Riten und SM
Briseis, suchen wir doch 'mal zusammen, was wir haben, um einer Antwort näher zu kommen:
Ritueller SM ist, wenn das Wort Sinn machen soll, SM, der im Rahmen eines Ritus vollzogen wird.
Riten sind nun von alters her feierliche Handlungen, mit denen die wie auch immer gedachte Präsenz des Göttlichen bei den Menschen vollzogen wurde. Also gehören sie in den Bereich der Religion.
Die heute noch praktizierten Riten, die ich kenne, lassen eine Verbindung zu SM undenkbar erscheinen. Eine Ausnahme sind die bereits erwähnten
Schwarzen Messen, also Veranstaltungen, in denen dem Gegenprinzip des guten christlichen Gottes gehuldigt wird, das i.d.R. "Luzifer" oder "Teufel" genannt wird und seit alten christlichen Zeiten mit der menschlichen Sexualität in Verbindung gebracht wrid. Die Darbietung eines nackten junfräulich anmutenden Mädchens auf einem Altar und der Vollzug sexueller Handlungen an ihr reicht in den Bereich von SM. Inwieweit solche Messen auch Schmerzpraktiken beinhalten, weiss ich nicht.
Es ist denkbar, dass sich Menschen
Privatriten ausdenken, innerhalb denen sie SM-Handlungen vollziehen. Wenn der Dom eines SM-Pärchens bestimmt, dass es immer Freitags nach der Tagesschau 20 Hiebe auf den Hintern gibt, ist das nach dem vierten Freitag ein Ritual und wir könnten von rituellem SM sprechen. Der Kern wäre, dass beide das Ritual vollziehen, gleich ob sie nun scharf darauf sind oder nicht.
Fraglich scheint mir, ob das Wort "Ritus" in einem solchen Zusammenhang nicht verflacht gebraucht wäre, denn mit dem ursprünglichen Bezug zur Heiligkeit hat so was natürlich nichts mehr zu tun. Ich fände das Wort "Gewohnheit" in diesem Zusammenhang besser.
Dann haben wir die Aussagen des erwähnten Marquis le deuxième, der behauptet, er kenne Menschen, die rituellen SM praktizierten, er aber keine Aussagen darüber machen dürfte. Aus seinen Angaben schliesse ich, dass er das Wort falsch gebraucht. Denn die Errichtung einer Privatgesellschaft mit strengen Regeln und Hierarchien hat nichts mit dem Vollzug ritueller Handlungen zu tun. Eingeübte und eingeforderte Verhaltensweisen (z.B. Blick nach unten oder Handflächen nach aussen) machen noch keinen Ritus aus, sonst könnte man das freundliche "Guten Tag! Was darf ich Ihnen geben?" der Bäckereiverkäuferin am Morgen auch als Ritus bezeichnen.
Und drittens finde ich Hinweise aus der Tribal Scene in California, dass es Versuche gibt (etwa Seminarangebote), spirituell ausgerichtete rituelle Handlungen mit SM zu verbinden SM ist hier Mittel zum Zweck: etwa derjenige, Chakren-Energie besser zum Fliessen zu bringen.
An diesem Punkt impliziert der Begriff "ritueller SM" eine Umkehrung, die eine weitere Aussicht zulässt:
SM-geprägte Rituale.
Hier erscheinen nun eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene, die darin in eins kommen, dass seit Urzeiten die Schmerzerfahrung als Hilfe zur Öffnung der Seele hin zum Göttlichen benutzt und deshalb SM in religiöse Rituale eingebaut wurde. Eines der plattesten Bilder, die wir haben, ist der auf dem Nagelbrett sitzende Yogi.
Betrachten wir solche Phänomene, ergibt sich das Problem, dass der Begriff "SM" eine moderne Erfindung ist und wir ihn nur im Rückblick mit solchen Ritualen in Verbindung bringen und damit verfälschen. Noch wichtiger: wir nehmen hier eigentlich nur die "M"-Seite des SM und lassen das "S" weg, denn in den Riten zur Erlangung eines spirituellen Bewusstseins spielt Sadismus keine Rolle. Ebenso wenig scheint "Masochismus" zu passen, denn die Schmerzerfahrung dient nicht zur Erlangung sexueller Lust.
Mein Fazit:
Es gibt keinen rituellen SM, solange wir das, was die Worte "Ritus" und "SM" nennen, ernst nehmen.
stephensson
art_of_pain