Jessie, Anna, Weltuntergang
Früher haben sie behauptet, der Weltuntergang wäre was Schreckliches. Niemand kann mir erklären warum. Weil niemand mehr da ist, schon klar. Mein Name ist Jessie. Seit sechs Wochen hab ich die Wohnung nicht mehr verlassen. Gestern hieß ich Anna.
Erste Handlung nach dem Aufstehen: Jessie greift nach Frau Schröders Telefonbuch und schält sich aus den wahnsinnig schönen Laken. Früher hätte ich im Frotteeschlafnanzug geschlafen. Doch mit diesen Laken würde doch nie meine Haut an Frottee verschwenden.
Mit dem Telefonbuch geht Jessie ins Treppenhaus. Dieses Treppenhaus war der Grund, warum ich nach dem letzten, tragischen WG-Versuch hier eingezogen bin. In eine winzige Betonbox, oder laut Makler in ein minimalistisches Loft.
Vor der Apokalypse hab ich Jura studiert. Die Box war doppelt so teuer wie alles, was ich mir vor dem Bachelor leisten wollte. Aber als ich das Treppenhaus gesehen hatte, gab es kein Zurück. Eine richtige Halle! Wie in einem Einkaufszentrum. Oder in einem Gefängnis. Nur netter und ohne die Gitter. Dafür mit einer Glaskuppel, durch die Licht bis nach ganz unten fällt: Auf einen Teich mit fetten, schimmernden Goldfischen.
Der Makler hat sich echt ins Zeug gelegt. Vielleicht hat er hat sogar versucht, mit mir zu flirten. Die Leute machen ja immer ein Geheimnis daraus, damit man ja nicht weiß, woran man ist. Warum macht nicht einfach mal jemand den Mund auf und sagt, dass er was von mir will? Das ist alles so umständlich! Bis heute weiß ich nicht, ob damals die Chance bestand, zu zweit die Dusche auszuprobieren. Also, nur als Beispiel.
Jessie wohnt jetzt edel im Penthouse. Ich hab erst nach der Apokalypse mitbekommen, dass Tim und Struppi vorher hier gewohnt haben. Nette Jungs. Der Große immer schick und hilfsbereit. So einer, der auf der Straße grüßt und dabei lächelt. Sein Freund hat mich mit seinen Locken und den wilden Augen immer an Struppi erinnert. Auf ihrem alten Papierkram steht „Herr Pütz“ und „Herr Hildebrandt“. Aber ich weiß ja nicht, wer wer ist. Es war jedenfalls sehr nett von ihnen, dass sie bei der Flucht vor dem Weltuntergang die Tür offen gelassen haben.
Jessie steht nackt an der Brüstung und blickt hinab auf die hübsche, kleine Welt, die gar nicht wirklich untergegangen ist und ihr ergeben in prächtiger Stille zu Füßen liegt. Sie atmet tief ein. Wieder aus. Sie spürt die sanfte Berührung der warmen Luft am Rücken, den kalten Marmor unter den nackten Fußsohlen. Gleich schlägt sie wie jeden Tag das Telefonbuch auf und sucht sich für einen neuen Tag in der Apokalypse einen neuen Namen raus.
Bis heute war es immer ein tolles Gefühl, hier zu stehen und zu bestimmen, wer ich für die nächsten 24 Stunden sein will. Aber ich kann mich einfach nicht für eine Seite entscheiden. Ich kann mich nicht an alle Namen der letzten Wochen erinnern. Es fühlt sich verkehrt an. Aber Namen sind doch nur für die Anderen da. So geben wir ihnen ein Gefäß für die Erinnerungen und alles, was sie über uns glauben und wissen. Tim und Struppi, Frau Schröder mit der Katze. Der süße Makler. Sonst könnte ich gar nicht mehr richtig an sie denken. Wer denkt an Katrina? Susan? Eleanor? Wer denkt morgen an Anna und an Jessie?
Man soll bei der Apokalypse nicht traurig sein. Das ist Zeitverschwendung und hilft nicht weiter. Ist ja doch niemand da, der fragt was los ist und tröstet. Dann kann man sich die Traurigkeit auch sparen.
Jessie bleibt heute Jessie und überlegt, wie es wäre, immer noch Anna zu sein. Jessie nimmt das Telefonbuch von Frau Schröder, hält es über das Geländer. Sie lässt los. Es dreht sich langsam, öffnet seine Seiten und gibt alle seine hübschen Namen preis. Ein Stockwerk nach dem anderen, das von namenlosen Menschen verlassen ist, zieht an dem großen Buch vorbei.
Anna denkt daran, dass die meisten, die hier gewohnt haben, gar nicht im Telefonbuch stehen. Wer benutzt so was heute überhaupt noch? So viele Namen fehlen dort. Meine Eltern stehen noch drin. Aber mein eigener Name ist nicht drin. Ein lautes Klatschen füllt die Halle. Das Buch liegt aufgerissen im braungrünen Wasser. Die letzten Goldfische hab ich schon vor einer Woche eingesammelt. Anna denkt: Die Apokalypse trifft die am härtesten, die gar nichts dafür können.
Jessie. Anna. Ich schreibe mit Edding an die Wände des Apartments. Jessie schreibt sich schnell und mit Kanten. Anna ist rund und weich. Biss hat sie auch. Ich schreibe Jessie und spüre, wie mein Körper sich anfühlt. Sie ist fest und gerade. Hat kleine, runde Brüste, die es gern mögen, wenn jemand sie mit voller Hand streichelt. Kräftig aber nicht grob.
Anna zieht einem scharfen Fingernagel über die weichen Körperseiten. Er malt rote Streifen auf Weiß. Ihre Brüste sind weicher, hängen tiefer und würden so gern einen warmen Mund füllen. Anna will in warmen, schweren Wogen fließen. Jessie ist leicht und biegsam. Wenn sie vergnügt ist, kugelt sie wie ein verspielter Welpe über den Boden. Doch es ist niemand da, der mitspielt.
Anna will Frühstück.
Es ist Zeit für den frühen Rundgang. Die Stimmung ist anders, seit die Leute weg sind. Es liegt an den offenen Türen. Viele haben die Türen abgeschlossen oder aus Gewohnheit zugezogen. Aber einigen war das entweder egal oder sie wollten für verirrte Seelen eine nette Geste hinterlassen.
Anna ist keine verirrte Seele. Aber sie hat einen gesunden Appetit. Vorzugsweise auf Ravioli aus der Dose. Da unterscheidet sich ein Weltuntergang kaum von einer Abschlussarbeit. Offene Türen gibt es viele. Jessie darf entscheiden, weil sie die Neue ist. Die Ausbeute ist ordentlich: Erbsensuppe mit Knäckebrot. Katzenfutter ist auch da.
Frau Schröders schwarzer Kater streift wieder durch die Halle. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Die Schale liegt unter einem Busch. Als der Kater sein Futter hat, streicht er weiter um meine Knöchel. Also knie ich mich auf den Boden und kraule sein dichtes Fell. Dann ist er zufrieden.
Ich merke, dass ich es nicht bin. Aber ich muss jetzt hoch. Der Mofamann kann jeden Augenblick kommen. Er ist der einzige Mensch, den ich manchmal sehe. Ich schätze, dass er ein Mensch ist. Er hat immer einen schwarzen Helm auf. Er auch könnte ein Zombie oder ein Alien sein. Falls die Mofa fahren. Fast jeden Tag fährt er kurz vor Mittag über die Rollstuhlrampe direkt in die Halle und packt seinen Rucksack aus. Er bringt Bücher und Zeitungen, stapelt sie ordentlich auf und fährt wieder weg. Ich glaube, er ist verrückt. Die Bücher sind es auch. Ich versucht, sie zu lesen. Die Worte ergeben keinen Sinn mehr. Nichts ergibt Sinn.
Er kommt. Ich geh nach oben ans Geländer und schau ihm beim Auspacken zu. Ich glaube, er sieht mich gar nicht. Trotzdem sollte ich ihm nicht zu nah kommen. Er braucht nicht lange. Viel hat er heute nicht dabei. Bevor er geht, streichelt er den Kater. Das ist seltsam. So etwas hat er noch nie gemacht.
Heute ist ein seltsamer Tag. Seit ich den Kater gefüttert hab, bin ich durch den Wind. Unzufrieden. Was soll das heißen? Anna hat keine Ahnung und Jessie ist auch keine Hilfe. Im Apartment zieh ich weißes Papier aus den Schränken und suche Schreibzeug. Ich finde einen wunderschönen Federhalter und versuche, Gedanken aufzuschreiben. Die Feder kratzt und ist schnell leer. Was da steht, hat keinen Sinn. Ich verstehe die Worte. Es sind meine. Aber sie sagen mir nichts.
Mir wird kalt. Ich brauche was zum Anziehen. Und mehr Tinte. Im Schreibtisch finde ich nichts. Auch sonst nirgends. Ich hülle mich fest in den Bademantel von Tim oder Struppi, renne über den Korridor und suche nach einer offenen Tür.
In diesem Teil des Hauses war ich noch nicht oft. Aber ich bin sicher, dass diese Tür abgeschlossen war. Jetzt steckt ein Schlüssel im Schloss. Anna ist neugierig, fürchtet sich aber. Jessie lässt ihr gar keine Wahl. Mit Fingerspitzen dreht sie den Schlüssel und zieht die Tür auf. Im Flur verstreut liegen schwarze Motorradstiefel, Jeans und löchrige Socken. Auch Anna will nicht zurück. Sie schleicht auf nackten Fußspitzen zu einer Tür, aus der Licht in den dunklen Flur fällt.
Jedes Loft hat einen großen Raum mit einer breiten Fensterfront. Die Sonne erfüllt den fast leeren Raum. Auf dem Boden liegt ein Teppich mit dichten, langen Fransen. Der Mofamann hat sich darauf ausgebreitet. Er hat nur noch seinen Helm auf und lässt sich von der Sonne streicheln.
Anna sieht ihn an. Und Jessie sieht in an. Ich höre meinen Atem und seinen und will den Blick nicht losreißen. Erst jetzt begreife, dass er sich genauso fühlt, wie ich. Langsam ahnt Anna, warum er jeden Tag in die Halle kommt: Er kommt, um mich zu sehen.
Die Bücher, sie sind alle nur für mich. Er hat versucht, es mir zu sagen. Und ich kann ihn nicht verstehen. Niemand versteht etwas. So wenig, wie die Worte auf dem Briefpapier. Das ist beim Weltuntergang passiert. Von einem Tag auf den anderen haben wir nichts mehr verstanden. Nichts, was wir uns sagen, ergibt Sinn. Die Leute wurden erst wütend, dann traurig. Schließlich haben sie es nicht mehr ausgehalten und sind davongelaufen. Ich frag mich, wohin.
Als ich näher komme, lässt Jessie den Bademantel von den Schultern gleiten. Er hört mich und bewegt sich nicht. Seine Hände sind voller Schrammen und Schwielen. Sein Körper sieht knotig aus, fest zusammengezogen. Ich möchte wissen, ob ich einige dieser Knoten lösen könnte und wie es sich dann anfühlt.
Ich lege mich neben ihn auf den Teppich. Unsere Hände berühren sich noch nicht. Ich stelle mir vor, wie seine Finger über meinen hungrigen Bauch streifen. Wie meine Fingerspitzen nach seinen verknoteten Muskeln tasten, die unter der Berührung schmelzen. Ich weiß, dass in ihm das Gleiche vorgeht. Unsere Finger suchen sich.
Wir haben so viel Zeit.
Etwas rührt sich in meiner Kehle. Ein fernes Spüren, das mit viel behutsamer Aufmerksamkeit, einmal zu einem Wort wachsen könnte. Ein Wort mit Sinn. Es hat unzählige Formen, eine hübscher als die andere. Anna sagt, es heißt „Schön!“ Jessie glaubt, es bedeutet „Mehr!“ Bald helfe ich ihm, den Helm abzunehmen. Ich fürchte mich davor und ich freue mich darauf.