Der "Herr Wendriner"
Mein Lieblingssatiriker ist Kurt Tucholsky - ich besitze seit meiner Jugend eine Gesamtausgabe. Er hat nur sehr wenig "Bücher" geschrieben, sondern v.a. Zeitungsartikel, "Feuilletons" - teils hoch politisch, gelegentlich auch mal "bierernst", größtenteils jedoch in einer satirischen und doch hochgradig einfühlsamen Weise und einem brillianten Deutsch. Er war sehr erfolgreich - diese seine kurzen Texte wurden schon zu seinen Lebzeiten in Sammelbänden auf den Markt gebracht. Er verdiente durchaus nicht schlecht.
Eine fiktive Person, die Tucholsky über viele Jahre immer wieder in unterschiedlichen Lebensituationen portraitiert, ist der "Herr Wendriner" - ein erfolgreicher jüdisch-berlinerischer Geschäftsmann, der an der Börse spekuliert, in Wertpapieren und Grundstücken macht, an diversen Firmen beteiligt ist. Tucholsky - selbst Jude und promovierter Jurist - kannte diesen Typus aus eigener Anschauung: er war kurzzeitig Syndikus einer Bank gewesen.
"Herr Wendriner lässt sich massieren" - er ist etwas korpulent, mittleren Alters: "Herr Wendriner erzieht seine Kinder", aber durchaus agil: "Herr Wendriner betrügt seine Frau", hat jede Menge Niveau: "Herr Wendriner geht ins Theater" ...
Stets sind es Monologe, die Herr Wendriner hält - als typischer Schnellschwätzer lässt er seine "Gesprächspartner" kaum zu Wort kommen. Einmal führt er auch einen inneren Monolog: "Herr Wendriner kann nicht einschlafen". Er ist fix, gerissen, hektisch, fahrig, mit den Gedanken immer schon woanders, hat stets die $-Zeichen in den Augen und liebt zotige Witze. Er ist aber auch gutmütig, hat Familiensinn, zuweilen melancholisch: "Herr Wendriner beerdigt einen".
Man schmunzelt, kichert, lacht sich Tränen in die Augen, sucht sich immer neue Stories vom Herrn Wendriner - Tucholsky ist seit langem "frei" und in Volltext online - doch bei der letzten Geschichte von 1932 bleibt einem das Lachen im Halse stecken: "Herr Wendriner steht unter der Diktatur", singt das Horst-Wessel-Lied mit, bietet "seinem" SA-Mann gutmütig eine Zigarre an und ist stolz, daß sie angenommen wurde. Tucholsky hat es hellsichtig geahnt: wehrlos wie Lämmer gingen die Juden zur Schlachtbank.
Tucholsky selbst starb sehr bald im durchaus kompfortablen schwedischen Exil - er war ja nicht arm gewesen, hatte kein Problem, "rauszukommen" und irgendwo Unterschlupf zu finden. 35 oder 36 ist er gestorben - an einer Überdosis. Bis heute weiß man nicht genau, ob es Unfall oder Selbstmord gewesen war.