden Geldeintreiber, die seit geraumer Zeit hinter mir her waren und der eigentliche Grund für meine Flucht aus der bürgerlichen Welt: das Interview mit dem arabischen Terroristen Amad el Emin und das Damoklesschwert, das seitdem über mir hing.
„Was bedeuten die Zahlen?“, wechselte ich abrupt das Thema.
„Welche Zahlen?“
„Die sie mir bei unserer ersten Begegnung nannten: zweiundvierzig, einzweiundsiebzig, vierundsechszig, neundunddreissig, fünfundachtzig, sechzig, hundert…“
„Donnerwetter! Die haben sie sich gemerkt? Ich habe Tage gebraucht um mir das Sprüchlein einzuprägen.“
„Berufskrankheit“, warf ich lakonisch ein, „in meinem Job braucht man ein saugutes Gedächtnis. Die Schlawiner, die man interviewt, versuchen einem ständig ihre eigene Botschaft ins Ohr zu drücken, geben aber keine Antwort auf die gestellten Fragen. Da hilft es unglaublich, wenn man ihnen den Unsinn vorhalten kann, den sie eine halbe Stunde, oder ein halbes Jahr vorher verzapft haben.“
„Und? Klappt das?“
„Nicht immer, aber oft. Und es zeigt verblüffende Ergebnisse. Häufig findet sich eine ganz andere Gesprächsebene, wenn die Leute merken, dass sie einen nicht verarschen können.“
„Es gibt doch technische Hilfsmittel, Kameras, Diktiergeräte und so was“, warf Fiona ein.
„Natürlich gibt’s die. Helfen aber wenig, wenn dem afghanischen Warlord der Verlauf des Interviews nicht gefällt, oder seinem Leutnant dämmert, dass sich der Chef gerade verplappert hat. Da ist man schon froh, wenn sie einem nur das Equipment zerschlagen…“
Fiona schwieg. Ich sah ihr an, dass sie innerlich an ihrem Fragenkatalog arbeitete und wollte dem zuvor kommen.
„Lassen sie mich raten“, begann ich, „Alter, Größe, Gewicht, Schuhgröße?“ Die Blinde nickte anerkennend.
„Nicht schlecht für den Anfang, Gabriel. Und? Weiter?“
„Länge mal Breite mal Tiefe?“
Fiona prustete einen feinen Sprühnebel aus perlend frischem Lambrusco quer über den Tisch, als sie schallend zu lachen begann. Ich fiel in die Lachsalve ein und wischte mir mit der Serviette die rote Brühe aus dem Gesicht.
„Mein Gott“, gluckste sie, „was für ein wunderbarer Stoff, dieser Lambrusco. Das muss ich Luci erzählen. Das Zeug zieht sogar einem eingefleischten Miesepeter wie ihnen den Ladestock aus dem Hintern.“ Sie kicherte noch eine Weile vergnügt vor sich hin. Ich konnte nicht anders, als sie bewundernd anzustarren. Was für ein tolles Mädchen.
„Fallen ihnen noch andere Parameter als Länge mal Breite mal Tiefe ein, mit denen ihr Kerle normalerweise eine Frau beschreibt?“, grinste sie.
„Da wo ich mich in den letzten Jahren für meine Recherchen rumgetrieben habe, war das die gängige Frage, wenn mal wieder ein paar Grablöcher ausgehoben werden mussten.“ Der Inhalt des Satzes und die Verbitterung in meiner Stimme ließen die ausgelassene Stimmung schlagartig in den Keller sinken.
„Wenn ich keine Angst hätte mich lächerlich zu machen, weil ich wahrscheinlich sowieso nicht träfe, würde ich ihnen liebend gern eine in die Fresse geben. Sie können so ein Arsch sein, Bastian Rausch.“ Fiona war richtig wütend.
„Wäre nicht meine erste Ohrfeige von einer Frau. Damit hab ich Erfahrung. Hier, tun sie sich keinen Zwang an! Schlagen sie zu!“, erwiderte ich streitsüchtig. Ich beugte mich über den Tisch, nahm ihre rechte Hand und führte sie an meine Wange. „Schlagen sie zu! Ich habs verdient, weiß Gott.“
Für einen Augenblick glaubte ich, sie würde meiner Aufforderung folgen und kniff schon einmal die Lider zusammen. Es kam jedoch anders. Fiona nahm mein Gesicht in beide Hände. Unsere Nasen waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Der Blick aus ihren großen, blinden, blauen Augen ging mir durch und durch. Ein Reflex riet mir dazu, sie zu küssen. Die Träne, die ihr aus dem Augenwinkel rann, hielt mich davon ab und brachte mich wieder auf den Boden.
Ich setzte mich wieder hin und goss noch etwas Wein in die Gläser. Wir schwiegen uns an.
„Manchmal beneide ich Leute wie sie, Fiona, Blinde meine ich. Sie müssen sich viele Gräuel dieser Welt nicht ansehen.“
„Und? Sind die Gräuel deshalb weniger gräulich? Werden sie unsichtbar, nur weil ich sie nicht unmittelbar wahrnehme? Wissen sie überhaupt wovon sie da reden? Sie Blödmann!“, die letzten beiden Worte brüllte sie fast. Vor Entrüstung über meine geistreiche Anmerkung bekam sie hektische rote Flecken im Gesicht. Ich druckste eine Weile herum und entschied mich dann für eine Entschuldigung.
„Sie haben Recht. Sorry. Ich war nicht immer so ein Idiot.“
„Klingt glaubwürdig", nickte sie lakonisch. "Sieht so aus, als ob sie in ihrem grenzenlosen Selbstmitleid jedes noch so arme Schwein dieser Welt beneidenswert finden. Es mag Gründe geben, dass es ihnen scheiße geht, aber aus jeder Sackgasse führt auch ein Weg wieder heraus. Man muss sich nur umdrehen.“
Der Satz gab mir zu denken. Aber ich zweifelte, ob ich ihrem Ratschlag würde folgen können.