„Würde ich mich von jemandem operieren lassen, der nach Gefühl operiert? Würde ich mich von jemandem fliegen lassen, der sein Flugzeug nach Gefühl steuert? Wohl kaum. Ich lasse mich von einem Chirurgen aufschneiden und einen Piloten fliegen, die ihr Geschäft viele Jahre studiert haben und die auf Basis ihres Wissens arbeiten, nicht nach ihrem Gefühl. - Aber ich soll mich auf mein Bauchgefühl verlassen, wenn es um eine Beziehung geht?
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Natürlich ist es nicht sehr weit gedacht, überall nur "gefühlt" zu entscheiden. außerdem besteht durchaus die Möglichkeit und die Gefahr, sich an unpassender und damit falscher Stelle auf das Bauchgefühl zu verlassen.
Es ist aber auch nicht egal, um was es geht, weil der reine, "trockene" Verstand, das rein rationale Entscheiden eben auch nicht immer die ultimative Lösung ist.
Wenn es um eine Situation oder um einen Menschen geht, wo nicht nur eine rein rationale Einschätzung gefragt ist, weil das Rationale zu wenig Grundlage zum Entscheiden hat oder einfach "kalt" einen Teil der Gegebenheiten ausblendet, dann sehe ich durchaus einen Sinn, das Bauchgefühl nicht einfach zu ignorieren.
Wenn es darauf ankommt, sich gut in ein Gegenüber hinein zu versetzen oder als Künstler bewusst auch mit außerhalb der reinen, formalen Logik zu agieren, kann ich mir mit der Beschränkung auf rein rationale Entscheidungen die möglichen, passenden Ergebnisse massiv einschränken. Es kommt also auf die Situation, den Beruf bzw. die Lage an.
Ganz ausgeblendet wird, wenn man vom Bauchgefühl sehr wenig hält, dass es durchaus Situationen gibt, wo man irgendwie weiß, dass es ein Problem oder dergleichen gibt und es nur (noch) nicht formulieren kann. Dies einfach immer abzutun kann durchaus zu schlechten Entscheidungen führen.
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Die moderne Psychologie sagt, dass wir attraktiv finden, was uns bekannt ist (Mere-Exposure-Effekt). Das heißt aber nicht, dass das unbedingt gut für uns ist, wie das Beispiel misshandelter Frauen zeigt.
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Etwas attraktiv zu finden und die Unterscheidung zwischen rationalem Denken versus Bauchgefühl sind aber erst einmal verschiedene Welten, auch wenn diese zusammenfinden können:
Ich kann eine Frau durchaus attraktiv finden und weiß trotzdem (und bekomme es ggf. auch noch zusätzlich durch mein Bauchgefühl bestätigt), dass ich mit dieser Frau nicht gut klar kommen würde.
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Ca. 80% aller Menschen halten sich für überdurchschnittlich gute Menschenkenner. Gefühlsmäßig, versteht sich, denn mathematisch ist das eine Unmöglichkeit.
... Die objektiven Fakten passen nicht zur (gefühlsmäßigen) Selbsteinschätzung.
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Das Dumme an den rein rationalen Entscheidungen ist, dass diese auch nicht immer fehlerfrei sind.
Mal wurde etwas nicht mitbedacht. Mal wurde nicht zu Ende gedacht. Mal war der gewählte Weg zur Lösung schlicht falsch. Wie oft sind wir aber der Meinung, dass unsere rationalen Entscheidung fehlerfrei und gut sind?
Die objektiven Fakten weisen uns später ab und zu auch hier darauf hin, dass wir uns vertan haben.
Deshalb würde ich weder die rein rationalen Entscheidungen, noch das Bauchgefühl schlecht machen, sondern alles an der Stelle einsetzen, wo es der Erfahrung nach am Besten passt. (Diese Erfahrung entwickelt sich hoffentlich auch weiter.)
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Ich bin jedenfalls kein guter Menschenkenner und ich habe keinen Grund, meinem Bauchgefühl zu trauen. Ich frage mich dagegen gerne: Warum habe ich dieses Gefühl? Was ist es, das mich an dieser Person anzieht oder abstößt? Die Antwort darauf lässt oft tief in meine Seele blicken und sie ist nicht unbedingt schmeichelhaft. Sie zeigt mir manchmal, welche Vorurteile ich mit mir herum trage. Sie zeigt mir manchmal, was ich unhinterfragt glaube. Und sie zeigt mir manchmal, dass Attraktivität ein Alarmsignal sein kann und dass ich mich von bestimmten Menschen, die ich anziehend finde, besser fern halte. Seitdem ich das tue, ist mein Leben leichter geworden.
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Es ist durchaus möglich, eine "Schlagseite" im eigenen Fühlen zu erkennen oder dass man mit bestimmten, (eher) gefühlten Entscheidungen zu oft falsch liegt. Dann kann aber darauf reagiert werden und genau in diesem Bereich gezielt mehr rational entschieden werden oder eben die bereits gemachten Erfahrungen mit in die Entscheidung einbezogen werden.
Attraktivität ist für mich kein Alarmsignal, aber ich lasse mich (wie bereits beschrieben) von ihr auch nur bedingt beeinflussen und bin mir der Gefahr bewusst, ihr zuviel oder das falsche Gewicht bei Entscheidungen zu geben.