@ seele - Wärme und Kälte
Der Sinn einer Kälteanwendung nach Kneipp ist nicht die Kälte - sondern die Wärme.
Der Mensch verfügt über ein körpereigenes Temperaturregulationssystem, das ungeheuer präzise arbeitet. Bekanntlich gibt es eine auf den 1/10-Grad genaue Körpertemperatur, deren Über- oder Unterschreitung um geringfügige Gradzahlen bereits lebensgefährlich ist - zum Nachschlagen der "Normtemperatur" bin ich jetzt zu faul.
Dieses System basiert auf ähnlichen Prinzipien wie eine Zentralheizung: im Körperinneren - hauptsächlich wohl: in der Leber - wird durch "Verbrennung" Wärme erzeugt, und die erwärmten Körperflüssigkeiten sodann in die erkalteten Regionen gepumpt, die erkalteten Körperflüssigkeiten zu Erwärmung nach innen geleitet.
Dieses System ist in unserer "vollklimatisierten" Lebenweise quasi funktionslos geworden - schon Kneipp hat über die Schäden der "zivilisierten" Lebensweise gewettert - im 19. Jahrhundert !
Soweit so gut - was nun kommt, ist Spekulation. Obschon Kneippsche Anwendungen zu so gut wie jeder Reha-Kur dazugehören, sind ihre Wirkungszusammenhänge immer noch weitgehend unerforscht - es ist anzunehmen, daß sie nicht in die herrschenden Paradigmata der biologischen Anthropologie und der Medizin hineinpassen.
Meine Vermutung aufgrund meiner eigenen Erfahrungen sieht so aus:
Diese Zirkulation von Körperflüssigkeiten von innen nach aussen und umgekehrt hat noch Bedeutungen über die Temperaturregulierung hinaus. Der Kreislauf der Körperflüssigkeiten wird durch diese Reizungen stark intensiviert. Der Körper wird sozusagen "durchgespült" - bei den Kneippschen Anwendungen auf eine gezielte Art und Weise. Dadurch werden schädliche Stoffkonzentrationen minimiert, nützliche Stoffkonzentrationen erleichtert. Beispielsweise werden weisse Blutkörperchen, die zur Abwehr von Infektionen etc. benötigt werden, aufgrund solcher Anwendungen schneller und in höherer Zahlt dorthin gebracht, wo sie gebraucht werden.
Ein ganz konkretes Beispiel ist der Eiswürfel gegen den Schnupfen - ein Geheimtip unter Medizinern. Jeder Schnupfen verschwindet, wenn man mit einem Eiswürfel ca. 1 Minute lang Nase, Nasenwurzel und Stirnhöhlenbereich einreibt, und das Schmelzwasser nicht abtrocknet, sondern auf der Haut und an der Luft trocknen und verdunsten lässt. Der Heileffekt setzt in der Regel nach 20-30 Minuten ein. In dieser Zeit wird der gekühlte Bereich mit frischem Blut - und frischen weissen Blutkörperchen "geflutet", die in dieser Konzentration dann in der Lage sind, mit der banalen wie lästigen viralen (?) Infektion spielend und ohne weitere Hilfsmittel in kurzer Zeit fertig zu werden. Dieser Eiswürfel gegen den Schnupfen ist auch die einfachste und am wenigsten Belastende Demonstration der therapeutischen Wirksamkeit von Kälte. Nur muß man gerade einen Schnupfen dafür haben.
Ich selbst habe, seit ich Kälteanwendungen intensiv betreibe, nie mehr einen Schnupfen gehabt - ich niese gelegentlich ein paar mal hintereinander, das wars dann aber auch. Aber im Winter habe ich diesen Trick mehrfach erfolgreich angewendet. Er funktioniert sehr zuverlässig - wenn nicht der Schnupfen lediglich ein Symptom zB einer Grippe ist.
Heute war ein "Therapietag" für mich - zweimal bin ich heute, am 1. September, bei ca. 15 Grad Lufttemperatur in shorts & tshirt 2,5 km zu meiner Badestelle gelaufen (die letzten 1000 m nackt), habe in der leichtes Hochwasser führenden jungen Werra ca. 1 Minute gebadet, die derzeit gute Champagnertemperatur hat, und habe auf dem Rückweg das Wasser an der kalten Luft trocknen lassen. Diese "Übung", die jedem "normalen" Menschen schon bei der reinen Vorstellung frösteln lässt, würde beim "normalen" Menschen wohl auch zu einer kapitalen Lungenentzündung o.ä. führen. Ich selbst habe auf dem Weg nachhause geschnaubt wie ein Walroß - wie man es eben unter hoher körperlicher Beanspruchung tut, etwa beim joggen oder flotten Radfahren, obschon ich ganz normal gegangen bin - nicht gerade geschlendert, aber auch nicht gehetzt. Ich habe so geschnauft, weil dieses Wärme- und Flüssigkeitsaustauschsystem mal wieder auf Hochtouren gebracht worden ist.
Das Wiederaufleben, das Erstarken dieses Systems habe ich "hautnah" miterlebt - es beschert faszinierende "Wärme-Erlebnisse". Durch die sinkenden Temperaturen kommt ein solches Erlebnis wieder in Reichweite, daß ich im Frühjahr geniessen durfte - im Sommer war es zu warm dafür gewesen: eine sehr massive Kälteeinwirkung auf den schon abgehärteten Körper führt danach, wenn man wieder im Warmen ist, erst einmal zu Hunger, und dann zu einer enormen Schläfrigkeit. Es zieht einen unwiderstehlich ins Bett. Kaum liegt man dort, breitet sich fast blitzartig eine unglaublich wohlige Wärme im ganzen Bett aus, die einen selbst in einen tranceähnlichen, glückhaften Zustand versetzt. Mich hat das Ganze sogar erschreckt, als ich es die ersten Male erlebte, und meine Ärztin konsultiert, die diese "harte" Kneipp-Kur begleitet - sie hat mich beruhigt: ein bekanntes, positives Phänomen.
Regelmässige Kälteanwendungen führen zu dem, was unter dem martialischen Ausdruck der "Abhärtung" bekannt ist - Kneipp selbst verwendet diesen Begriff. Man assoziiert damit eine gefühlsmässige Abstumpfung, die einen in den Stand versetzt, Kälte zu ertragen wie einen Schmerzzustand, gegen den man alle Nervenkraft zusammennehmen muß.
Diese Vorstellung ist falsch - furchbar falsch. Ich empfinde als schon sehr weitgehend "abgehärteter" Mensch Kälte nach wie vor - aber die Kälte führt nicht mehr bzw. erst sehr spät zum Gefühl des Fröstelns oder gar Frierens. Im Gegenteil erlebe ich Kälte heute sogar regelmässig als lustvoll. Es ist manchmal, als können man das Blut durch die Haut regelrecht rauschen hören, wenn man sich der Kälte aussetzt. Ich gehe auch bei diesen Temperaturen fast oder ganz nackt draussen rum, auch durch den Regen.
Es ist paradox - "widersinnig": das regelmässige Erleben von Kälte führt zu einem wesentlich "wärmeren Leben" - und das Mehr an Wärme, das man geniessen kann, kommt nicht aus der Zentralheizung, der Klimaanlage, der warmen Badewanne oder der Sauna - es kommt aus einem selbst, dem eigenen Körper.
Es verhält sich genau umgekehrt: unsere "zivilisierte" Lebensweise mit ihrer permanenten künstlichen Wärmezufuhr ist es, die in unserem Körper zu einer Abstumpfung führt, in deren Folge ein Rattenschwanz von "Zivilisationskrankheiten" entstanden ist, die meiner Meinung nach großenteils noch garnicht als solche erkannt worden sind.
Die Kneippsche Therapie und Lebensweise zielt darauf ab, den Körper entgegen unserer zivilisierten Gewohnheiten den ursprünglichen Umweltreizen wohlüberlegt und "zielorientiert" auszusetzen.