„Der Zufall will‘s, dass ich grad das Buch von Ulrich Clement „Dynamik des Begehrens -Systemischer Sexualtherapie in der Praxis“ gelesen habe. Hätte ich das grad nicht präsent, dann wäre ich auf den hier zugrunde liegenden Artikel wohl hereingefallen.
Aber hier:
„Vor allem solltest du lernen, gut für dich selbst zu sorgen. Erst dann kannst du eine erotische Verbindung zu deiner Partnerin aufbauen. Es geht um die Entwicklung deiner authentischen männlichen Kraft jenseits von gesellschaftlichen Vorgaben. Es geht darum, wer du als sexueller Mann bist, es geht um deinen Selbstwert. Diese Suche ist grundlegend, um deine sexuellen Probleme zu lösen und der Mann zu werden, der du sein möchtest.“
liegt der Kernwiderspruch, der mich kolossal stört. Es wird an Reflexion, Selbstwahrnehmung, Selbstverständnis und Selbstfürsorge appelliert und gleichzeitig genau das Klischee aufrechterhalten, das eigentlich als Problem deklariert wird, nämlich ein potentes, funktionierendes und funktionales Männlichkeitsbild als Ziel. Das findet sich als Zielvorgabe ja auch ganz oben im Startbeitrag hier im ersten dortigen Zitat wieder. Weiter oben hier im Faden wird, vermutlich auch deshalb, bemerkt, dass Frauen hier im Kontext gar nicht angesprochen sind. Aber gut, man referenziert im Artikel nicht ohne Grund ein Buch und Coachings, was alles verkauft sein will.
Clement eröffnet ein Verständnis von sexuellen Störungen, die nicht mehr als defizitär verstanden werden, sondern als Ressource, in dem Sinne, als dass unserer Körper die Kompetenz besitzt, durch Verweigerung zu signalisieren, dass da grad was in die falsche Richtung läuft. Und genau da ist es dann sinnvoll, hinzusehen, herauszufinden, was das Falsche ausmacht, was das Richtige wäre, das mir entsprechende. Die Intension ist dabei aber eine ganz andere als die herkömmlich konventionell leistungsbezogene. Es geht im Kern nämlich nicht darum, wieder zu funktionieren, sondern darum, das Richtige zu tun. Im körperlich funktionalen mag das das Selbe sein, in der Intension liegen hier Welten. Vereinfacht bildlich gesprochen ist das der Unterschied zwischen „Ich muss doch mit dieser Frau Sex haben können, warum will „Er“ nicht“ und „“Er“ will nicht, also ist sie die Falsche, denn mit der anderen Frau klappt es ganz wunderbar“.
Für mich ist nicht mehr die Frage wichtig, wie ich zu „geilem erfüllenden Sex“ komme, sondern zu dem Sex, der mir entspricht. Dann hat Achtsamkeit eine ganz andere Aufgabe, sie hat etwas mit mir und dem Kennenlernen von mir zu tun, primär mit der Begegnung mit mir selbst und dann erst mit der Begegnungen mit anderen.
Der letzte Satz oben im Zitat ist der entscheidende. Es geht nicht darum, sexuelle Probleme zu lösen u n d zu sich selbst zu finden. Es geht darum, sexuelle Probleme als Zeichen zu verstehen, dass man sexuell nicht bei sich ist. Es geht nicht darum, sexuelle Probleme als Appell zu verstehen, sich selbst zu finden, d a m i t die sexuellen Probleme gelöst werden. Es geht darum, grundsätzlich sich selbst zu finden, und dann zu schauen, ob sexuelle Probleme danach überhaupt noch existent sind.
Diese Sichtweise ist dabei völlig geschlechtsneutral!
@*****low Danke für Deinen Beitrag - Du sprichst mir aus dem Herzen!
Der Germanist Gerrit Confurius sieht Parallelen der heutigen Psychotherapie-, Beratungs- und Coachingszene mit der Kirche. Beide definieren einen Mangel/Problem und postulieren daraus ein "Du sollst". Erzeugen dadurch ein Gefälle zwischen Mangel/Problem und Heilsversprechen und zeigen einen Weg auf wie man den steilen Weg zur Erlösung erreichen kann...
Liegt kein spürbarer Mangel vor dann muss der Durchschnitt durch einen künstlich erzeugten Zwang zur Selbstoptimierung angetrieben werden. Der Buchtitel im Eingangsartikel bringt es pointiert auf den Punkt - es reicht nicht aus ein selbstzufriedener "Lover" zu sein sondern man(n) muss der "Best Lover" werden...
Selbstakzeptanz bedeutet nicht Selbstoptimierung bzw. Überwindung von Fehlern/Problemen.
Im Gegenteil - zur Selbstannahme gehört auch die gelassene Kenntnisnahme der eigenen Ich-Schwäche und dem sich Zugestehens von freiwilligem Sich-Gehenlassen. Gerrit Confurius sieht das als die eigentliche wahre "Ich-Stärke ohne Zwang".
Manche haben mittlerweile festgestellt wie befreiend es sein kann zu sich zu sagen "Ich bin so wie ich bin und das ist gut so". Manch einer sieht sich neben dieser selbstbestimmten Selbstannahme, durch die permanenten Anforderungen (Leistungsdruck) mittlerweile in eine Verweigerungshaltung gedrängt, in dem sie sich nichts mehr sagen lassen wollen - egal von welchem Verkäufer aus einer der "Du sollst - Branchen".
Aus meiner Sicht muss die Psychotherapie-, Beratungs- und Coachingszene aufpassen das sie nicht ähnliche Ablehnung erfährt wie die Kirchen (1970 waren 95% der Deutschen Mitglied einer Kirche, 2022 nur noch 53%). Sie verpasst ihre Möglichkeit durch einen menschenfreundlichen Blick wohlwollend zu ermuntern liebend auf sich zu schauen statt Menschen die bereits unter Leistungsdruck stehen weiteren Leistungsdruck durch Gebote auszusetzen: 1. Übernimm Verantwortung 2. Übe übe übe 3. Achte auf Deinen Körper 4. Hol Dir Unterstützung. (Höher immer rauf auf den Berg hinauf zur Erlösung...)
Männersozialisation erzeugt häufig schon früh einen hohen Performancedruck. Die emotionale Verbiegung hin zu einem immer starken Männerbild (Indianer weinen nicht etc.) kann mitunter ähnliche Folgen erzeugen wie durch emotionale Vernachlässigung.
"So wie man(n) fühlen soll - fühle ich nicht" erzeugt mitunter einen tief verwurzelten Glauben, dass etwas mit sich selbst nicht stimmt, ohne dabei genau zu wissen, was es ist.
Aus meiner Sicht haut der im Einganspost zitierte Artikel genau in diese diffuse Kerbe: Mit Dir stimmt etwas nicht - Du performst nicht richtig! Das ist aus meiner Sicht in seiner Wirkweise perfide, weil er das diffuse Gefühl verstärkt.
Ulrich Clements Ansatz hingegen sehe ich dahingehend als befreiend - die Potenzschwierigkeiten als ganz natürliche körperliche Reaktion, die uns darauf aufmerksam macht auf uns zu gucken, was da in uns oder um uns herum möglicherweise verkehrt läuft. So geht Achtsamkeit...