*Die Geschichte vom Zaunkönig*
Warum der Zaunkönig so hoch fliegen kann
Alles begann damit, das der Specht und die Elster sich darüber streiteten, wer denn jetzt der bessere ist.
"Ich bin viel schneller als du, schau mal, wie schnell ich klopfen kann", rief der Specht der Elster zu.
"Ach, hör doch auf. Sie mich an. Ich bin eine Schönheit. Und eine perfekte Diebin dazu. Sie her, was ich alles in meinem Nest gesammelt habe", antwortete die Elster, und zeigte mit dem Flügel auf die zwei Ringe und die Münze, die sie geklaut hatte.
"Und was willst du mit dem Schund?", fragte der Specht, "ein Haus bekommst du dadurch nicht. Dafür musst du arbeiten, und schnell sein, so wie ich"
Der Specht schlug auf das Holz, das es nur so lärmte.
"Ach was. Was bringt dir die beste Wohnung, wenn du sie nicht schmücken kannst? Wie soll es denn bei dir aussehen? Und wer wird dich besuchen, in deinem Loch?"
"Bei mir werden mehr Vögel zu Besuch kommen, als bei dir. Ich habe etwas geleistet, du liegst doch nur auf der faulen Haut und nimmst dir, was du brauchst. Du bist ja kein richtiger Vogel!"
Das traf die Elster hart. Sie solle kein richtiger Vogel sein? Sie, die Königin aller Vögel? Nein, dachte sie, ich bin der Vogel überhaupt, und ich werde es diesem Specht zeigen!
"Also gut", sprach die Elster, "du wolltest es nicht anders. Ich fordere dich heraus, zu einem Wettkampf, um zu beweisen, das ich der beste Vogel überhaupt bin!"
"Und was soll das für ein Wettkampf sein?", fragte der Specht.
"Das soll die Eule entscheiden. Sie ist die weiseste von uns allen, und sie weis bestimmt, was einen Vogel ausmacht"
"Gut, treffen wir uns morgen früh bei der Eule", war das letzte Wort des Spechtes.
Sie trennten sich, und überlegte beide, was die Eule sagen wird, damit sie sich gut vorbereiten können.
Als der Zaunkönig seine Runde drehte, sah er die Versammlung vor der Eule.
"Was machen die denn?", fragte er sich und flog zu ihnen.
"Was macht ihr?", fragte er den Raben.
"Wir...krächz...wollen wissen...krächz...was die Eule uns sagt...krächz", antwortete der Rabe mit seiner rauhen Stimme.
"Und warum wird die Eule was sagen?", fragte der Zaunkönig weiter.
"Sie wird uns... krächz... sagen... krächz... was einen... krächz... Vogel ausmacht...krächz", war die Antwort.
Just in diesem Augenblick erschien die Eule vor ihrer Höhle.
"Was habt ihr, das ihr mich so früh stört? Wisst ihr denn nicht, das ich um diese Zeit zu schlafen pflege?"
"Doch, oh du Weise. Aber uns plagt eine Frage, die nur du uns beantworten kannst. Was macht einen Vogel aus, und wann ist ein Vogel besser als der andere?", sprach die Elster.
"Das ist eine gute Frage. Aber warum wollt ihr das wissen? Gibt es Streit unter euch, wird hier jemand für minderwertig gehalten?", fragte die Eule entsetzt.
"Nicht ganz, oh weise Eule, aber wir stellen uns die Frage, weil der Specht behauptet hat, er sei ein besserer Vogel als ich", sagte die Elster.
"So, ihr habt Streit miteinander, und ich werde beauftragt, ihn zu schlichten? Findet ihr das fair? Und verletzt es nicht euren Stolz, wenn ihr zugeben müßt, das ihr zu schwach und zu dumm seid, euch zu einigen?"
Da waren die Vögel alle still. Die Eule hatte Recht, das war Gesetz. Was die Eule sagt, stimmt, Schluss!
"Wir entschuldigen uns für unsere Dummheit, wir durften dich nicht stören, es war unsere Schuld. Wir bitten um Verzeihung", versuchte sich der Specht zu entschuldigen.
"Geht hinfort, und lernt, ihr selber zu sein", sagte die Eule noch, und ging wieder in ihre Höhle zurück, um zu schlafen.
"Und was machen wir jetzt", fragte die Amsel, "wir wissen immer noch nicht, was einen Vogel ausmacht"
"Das ist doch klar. Die Stärke macht einen richtigen Vogel aus. Ein Schwacher Vogel kann nicht überleben", meinte der Adler.
"Ach was. Es ist nicht die Stärke, es ist die Geschwindigkeit. Ein Langsamer Vogel kann nicht flüchten, und wird gefangen", sprach der Turmfalke.
"Ihr habt beide Unrecht. Es ist die Größe, die einen Vogel ausmacht. Ein großer Vogel kann sich gegen alles wehren, ein kleiner ist sofort mit einem Happen weg, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben", war des Albatrosses' Meinung.
"Ihr zählt immer nur eure Eigenen Stärken auf", meldete sich der Kolibri, "aber ich bin euch allen unterlegen, und ich lebe noch, lebe sogar nicht schlecht. Und ich bin ein Vogel, das steht fest. Wir brauchen etwas, was ALLE Vögel können. Damit können wir uns vergleiche. Wir nehmen eine gemeinsame Eigenschaft, und schauen, wer der Beste darin ist"
Da staunten die Vögel. Der Kolibri war zwar klein, aber er konnte nachdenken. Das musste man ihm lassen. Was ihm durch Körpergröße fehlt, macht er wieder durch Grips wett.
"Das Fliegen...krächz", sprach der Rabe.
Jeder schaute ihn an. Er hatte soeben die Lösung des Problems gefunden. Alle Vögel können fliegen. Und der Vogel, der am höchsten fliegen konnte, war der Beste unter ihnen.
Sofort wurden alle Vögel benachrichtigt, an einem Flugwettbewerb teilzunehmen. Und nach drei Tagen war es soweit. Alle Vögel waren da, bis auf die Eule, die das Ganze nicht gut fand, und der Taube, die den Termin einfach nur vergessen hatte.
Alle warteten auf das Startsignal. Als es endlich ertönte, flogen alle in den Himmel. Der Spatz war der erste, der wieder auf den Boden kam.
"Das reicht mir. Weiter komm ich nicht. Weiter will ich nicht", sprach er außer Atem.
Wenige Zeit später landete der Rabe. Nein, eigentlich stürzte er auf den Boden. Wild fluchend verließ er den Flugplatz.
"Wenn diese Amsel nicht gewesen wäre, hätte ich es geschafft"
Es folgten immer weitere Vögel, nach und nach füllte sich der Boden wieder. Alle schauten nach oben, wo jetzt noch drei Vögel, wenn auch mit Mühe, zu sehen waren. Der Adler, der Albatross, und der Turmfalke.
"Hoffentlich passiert nichts", sprach die Eule kopfschüttelnd vor sich hin.
Wenig später verließen den Turmfalken seine Kräfte. Ungebremmst stürzte er auf den Boden zu. Erst im letztem Augenblick drehte er ab.
"Wenigsten hab ich eine perfekte Landung hingelegt", sagte er.
Jetzt war es ein Kopf an Kopf Duell vom Adler und Albatross. Lange Zeit konnte keiner sagen, wer gewinnen würde, bis sich der Albatross entschloss wieder auf den Boden zu sinken.
"Das hat doch keinen Sinn mehr, einer muss doch irgendwann nachgeben"
Jetzt war nur noch der Adler oben. Er hatte schon gewonnen, er konnte bereits wieder runter. Aber er wollte allen zeigen, das er noch um einiges weiter kommt, als dieser Albatross. Er stieg immer weiter höher, bis ihn seine Flügel nicht mehr tragen konnten. Er schaute noch ein letztes mal nach oben, bevor er sich wieder auf den Weg abwärts machte. Doch was sah er da? Da war noch ein Vogel, ein kleiner, schwacher Zaunkönig. Über ihm, gut zwanzig Meter über ihm.
"Wie hast du das geschafft Kleiner?", rief der Adler dem Knirps zu.
"Ach, das war nicht schwer. Ich bin geflogen, ich bin einfach nur hier hoch geflogen. Mehr nicht"
"Aber warum sehe ich dich erst jetzt?", rief der Adler erschöpft"
"Vielleicht, weil ich so klein bin. Wäre ich größer, wäre ich dir sicher schon früher aufgefallen"
"Aber ich hab dich doch auch jetzt gesehen. Warum nicht schon früher?"
"Weil du blind bist, Adler. Du siehst nur dich, und keinen anderen. Würdest du auch die anderen achten, hättest du gewonnen, aber weil du so engstirnig bist, konnte ich auf deinen Rücken steigen, und mich von dir tragen lassen"
Wie überrascht war da der Adler. Ein kleiner Zaunkönig hatte ihn überlistet. Ihn, den König der Vögel, ihn, das anmutigste Geschöpf unter Gottes Himmel. Wie konnte das geschehen? Von einem kleinen Zaunkönig reingelegt und besiegt.
"Warum hast du das getan?", fragte der Adler.
"Ich wollte den Wettkampf gewinnen, mehr nicht. Ich wollte der beste Vogel sein, den es gibt, der König aller Vögel, Gott", rief ihm da der Zaunkönig zu. Aber so, das der Adler verstand, was er sagen wollte. Er sprach, wie er. Er setzte dem Adler einen Spiegel auf. Aber nicht nur ihm, auch den anderen Vögeln, die versuchten, zu gewinnen. Sie alle wollten siegen, wurden aber alle von diesen kleinem Zaunkönig bezwungen.
Die Eule blickte zufrieden drein, als der Zaunkönig zu ihr kam.
"Du bist der Beste, Kleiner. Du hast es ihnen gezeigt, du bist ein Vogel!", sprach sie, "trotz deiner Größe ist es dir gelungen, alle zu besiegen. Ich bin stolz auf dich"
Der Zaunkönig aber hörte sich das alles nicht langen an, er flog nach einer kurzen Zeit wieder in sein Nest zurück und kümmerte sich um seinen Nachwuchs.