Erwartungshaltungen
Wenn ich so als alter Mann mit grauen Haaren auf der Brust und wackeligen Zähnen über mein langes Leben so zurückblicke, dann glaube ich, daß eine ganz wesentliche Ursache von sexuellen Problemen die Erwartungshaltungen sind, die man so im Kopf herumschleppt.
Diese Erwartungshaltungen sind teils negativ - Ängste - teils positiv: Vorstellungen davon, wie guter Sex auszusehen habe, was für Empfindungen man für sich alleine und mit seinem Partner haben solle usw.
Häufig kennt man diese Erwartungshaltungen garnicht - aller verbal bekundeter Offenheit zum Trotz stellt man sich diese Frage garnicht, sie bleibt unter dem Mantel des Tabus verborgen.
Meiner Ansicht nach sind es gerade diese unreflektierten, positiven Erwartungshaltungen, die die meisten Probleme verursachen - weil es einem nicht gelingt, diesen Erwartungshaltungen zu genügen und den Fehler dann bei sich sucht. Da liegt er auch - aber nicht darin, daß man nicht "gut genug" ist, sondern darin, daß man eine viel zu hohe Latte für sich selbst (und den Partner) angelegt hat.
Eine dieser Erwartungshaltungen, die ich rein exemplarisch herausgreifen möchte, ist die Sache mit dem Orgasmus, dem "kommen". Es ist wohl einer der am weitesten verbreiteten sexuellen Irrtümer, daß man bei jedem Sex einen Orgasmus haben müsse, und sich hierauf konzentriert: Sex wird zu einem Hindernislauf zum Orgasmus, und an diesen werden auch wieder enorme Erwartungen gestellt: die Erde muß beben, man muß abheben, fliegen ...
Das kann alles passieren - aber es muß nicht, um guten Sex miteinander zu haben. Einen richtig tollen Orgasmus hat man auch nicht deswegen, weil man darauf konsequent "hingearbeitet" hat, sondern weil man vorher verdammt guten Sex hatte.
Sich von diesen und ähnlichen Vorstellungen zu lösen, was man beim Sex alles unbedingt tun müsse, was man erreichen müsse, und wie er auszusehen habe - das halte ich für einen ganz wesentlichen Schritt zu einer schönen, erfüllten Sexualität.
Wer also solche Probleme hat, nicht richtig locker wird, sich nicht "fallen lassen kann" - der sollte nicht nicht primär fragen, was er alles "noch mehr tun könne", um seinem Ziel näherzukommen, sondern der sollte sich eingeladen fühlen, eher weniger zu tun: seine Ziele zurückzunehmen, gegebenenfalls - auch mit dem Partner zusammen - zu hinterfragen. Es ist zwar schön, wenn man sich beim Sex mit dem Partner "fallen lassen" kann - aber es gibt keine Verpflichtung dazu, ausser derer, die man sich selbst einredet oder von anderen einreden lässt. Es ist wie beim Zahnarzt: wenn man sich jetzt mal schnell "tief entspannen" soll, verkrampft man wie blöd.
Auch Sex mit stark heruntergeschraubten Ansprüchen, auf einem ganz niedrigen Niveau, weit entfernt von dem, was man sich landläufig so unter ultimativ geilem und gutem Sex vorstellt - kann geil und gut sein. Bei jedem Haus wird bekanntlich zuerst der Keller gebaut - und guter Sex beginnt ganz tief unten auf der Skala der Lustbarkeiten: beim sich selbst anfassen, den Partner anfassen - nicht nur "untenrum" ... Man kann regelrecht "üben" und lernen. Dann wird man ganz von alleine lockerer, weil man es nämlich auf einmal viel mehr geniessen kann, freier ist. Man probiert dann irgendwann auch wieder viel mehr aus, und auch das klappt dann viel besser.
Also, so meine Conclusio: Kopfkino ausschalten, und "back to the roots" !