"Stockholm-Syndrom"?
Ich glaube, es trifft die Sache nicht richtig, im Zusammenhang mit Nataschas Fall vom berühmten "Stockholm-Syndrom" zu sprechen:
Das, was Natascha widerfahren ist, geht weit darüber hinaus! Meines Wissens wurden im August 1973 erwachsene Menschen in Stockholmer Banken als Geiseln genommen, daher der Name für das oben bereits beschriebene Phänomen. Der springende Punkt ist: Es waren, wie geschrieben,
Erwachsene, also Menschen, bei denen die meisten Wachstums-, Lern- und Persönlichkeitsbildungsprozesse zum Zeitpunkt der Geiselnahme weitestgehend abgeschlossen waren (natürlich endet so etwas nie, aber das meiste, das Wichtigste, Prägendste, passiert eben bis vielleicht Mitte 20).
Natascha hingegen hat die diesbezüglich wichtigste Zeit ihres Lebens in der Gewalt (unter der Kontrolle) dieses Mannes verbracht! Prägende Jahre "verloren" (wie WomanInBlack schrieb)? "Verloren" ist in diesem Sinne nichts, denn Prägung geschieht unweigerlich, Natascha
hat ja erfahren,
wurde ja geprägt,
hat ja Lernprozesse durchlaufen - nur eben nicht auf eine wünschenswerte Weise. Aber definitiv ist auch sie nicht auf dem Entwicklungsstand einer Zehnjährigen geblieben!
Der bekannte Neurologe Manfred Spitzer (Buchtipps --> siehe amazon) vertritt - nicht sprachlich streng korrekt, aber einprägsam - die These, dass das Leben, vom neurologischen Standpunkt aus gesehen, mit 20 bereits zur Hälfte "vorbei" ist. Was das subjektive "Erleben" betrifft, dauern die ersten 20 Jahre so lange wie der ganze Rest des Lebens, und sie sind im Normalfall wichtiger und prägender für die Zukunft als jedes andere, spätere Lebensjahrzehnt.
Solche Thesen (und eigenes, genaues Nachdenken) lassen m.E. erahnen, um wieviel Nataschas Fall über die Geiselnahme von bereits "fertigen" (fertig geformten) Menschen hinausgeht!
Nataschas Entführer hat sich - ich denke, das kann man so formulieren - dadurch, dass er ihr in diesen wichtigen Jahren keinen intensiven Kontakt zugestand außer dem zu ihm selbst, zu etwas wie ihrem zweiten
Vater gemacht, unabhängig davon, ob er, sie oder irgendjemand anders das so gewollt oder geplant hätte.
Ich denke also, "Stockholm" ist hier eine Nummer zu klein.
Zu einem möglichen Buch/einer möglichen Verfilmung: Es wäre nicht das erste Werk, das sich mit auferzwungener, von der Außenwelt isolierter Erziehung durch Entführer beschäftigt! Man denke allein an die auch hier bekannten und populären Filme "Old Boy" (Korea) und "Unleashed - Entfesselt" (USA (?)).
Ich persönlich hoffe, Natascha findet viel Zeit und Ruhe, ohne Öffentlichkeit - nicht nur ohne Boulevardpresse, sondern auch ohne "anspruchsvollere" Medien.
T.