Dieser Blick!

Dieser Blick! Ihre Augen sind weit geöffnet und starren mich an. Nicht nur das - sie bannen mich förmlich, so dass ich mich nicht von der Stelle bewegen kann. Ich starre zurück in dieses von der Pupille schwarz durchlöcherte helle Blau eines frühmorgendlichen Sommerhimmels. Nicht ein Wölkchen. Der Himmel über mir ist grau.
Nur am Rande nehme ich die perfekten, hohen Wangenknochen wahr. Die symmetrischen Augenbrauen - nicht zu breit, nicht zu schmal. Die winzigen, zarten Öhrchen. Eine gerade, zierliche Nase. Die hellrosa Lippen liegen geschäftsmäßig aufeinander, dahinter vermute ich gepflegte, weiße Zähne. Ihre Haut hat die blasse Farbe des Winters, durch keinerlei Falten verunziert.
Fasziniert folgt mein Blick den wie im Wasser in sanften Bögen ihren Kopf umschwebenden, goldfarbenen Haaren. Sie müssen hüftlang sein. Mindestens. Sie scheint sich nicht um den Sitz ihrer Frisur zu sorgen. Ich schätze, sie muss nur den Kopf ein wenig hin- und herschütteln, um die Strähnen zu ordnen.

Ihr schlanker Hals mündet in einem makellosen Dekolleté. Fast ein wenig beschämt mustere ich die bloßen Brüste, die sich straff erheben. Die Temperatur liegt nahe dem Gefrierpunkt, doch ich kann nicht einmal den Hauch einer Gänsehaut erkennen. Die glatte Haut spannt sich über den untersten Rippenbogen, fällt ein wenig in Richtung Bauchnabel ab. Sie hat eine beneidenswert schmale Taille, ohne dass es unnatürlich wirkt.
Ich kann meine Betrachtung nicht ohne ihr Einverständnis fortsetzen, weshalb ich ihr wieder in die Augen sehe. Fast trotzig erwidert sie meinen fragenden Blick. “Auf eigene Gefahr!”, scheint sie mir signalisieren zu wollen.
Einer ihrer dünnen Arme liegt kraftlos neben dem Oberkörper, der andere leicht verrenkt darunter. Mitgefühl macht sich in mir breit.

Noch wehrt sich mein Bewusstsein dagegen, den Unterkörper in Augenschein zu nehmen. Es steuert meine Aufmerksamkeit auf den glitzernden Tand, der sie umgibt, wie zufällig vom Himmel gefallen. Ein magentafarbener Schal - das einzige Kleidungsstück weit und breit.
Der Ausdruck ihrer Augen scheint spöttisch. “Du traust dich nicht - wie alle anderen”, höre ich die Anklage stumm in meinem Kopf.
Ich möchte mich ablenken, indem ich der langen Linie ihres ausgestreckten, linken Beines folge. Ein feingliedriger Fuß wie aus Porzellan und doch wie gemacht für mörderische High Heels.
Alles in mir wehrt sich gegen das Bild, das meine Augen dem Gehirn übermitteln.
Kahl und weißglänzend ragt das Gelenk rechts aus der Hüfte. Ein riesiges, dunkles Loch. Eine Wunde ohnegleichen.
Wer weiß, wie lange sie schon hier liegt, auf dem kalten, schlammigen Waldboden?
Wer mochte ihr das angetan haben?
Irgendjemand hatte ihr das Bein herausgerissen. Ob absichtlich oder aus Versehen ist irrelevant. Irgendjemand hatte sie einfach weggeworfen und achtlos im Schmutz liegenlassen. Vielleicht würde sich ein Fuchs mit ihr vergnügen. Ihren Leib zwischen den Fängen zermalmen und die Einzelteile im dichten Gestrüpp vergraben. Oder verschlucken und jämmerlich daran zu Grunde gehen.

Ich erinnere mich daran, wie ich in meiner Kindheit lange mit einer einbeinigen Barbiepuppe gespielt hatte. Sie besaß trotz des Handicaps eine starke Persönlichkeit und bestand viele Abenteuer.
Ich kann nicht anders. Ich beuge mich zu ihr herab und nehme sie in die Hand. Wehmütig streiche ich über die weichen, blonden Haare. Verspreche ihr ein standesgemäßes Begräbnis in einer Mülltonne.


Copyright by Regina_clara, Januar 2024



Inspiriert hat mich folgende sphärische Aufnahme, die @******nym mir dankenswerterweise zur Verfügung stellt.