Ignorina bei den Spacken, Teil 2
Kanüle
Ignorina erwachte, als die Mittagssonne ihre geschlossenen Augen blendete. Sie versuchte, dem gleißenden Licht zu entkommen, indem sie sich auf die andere Seite drehte. Dabei bemerkte sie, daß sie auf einer Wiese lag und nicht in einem Bett. Ignorina setzte sich auf, würgte und spuckte aus. Das Ausgespuckte lief mit schnellen Schritten seiner acht Beine davon. Die Erinnerung hielt langsam Einzug, wollte aber nicht so recht passen. Ignorina kramte in ihrer löchrigen Hose nach Kleingeld, fand eine 50 Euro Münze und ging zu dem Getränkeautomaten von kanüle (kalt-natürlich-lecker), der durch den bekannten Jingle leicht zu finden war. Als die Münze klackernd im kanüle verschwand, unterbrach die Frage nach der Auswahl die Melodienschleife.
kanüle: "Hallo. Was suchst Du?"
Ignorina antwortete: "Bitter Lemon."
kanüle: "Du möchtest Peter lemmen. Ist das korrekt?"
Ignorina: "Nein. Bitter Lemon."
kanüle: "Du möchtest Wieder Lernen. Ist das korrekt?"
Ignorina: "Verdammt nein. Gib mir eine Flasche Bitter Lemon. Zweiter Schacht von rechts, von von mir aus gesehen"
kanüle: "Du möchtest verdammt neun die wie eine Flasche wieder lernen zweiter Schachbrett mir ausgehen? Ist das korrekt?"
Ignorinas Grantigkeit wurde grantiger: "Ja, das ist korrekt"
kanüle: "Leider steht verdammt neun die wie eine Flasche wieder lernen zweiter Schachbrett mir ausgehen zur Zeit nicht zur Verfügung. Bitte wähle ein anderes Produkt."
Ignorina bemühte sich, ruhig zu bleiben: "Gib mir mein Geld zurück"
kanüle: "Du möchtest Gibt es Mittel zur Gewinnmarge rück? Ist das korrekt?"
Ignorina: "Hör mal zu, Freundchen. Ich weiß, dass du mich genau verstanden hast. So dämlich die Spracherkennung auch ist, sie zwingt dich nicht dazu, mich zu verarschen. Also entweder, Du spuckst jetzt eine Flasche Bitter Lemon aus oder ich verpasse Dir einen Neustart mit unzulässigen Treibern. Ich hab das Windows 8 Logo auf deiner Rückseite gesehen. Du willst doch nicht als Raubkopie mit gecrackten Vista-Treibern enden, oder?"
In kanüles Innerem rumorte es. Es zischte, klongte und sprotzte. Dann plumpsten 2 Flaschen Bitter Lemon ins Ausgabefach.
"Bitte sehr. Wart mal kurz!"
kanüle machte Geräusche, als habe er nach 2 Wochen Verstopfung wieder Stuhlgang. Dann sprach er:
"Man soll mit dem anfangen, womit man aufgehört hat. Ich hab Dich drei Wochen beobachtet. Du gehörst nicht hierher. Dein Benutzer hat dich hier abgelegt. Kapiert? Du bist ein herrenloser Eindringling und ich würde an deiner Stelle nicht so einen Wind machen. Hier sind einige Streiflinge unterwegs. Wenn die dich schnappen, bist Du weg vom Fenster. Nimm die Flaschen und verpfeif Dich, Arschloch."
Ignorina blickte in das Ausgabefach, wo eine Flasche Kulmentruller Kolterplacke erschienen war.
"Hör auf mit dem Zeug!" raunzte der Automat.
Ignorina nahm die Flasche an sich, sah sich mürrisch um und ging so unauffällig wie möglich zur U-bahn-Station. "Danke" flüsterte Ignorina kanüle zu.
Im Bahnhof von Mösenkosen
Die Hauptstadt Mösenkosen hatte in den letzten 50 Jahren ihre Größe nahezu verzwanzigfacht, betrachtet man nur die Grundfläche. Die Einwohnerzahl hatte sich in diesem Zeitraum sogar um das siebenundvierzigfache erhöht. Die Expansion hatte Mösenkosen die Gründung der Firma Gotya zu verdanken. Elmor Phap hatte im Alter von 14 Jahren Gotya gegründet, ursprünglich nur aus einem einzigen Grund. Er wollte allen zeigen, wie einfach es ist, selbst die Vorsichtigsten auszuspionieren.
Der Wahrheitsgehalt eines Profiles war kein diskussionswürdiges Thema. Wer erfahren wollte, was an einem Profil nicht mit der Realität übereinstimmte, gab einfach einen Auftrag an Gotya, einer zum Monopolisten aufgestiegenen Agentur, die durch den Abgleich frei zugänglicher Informationen die Fehler filterte und ein bereinigtes Profil hinterließ, welches so detailreich und genau war, dass der Inhaber über sich selbst noch Dinge erfuhr, die er nicht für möglich gehalten hatte. Elmor Phap hatte seine Firma an Giggle verkauft, nachdem er sich selbst analysiert hatte. Er räumte sein Konto leer, legte alle seine Profile ab und verschwand unauffindbar. Eine häufig verbreitete Theorie über sein Verschwinden ist sein Anschluß an die Opfer, wie der illegale Untergrund genannt wurde. In der Vorweihnachtszeit, also ab August eines jeden Jahres vermehren sich aber auch die Berichte über Sichtungen Phaps. Nicht wenige fanden auf diese Weise ihren Glauben an den Weihnachtsmann wieder.
Im Bahnhof von Mösenkosen ging Ignorina zur Toilette und kippte einen Schluck Kolterplacke hinunter. Die Wirkung setzte innerhalb von Sekunden ein. Ignorina wunderte sich, warum das Zeug nicht verboten war, so wie andere, wesentlich wirkungslosere Drogen.
„Hier endet also alles. Im Bahnhof von Mösenkosen“, sagte sie resigniert.
"Bist Du da so sicher?" fragte eine mechanisch klingende Stimme.
"Schau mich an. Würdest Du lieber mit mir tauschen?“
Die Toilette, auf der Ignorina vor kurzem gesessen hatte, sprach laut und deutlich. Ignorina blickte auf die Flasche. "Vergiß es, die Kolterplacke hat nichts damit zu tun. Es ist wahr, ich bin eine Kloschüssel. Jedenfalls vorübergehend. Frag nicht, wie ich sprechen kann. Das ist nicht leicht zu erklären. Wenn es einfach wäre, gäb es schließlich keine Religion. Stimmts oder habe ich recht" Ein Chor von Dutzenden von Stimmen antwortete:
„Heilig ist Dein Name
Du hast immer recht.
Du bestimmst, was abgeht.
Nicht nur hier, sondern überall.
Beschütze uns vor uns selbst.
Nimm den Gestank von uns und entsorge den unreinen Abgang.
Du bist der Chef und alle lieben Dich.
Bis zum Ende aller Tage.
Aloha Akhba!“
"Unfaßbar abgefahren." Ignorina erinnerte sich an das Briefing. Auf dem Weg nach Ding Dong war sie über der Lektüre zur Religion auf Ding Dong eingeschlafen.
Die Kloschüssel räusperte sich auf eine widerlich klingende Weise uns sagte: „Arschtasche“
„Wie bitte?“
In Deiner Arschtasche. Ich habe es gesehen, als Du Dich auf mich...“
„Jajaja, schon gut!“
Sie fand die Broschüre über die Religion, lehnte sich zwischen zwei Handtuchhaltern an die Wand und überflog den Text.
„Bimmler glauben an eine Trennung von Geist und Seele, ein Bimmler ist die Symbiose eines Profiles mit einer so genannten Körperlichkeit. Eine geschlechtliche Fortpflanzung existiert für die Profile nicht, jedoch werden Körperlichkeiten auf diese Weise hergestellt. Die Lizenz dafür ist seit dem Aufstand der Körper staatlich monopolisiert. Der Staat unterhält zwei Farmen für die Aufzucht, einen für die männlichen und einen für die weiblichen Körperlichkeiten. Das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Körperlichkeiten ist 9 zu 1. Obwohl Profile maschinell hergestellt werden, sind Körper durch ihre geschlechtliche Fortpflanzung nicht höher geachtet, im Gegenteil. Ein Profil ist nicht auf einen Körper angewiesen, um zu überleben. Körper werden seit der Niederschlagung eines Aufstandes der Körper gegen die Profile Körperlichkeiten genannt und dienen der Konditionierungsmöglichkeit durch offizielle Organe. Das Verhältnis von Profilen zu Körperlichkeiten ist 3 zu 1.
Bei der Herstellung von Profilen wird nach dem Hochfahren der Profil-Presse eine Blanko-Profil-Schablone erstellt, eine exakte Kopie der Original-Profil-Schablone, die in einem Labyrinth aus hohen Hecken aufbewahrt wird. Wo genau das jeweils ist, weiß niemand. Daher beginnt eine Spezialeinheit der Streiflinge bereits Stunden vor dem Hochfahren der Presse mit der Suche nach der Original-Profil-Schablone. Nach dem erfolgreichen Erstellen der Blanko-Profil-Schablone pfeffert ein zufällig ausgewählter Angestellter die Original-Profil-Schablone aus Sicherheitsgründen mit verbundenen Augen zurück in das Heckenlabyrinth.
Die Konfiguration der Profile geschieht automatisch, anonym und zufällig durch eine Maschine, die äußerlich einem Flipper nicht unähnlich ist, jedoch ein enorm weites Spektrum an gesellschaftsfähigen Variationen in ein Blanko-Profil zu pressen in der Lage ist. Einfluss auf das zukünftige Profil kann durch finanzielle Zuwendungen gewährt werden. Durch die Spende eines so genannten Schmiergeldes erhält der Spender Einblick in die Profil-Matrix und hat so die Möglichkeit, Einträge nach eigener Vorstellung zu ändern. Die unbeliebtesten Einträge sind die sehr weit verbreiteten Floskeln, die es schwer machen, Profile voneinander zu unterscheiden, wie z.B.
Mich gibts nur im Doppelpack
Es ist schwer sich selbst zu beschreiben
Alles, was ins Klo gehört
Ein absolutes No-Go
Geht gar nicht
Das Blanko-Profil hat einen Wert, der in einer Währung nicht vorstellbar ist. Dennoch geschieht es hin und wieder, dass ein Blanko-Profil gestohlen wird und auf dem Schwarzmarkt zusammen mit einer provisorischen Profilpresse für einen Preis von mehreren tausend Batzen kaufen ist. Die Streiflinge, eine Spezialeinheit der Geheimpolizei, haben die Aufgabe, freie Blanko-Profile in die Presse zurück zu bringen.“
„Bin ich im Delirium? Das ist ja wohl die schlimmste Psychose, die ich je hatte.“ dachte Ignorina. Die Handtuchhalter, die ihr beim Lesen über die Schulter geschaut hatten, kicherten und sprachen gleichzeitig: "Du wirst an unsere Worte denken. Klar, Du bist verwirrt, aber pass trotzdem auf, daß Du nicht eingefangen wirst. Hüte Dich vor den Streiflingen. Da ist was am Start, so viele hat es hier lange nicht gegeben. Und sie sind brutal aufdringlich. Am besten sprichst Du nicht mehr."
"Warum soll ich nicht sprechen? Ich habe einen Mund. Da ist ja wohl nichts Auffälliges dran. Und überhaupt: Was hab ich denn getan? Nichts Gesetzeswidriges. Ich kann erhobenen Hauptes hier rausgehn und singend an den Streiflingen vorbeigehen. Ja, ich winke ihnen sogar noch zu und wünsche ihnen einen Guten Tag. Macht ihr das erst mal nach."
Ignorina wartete nicht auf eine Antwort. "Was sind denn eigentlich Streiflinge?
"Finde es heraus" atwortete die Kloschüssel und ließ geräuschvoll einen Schwall Wasser in die Kanalisation rauschen. "He, ihr Blödmanner, es gibt auch Profile, die schlafen möchten" sagte eine piepsige Stimme in der Nachartoilette. Wer oder was auch immer gerade gesprochen hatte, Ignorina verspürte nicht den geringsten Drang, das heraus zu finden.
Ignorina lehnte an einem Fahrkartenautomat und besah sich das Treiben auf dem Bahnhofsvorplatz. Nichts war zu sehen, wovor sie sich fürchten sollte. Doch ganz gleich, ob das Erlebnis in der Bahnhofstoilette das Produkt eines Kolterplackerausches war oder ob es tatsächlich stattgefunden hatte, in beiden Fällen war es wohl besser, nicht aufzufallen. Ignorina beschloß, vorsichtig zu sein, bis die Kolterplacke ihre Wirkung verlor.
"Sie haben noch 12 Minuten Zeit, ihren Aufenthalt im Bahnhof zu legitimieren. Möchten Sie jetzt eine Fahrkarte kaufen? Sagen Sie Weiter, wenn Sie jetzt kaufen möchten oder sagen Sie Abbrechen, wenn Sie ihren dubios wirkenden Aufenthalt weiterführen möchten. Sagen Sie Später entscheiden, wenn Sie sich nicht sicher sind. Zu Ihrer Information sei hinzugefügt, daß beim Nichtkauf einer Fahrkarte automatisch der Beobachtungsmodus aktiviert wird."
"Leck mich!" antwortete Ignorina dem Fahrkartenautomaten, der das Logo der privatisierten Reisegesellschaft "Analoge Fortbewegungs Zelle" (AnalFotZe) trug.
"Ich habe Sie nicht verstanden, Sie haben noch 10 Minuten Zeit, ihren..."
Ignorina verließ den Bahnhof und bemühte sich, wie eine gerade angekommene Reisende zu wirken.