Zitat von **********rTime:
„
Ich beziehe das Ganze auf das Sexuelle: Hattet ihr das Gefühl, etwas verpasst zu haben, irgendwas nachholen zu wollen, aber ihr wisst nicht was, usw.
Wenngleich du spezifisch nach der Sexualität fragst, kann ich das nicht nur darauf reduzieren. Meine Sexualität war immer und ist nach wie vor ein wichtiger Teil meines erwachsenen Lebens. Glaubt man der Definition der Wikipedia, dann habe ich mit meinen 57 kalendarisch die midlife crises schon hinter mir. Glaube ich meinem damaligen Hausarzt (und das tue ich), dann hatte ich meine midlife crises ab 24. Er hat mir damals erklärt, dass charakteristisch für die midlife crises ist, dass man sein bisheriges Leben überdenkt, seine alten Werte in Frage stellt und die Endlichkeit des eigenen Lebens realisiert. Bei mir war das damals eine Verdachtsdiagnose auf Krebs, die sich nach über 2 Wochen als unbegründet heraus stellte. Die 2 Wochen habe ich wie einen Rausch erlebt, danach kam der Kater, der über 2 Jahre dauerte, Nachwirkungen im positiven Sinne gibt es bis heute. Charakteristisch scheint auch ein Wechsel der Blickrichtung im Leben zu sein, was bei mir in der zweiten Hälfte meiner 40-er der Fall war: Junge Menschen blicken zurück auf ihr Leben und zählen auf, was sie schon alles getan und erlebt haben. Ältere blicken nach vorne und überlegen sich, was sie noch alles tun und erleben wollen. Das gilt für alles und auch für Sex. Ich habe damals eine Phase gehabt, in der mich bewegt hat, dass ich meine S-Seite beim BDSM noch besser erfahren wollte.
Sexuell habe ich bei weitem nicht alles ausprobiert, was es gibt. Aber ich habe alles ausprobiert, was ich probieren wollte und dazu noch ein paar Dinge, über die ich eher zufällig gestolpert bin. Und: Die Entwicklung geht noch immer weiter. Wenn man Shibari nicht nur künstlerisch sieht sondern als Teil von BDSM auch der Sexualität zuordnet, dann habe ich das erst zum Ende der kalendarischen Midlife Crises entdeckt, obwohl ich BDSM seit meiner Jugend lebe. Bei mir lag's bei Shbari allerdings an Corona, im Lockdown gab es nicht viel zu tun und ich hatte noch dieses Buch im Bücherregal zum Thema Bondage und Seile. Dass mich das so begeistert, war für mich eine der größeren Überraschungen meines Lebens.
Damit komme ich wieder zurück zu Deiner Frage: Hatte ich das Gefühl, etwas versäumt zu haben? Die Frage kann ich nicht nur auf Sexualität beziehen. Ich denke, das ist eine Frage des Lebensstils. Etwas versäumen heißt in meinem Verständnis, etwas nicht zu tun oder nicht zu leben, was man leben will, und zwar so lange nicht zu leben, bis es zu spät ist. Ich habe mal im Alter von ca. 40 etwa ein Dutzend Leute Mitte 80 gefragt, welchen Ratschlag sie mir für mein restliches Leben mitgeben würden. Alle habe das gleiche geantwortet: "Wenn du etwas tun willst, dann tue es ganz einfach, denn irgendwann ist es zu spät." Das passt zu der Aussage, dass wir die Dinge am meisten bereuen, die wir nicht tun. Ich habe mir das zu Herzen genommen.
Insofern muss ich deine Frage mit einem klaren "Nein" beantworten. Ich habe nicht das Gefühl, bei meiner Sexualität etwas verpasst zu haben, etwas nachholen zu müssen und - das wiegt m.E. am schwersten - nicht zu wissen, was das sein soll. Bei manchen sexuellen Erfahrungen denke ich mir: Schade, dass ich das nicht schon früher erlebt habe, aber gut, dass ich es überhaupt erleben kann! Qualität ist für mich dabei wichtig, nicht Quantität.
Manche Menschen sagen gerne, dass der Weg das Ziel ist. Das ist aber nur für Menschen ein Ansatz, die kein Ziel haben. Wer sein Ziel nicht kennt, der wird es auch nicht erreichen. Das gilt gerade für Sexualität. Das passt ganz gut zum JC, denn hier gibt man ja Vorlieben an. Hast du keine Vorlieben oder zumindest vage Vorstellungen von dem, was du willst, dann weißt du weder, was du anbieten noch was du suchen kannst.
Gerade beim Sex gilt, dass ich wissen muss, was ich will. Ich muss es auch aussprechen und mich mit meinen Wünschen meinen potentiellen Partnern gegenüber offenbaren können. Das kann ich heute besser als vor 30 Jahren. Ob ich es finde und bekomme oder geben kann, ist eine andere Frage. Ich weiß was ich will und aus diesem Blickwinkel heraus ist heute meine Sexualität noch immer eine große Entdeckungsreise. Ich würde eher sogar sagen, dass ich genussfähiger geworden bin über die Jahre.