Mehr brandheiße Inhalte
zur Gruppe
Erotische Kommunikation
378 Mitglieder
zur Gruppe
Frivol Ausgehen
5811 Mitglieder
zum Thema
Verloren gegangene Liebe zurückgewinnen73
Ich würde gerne eure Tips oder Vorschläge hören, wenn man eurer…
zum Thema
Essen und danach Sex: geht das ?57
Mal ein Gedanke. Öfters lese ich hier im JC, sei es bei Dates oder in…
Das Thema ist für dich interessant? Jetzt JOYclub entdecken

Der Kranich (eine Weihnachtsgeschichte)

****na Frau
1.227 Beiträge
Themenersteller 
Der Kranich (eine Weihnachtsgeschichte)
.
Nebel und dunkle Stille lagen überm Land. Im Traum war Hennrich der Tod erschienen. Halbwach schrie er: „Bin ich noch da?“ Als niemand antwortete, griff er sich an Kopf und Schulter. Ängstlich suchend fand seine rechte Hand das schlagende Herz in der Brust, spürte den Zipper des Reißverschlusses, zog wild daran, um nur ja dem Totensack zu entkommen, aus dem Wohnwagen in den Wald zu eilen, wo sie den erstbesten Baum berührte. Kaltfeuchte Luft füllte die Lungen des alten Mannes.

Wie jeden Morgen ging Hennrich die zweihundert Meter bis zum Fluss, um sich zu waschen. Die Taschenlampe leuchtete den Pfad aus, obgleich er den Wald kannte wie seine Westentasche. Auf dem Weg zum Wasser hatte er hinter ein paar Krüppelkiefern eine Latrine in den sandigen Boden geschaufelt. Den Rest erledigte die Natur. Im Sommer ahmte er den Gesang früher Vögel nach. Ihm gefiel der Gedanke, dass sie ihn als Artgenossen erkannten, ihm erzählten, wovon sie geträumt hatten. Im November sang kein Vogel in der morgendlichen Dämmerung.

Der Taschenlampenkegel streifte das Tier nur kurz. Hennrich meinte, eine Bewegung gesehen und ein Rascheln gehört zu haben. Er hielt den Atem an, stand still und suchte mit der Lampe nach der Stelle. Erneut ein Rascheln, das konnte ein Biber sein, ein Waschbär, Wildschweine, wiewohl die mehr Lärm machen, oft ohne Hemmungen auf ihn zuliefen, weil er sie manchmal mit Äpfeln und Birnen fütterte, wenn er mehr hatte, als er essen konnte. Da! Fast hätte er das Tier gesehen. Wie dumm, dass seine Augen zu schlecht für die Brille waren. Da! Jetzt hatte er den Körper des Tieres im Lichtkegel. Dessen Fell schien lang und zottig zu sein. Wo waren seine Läufe? Er wagte zwei Schritte nach vorn, verlor die Gestalt einen Moment aus dem Fokus, fand sie wieder, ging noch einen Schritt auf das Rascheln zu und erkannte endlich einen Kranich.
„Schsch schsch, ganz ruhig“, brummte Hennrich, „keine Angst, ich tu dir nichts.“ Er zog ein Taschentuch aus der Jacke, legte den Stoff vor die Lampe, um den Vogel nicht zu blenden. Bei jedem Schritt flatterte das Tier wild mit einem Flügel, reckte den Kopf in die Höhe und schrie, dass einem das Blut in den Adern stockte. „Schon gut“, sagte Hennrich, „ich verstehe schon, näher lässt du mich nicht ran.“ Er setzte sich auf einen Holzstumpf und legte das Handtuch wie einen Schal um seinen Hals. Dann fiel das Waschen heute eben aus, die Sache mit dem Kranich würde gewiss länger dauern. Zeit hatte Hennrich im Überfluss. Sollte der Schnitter doch warten, bis er schwarz wurde. Die Erinnerung an den Traum trieb ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
„Warum bist du noch hier?“, rief er dem Kranich zu, „die anderen sind lange fort. Allein findest du den Weg nicht.“ Das Tier sah in seine Richtung, bewegte den Kopf auf und ab, als wollte es dem Alten recht geben. „Hast dich verletzt? Wärst sonst nicht hier im Wald. Die Stoppelfelder haben die deinen schon leergemacht.“ Während das erste Morgenlicht den Wald betrat, überlegte der Alte, ob er für den Kranich in seinem Wohnwagen etwas zu essen hatte. Konnte sein, dass er noch ein paar Angelmaden finden würde. Er erinnerte sich an eine Dose Mais und zwei Kartoffeln.

Als er sich mit der Schüssel und einem Fernglas wieder dem Fluss näherte, sah er das Tier nicht. Schade, dachte Hennrich, ich hätte dir gern beim Essen zugesehen. Doch dann entdeckte er den Kranich, der sich in einen Laubhaufen gelegt hatte und zu schlafen schien. Hennrich blickte auf den Boden, machte Schritt um Schritt an Zweigen vorbei, um raschelndes Laub herum. Bis auf fünf Meter war er an den Vogel herangeschlichen, als der seinen Kopf hob und versuchte aufzustehen. Sein rechter Flügel war merkwürdig abgespreizt. „Hast keine Kraft, was? Schsch. Schau her, ist was Gutes für dich.“ Hennrich stellte den Topf mit dem gekochten Kartoffel-Mais-Gemisch, das er mit einem Regenwurm garniert hatte, auf die Erde. Ohne Eile schob er das Essen mit einem langen Ast bis vor den Schnabel. „Wegen mir musst du nicht aufstehen. Ich esse auch lieber im Sitzen.“ Der Alte zog sich Meter um Meter zurück, nahm auf einem Baumstamm Platz und sah durch sein Fernglas. Der Kranich machte einen langen Hals und pickte zuerst nach dem Regenwurm. Für den Rest brauchte er keine zehn Minuten. Hennrich sah, dass der Vogel mit den Füßen in einem Netz verstrickt war, der rechte Flügel vermutlich gebrochen. Hier kannst du nicht bleiben, dachte er, dann frisst dich der Fuchs. Zum zweiten Mal an diesem Tag ging der Mann den Weg vom Fluss zurück zu seinem Wohnwagen. Zwischenzeitlich war es hell geworden, aber die Herbstsonne schaffte es nicht, die Nebeldecke vom Land zu ziehen. Er fror.

Genau zwanzig Bohnen passten in die Schublade der Kaffeemühle. An normalen Tagen ließ er sich lange Zeit mit dem Mahlen. Ganz fein musste das Mehl sein, damit er möglichst viel Kaffee damit aufbrühen konnte. Bevor er in den Wald gezogen war, hatte er ihn immer mit Milch getrunken, mit dem Löffel die Fettaugen des Kaffees in die Schlieren der Milch gerührt. Seine Erika hatte ihm zwei Stück Zucker auf den Unterteller gelegt. Von dort waren sie auf Hennrichs Zunge gewandert. Mit jedem Schluck aus der Tasse hatten sich kleinen Kristalle gelöst, seinen Mund mit Süße und Wohlbehagen gefüllt. Nach Erikas Tod war Hennrich die Welt entglitten. Jeden Abend hatte er beim Zubettgehen gehofft, der Schnitter würde ihn in ihrer verwaisten Hälfte erwarten. Doch wenn man ihn ruft, stellt der Tod seine Ohren auf Durchzug. Ohne seine Frau hielt der Alte es in der Wohnung nicht aus. Ins Leben der Tochter, ihrem Mann, den Enkeln passte er nicht hinein. „Ich gebe dir mein Auto, wenn du mich in deinem Wald wohnen lässt“, hatte er einem Bauern weit entfernt von seiner alten Heimat vorgeschlagen.
„Nur du? In dem Wohnwagen?“
„Nur ich, ja.“ Hennrich hatte ihm die Kfz-Papiere gegeben, der Bauer den kleinen Wohnwagen mit dem Trecker in den Wald gezogen.
„Wir sind quitt, verstanden?“
„Quitt“, hatte Hennrich geantwortet.

Er schlich sich von hinten an den Kranich, der noch an derselben Stelle lag. Hoffentlich klappt es mit der Decke, dachte Hennrich, zählte bis drei und warf sie über den Vogel. Bevor der mit dem Kopf darunter auftauchen und nach ihm picken konnte, war die Decke verknotet. Der Vogel schrie, aber bewegte sich kaum. Mit dem Taschenmesser schnitt Hennrich das Netz durch, das sich dem Tier um die Beine gewickelt und in einer Wurzel verfangen hatte. „Schsch“, brummte er, „du musst dich leicht machen, sonst schaff ich mit dir den Weg nicht zurück.“ Er griff um den Vogel herum, drückte den Tierkörper gegen seine rechte Hüfte und marschierte los. Als er an der Latrine vorbeikam, hätte er gern eine Pause eingelegt. Das Gehen mit dem schweren Tier strengte ihn an. Unter der grauen Mütze rannen ihm erste Schweißperlen am Hals entlang. „Was du unter Leichtmachen verstehst“, keuchte er, und sein Atem fügte dem Nebel ein paar Wolken hinzu...
.

Fortsetzung folgt am 2. Advent

© Ozeana (2016)
********a157 Frau
71 Beiträge
Dein Schreibstil berührt mich zutiefst.Der Inhalt deiner Geschichte lässt mich so tief eintauchen, das ich es kaum erwarten kann, mehr zu erfahren.
Ich danke Dir.
Kassandra
****na Frau
1.227 Beiträge
Themenersteller 
Der Kranich (2. Teil)
.
Was die Sonne nicht geschafft hatte, war endlich einem eisigen Wind gelungen – der Nebel war fort. Hennrich hatte die Flügel des Kranichs mit einem Gürtel am Körper fixiert, auf dass sich der Vogel beim Flattern im engen Wohnwagen nicht noch den zweiten verletzen oder Habseligkeiten von Regalen und Haken reißen konnte. Er schaute seinem Gast beim Schlafen zu. Das erschöpfte Tier hockte auf dem Boden, wo sonst der Klapptisch stand, unter sich eine Wolldecke. Gegenüber auf dem Bett saß der alte Mann. Ihm klingelten noch die Ohren von der Angst, die der Kranich auf dem Rückweg schreiend abgeworfen hatte. Leichter war er dadurch nicht geworden. „Wie der Tod siehst du nicht aus, aber wenn ich für dich kein Futter finde, keinen Schlafplatz, keinen Arzt... Dich mitzunehmen, wo ich schon Mühe habe, mich durchzubringen!“ Lange drehte und wendete er das Problem in alle Richtungen, bis er endlich eine Lösung sah.

„Was willst du?“
„Mit dir reden.“
„Ich muss in den Stall. Fass dich kurz.“ Uthoff, dem Hennrich vor zwei Jahren sein Auto überlassen hatte, machte mit dem Kopf eine Bewegung Richtung Hausflur und ging voran in die warme Küche.
„Ist deine Frau auch tot?“
„Wieso?“
„Wegen der Unordnung?“
„Ich finde alles. Sag schon, was los ist.“
„Du hast eine alte Scheune westlich vom Wald, wo im Sommer dein Mais stand.“
„Da willst du im Winter bleiben?“
„Nein, im Wohnwagen ist es wärmer.“
„Was dann?“
„Ich habe einen verletzten Kranich gefunden. In der Scheune hätte er Platz und wäre sicher.“ Der Bauer sah den anderen an, suchte in dessen Augen nach Hintergedanken, feinen Spuren einer List.
„Was schert mich dein verletzter Vogel? Ich habe 51 Rinder und 32 Schweine, genug Arbeit.“
„Ich kümmere mich um ihn. Du musst nichts machen, nur die Scheune aufschließen.“
„Und die Verletzung?“
„Rechter Flügel, vielleicht gebrochen. Kennst du dich damit aus?“
„Bin ich Geflügelzüchter? Dein Kranich verdreckt mir doch alles.“
Hennrichs Blick fiel auf Uthoffs Küchenzeile, deren Arbeitsplatte zugestellt war mit leeren Dosen, Tüten, Bierflaschen. Ein halber Hefezopf lag vertrocknet auf dem Brotbrett.
„Ich miste jeden Tag aus“, beruhigte er den Bauern.
„Was ist mit Fressen? Fängst du die Mäuse für das Viech?“
Als hätte er noch gar nicht an Nahrung gedacht, sah er Uthoff überrascht an und kratzte sich am stoppeligen Kinn: „Sie fressen nur Mäuse?“ Der Bauer stemmte die Hände in die Hüften: „Du lebst im Wald und hast keine Ahnung von Viehzeug! Kraniche fressen Mäuse, Insekten, Fisch, Getreide und Gemüse. Hast du das? Für vier Monate?“ Hennrich machte sich klein, sodass er zu Uthoff aufschauen musste: „Aber du?!“ Für eine Sekunde verhakten sich die Blicke der Männer ineinander. Die Nasenflügel des Bauern flatterten, als würden sie Lunte riechen. Hennrichs ahnungslose Miene blieb eingefroren, bis endlich Uthoffs Mund in einem breiten Grinsen auseinanderlief: „Allerdings!“
„Genug, dass es auch für den Kranich reicht?“
„Klar, aber was habe ich davon? Und wer richtet den gebrochenen Flügel?“
„Kennst du einen Tierarzt, den ich fragen könnte?“ Uthoff lachte: „Hol dein Sparbuch aus dem Versteck. Ohne Geld kriegst du vom Metzien gar nichts.“
„Abgemacht! Ich kümmere mich um den Vogel und den Tierarzt. Du gibst die Scheune und das Futter.“ Hennrich streckte Uthoff seine Hand entgegen. Dessen Rechte schlug ein, bevor es ihr der Kopf verbieten konnte.

„Der Nächste bitte.“ Als der alte Mann mit der grauen Mütze und den leeren Händen aufstand, fragte die Helferin: „Wo ist Ihr Tier?“
„Zuhause.“
„Dann hätte ein Anruf genügt. Hausbesuche macht der Doktor am Nachmittag.“
„Ich am Vormittag, das passt gut.“ Damit drückte er sich an der Frau vorbei in den Behandlungsraum.
Dr. Metzien, ein kleiner Mann über Sechzig, hatte im Gegensatz zu Hennrich noch reichlich Haare auf dem Kopf und ein glattgeschabtes Kinn. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern. Dahinter wirkten seine Augen wie die Organspende eines Igels.
„Guten Tag. Hennrich mein Name.“
„Ja und? Wo ist Ihr Hund? Katze? Maus?“
„Kranich, Herr Doktor. Der ist zuhause. Ich habe kein Auto. Ihn herzutragen, hätte ich nicht
geschafft.“
„Geben Sie meiner Helferin Ihre Adresse. Ich komme heute Nachmittag und schaue ihn mir an. Oder ist es eine Flügelverletzung?“
„Der rechte, ja. Vielleicht gebrochen.“
„Muss geröntgt werden, bringen Sie ihn her.“
„Und wenn Sie erstmal schauen und den Kranich in Ihrem Auto mitnehmen, falls wirklich was
gebrochen ist?“
„Hören Sie mal, ich bin kein Taxiunternehmen!“ Der Tierarzt verdrehte die Knopfaugen und wandte sich an die Helferin: „Noch jemand im Wartezimmer?“ Die Frau schüttelte den Kopf. Hennrich ebenfalls, als hätte der Arzt etwas völlig Unverständliches von sich gegeben. Metzien sagte: „Die Sprechstunde ist zu Ende. Wenn Sie dann bitte...“
„Das verstehe ich nicht“, murmelte Hennrich.
„Was verstehen Sie nicht?“
„Der Uthoff, die Bäckerin, meine Nachbarn – alle sprechen ganz begeistert von Ihnen. Das Leid eines Tieres zu verkürzen, liege Ihnen am Herzen, nicht der Geldbeutel wie bei den jungen Kollegen in der Kreisstadt.“
„Schauen Sie, Herr ...?“
„Hennrich.“
„... Hennrich, mir können Sie nicht um den Bart gehen, ich habe nämlich keinen. Verlassen Sie jetzt bitte die Praxis.“

Er hörte ihn schon von Weitem schreien und hoffte, dass es dem Kranich nicht gelungen war, den Gürtel abzustreifen. An die Möglichkeit hatte der Alte erst gedacht, als er in Metziens Wartezimmer sah, wie eine Katze ihrer Transporttasche entkommen war, nachdem sich die Sicherung des Reißverschlusses gelöst hatte. Wenigstens konnte er seinem Gast sofort etwas zu fressen vorlegen und damit zum Schweigen bringen. Die Frau des Fleischers hatte ihm eine Tüte mit Abfällen gegeben. „Zwei Mäuse lege ich Ihnen obenauf. Die hat unser Kater heute Morgen vor die Tür gelegt.“
Trotz des Gürtels war es dem Kranich gelungen aufzustehen. Gläser, Töpfe und Vorräte, auch Hennrichs Kaffeetasse samt Unterteller lagen zerbrochen auf dem Boden. Aus der Strickjacke, die Erika für ihn gemacht hatte, hingen Fäden und Schlaufen heraus. Der Schlafsack war heil geblieben, der Inhalt des Kissens zur Hälfte im Wohnwagen verteilt. „Elefant“, schimpfte der Alte und warf seinen Mantel über den Kopf des Vogels. Halb auf dem Tier liegend, zog er das Ende eines Springseils, das er vor Wochen von einem Sperrmüllhaufen mitgenommen hatte, durch den Gürtel. Dann trug er den Kranich ins Freie und band das andere Ende des Seils an die Wohnwagenkupplung.

Um sich an Erikas Hand zu erinnern, die ihm die beiden Stück Zucker immer erst auf den Unterteller gelegt hatte, wenn die Tasse schon auf dem Tisch stand, brauchte er das Geschirr nicht, denn ihre Altersflecken, den Verlauf der Adern, die Form ihrer Nägel und den Ehering hätte er haargenau aus dem Gedächtnis zeichnen können. Er brauchte das Set, um mit seiner Frau in Kontakt zu treten, um den Henkel der Tasse anzufassen, den sie jeden Tag berührt hatte, den Unterteller, der hunderte Male beim Spülen, Trocknen, Wegräumen durch ihre Hände gegangen war. Hennrich stellte sich vor, dass ihre Finger noch immer diese Gegenstände anfassten, einen Abdruck für ihn hinterließen, zeitversetzt, wenn er schlief oder im Wald war, um Holz zu sammeln. „Ein elender Elefant bist du!“, brummte der Alte, als er dem Kranich die mitgebrachten Mäuse vor die Füße warf.
.

Fortsetzung folgt am 3. Advent.

© Ozeana (2016)
********1983 Mann
353 Beiträge
Wirklich sehr berührend geschrieben. Eine tolle Geschichte!
********a157 Frau
71 Beiträge
Liebe Ozeana.
Und wieder bin ich gleich so tief in deine Geschichte eingetaucht, dass es mir schwer fiel zurück ins Hier und Jetzt zu gelangen.
Vielen, vielen Dank.
Liebe Grüße
Kassandra 🎅🏻👼🤶🏻🌲
****na Frau
1.227 Beiträge
Themenersteller 
Hennrich besaß kein Nähzeug und bei aller Notwendigkeit auch nicht die Geduld, die Daunen aufzusammeln, um sie ins Kopfkissen zurück zu stopfen. Den Kaffee würde er zukünftig aus dem Plastikbecher trinken müssen, das Essen aus dem Topf löffeln. Was brauche ich Geschirr, wenn ich allein bin, dachte er, fürs Erinnern bleibt mir die Strickjacke. Jede Masche war durch Erikas schöne Hände geschlüpft, während er, über die Zeitung gebeugt, nach einer Lösung fürs Kreuzworträtsel gesucht hatte. Er wünschte, er hätte damals aufgesehen, seine Frau von der Seite beobachtet, sie gefragt, ob sie ihr Haar immer zum gleichen Knoten zusammendrehe und welches Lied sie gerade summe.
„Ich stricke sie mit Längsstreifenmuster“, hatte Erika seine Wortsuche unterbrochen, „dann sehe ich sofort, wenn du dicker wirst.“
„Das sagt die Richtige“, hatte Hennrich gespottet, „wie viele Jahre kann ich dich nicht mehr Elfchen nennen, ohne zu lügen? Und wer legt mir immer zwei Stück Zucker auf den Teller zum Kaffee?“
„Aber doch nur, um deinen Willen zu testen“, hatte seine Frau lachend erwidert.
„Und ich dachte, um mich zu verwöhnen!“

Das erste Klopfen überhörte Hennrich, das zweite erschreckte ihn. Noch nie zuvor hatte jemand an seine Wohnwagentür geklopft.
„Sind Sie tatsächlich gekommen“, begrüßte er den Besuch.
„Was ich sage, meine ich auch“, erwiderte Dr. Binder. Die zierliche alte Dame schlüpfte durch die Tür, tastete mit den Augen die Einrichtung ab und fragte. „Habe ich Sie beim Großputz erwischt?“
„So ähnlich“, antwortete Hennrich, „das Chaos hat der dumme Vogel angerichtet. Viel ist nicht ganz geblieben.“
„Ist das Ihr gesamter Hausstand?“
„Nein, im Vorzelt stehen mein Tisch und die Gasflasche zum Kochen, und einen Klappstuhl habe ich auch. Bitte setzen Sie sich. Möchten Sie einen Kaffee? Oder einen Tee?“
„Sehr nett, aber ehrlich gesagt, das ist mir hier zu kalt. Es wird bald dunkel, und wir haben noch Arbeit vor uns.“
„Das geht doch in Ordnung, dass ich ihm den Schnabel zugebunden habe? Die Schreierei hätte ich nicht mehr lange ausgehalten.“
„Gut gemacht, Herr Hennrich. Dann wollen wir mal versuchen, den stummen Schreihals ins Auto zu bekommen.“

Der Alte war so in den Anblick der kleinen dünnen Frau versunken, dass er zwei Mal vergaß, ihr die Abzweigungen zu Uthoffs Scheune anzusagen. Als er sah, dass sie mit einem Renault Berlingo gekommen war, hatte er bezweifelt, dass ihr Kopf übers Lenkrad reichen würde. Beim Einsteigen bemerkte seine Sorge auf dem Fahrersitz drei Keilkissen, die gegeneinander gestapelt waren. „Wie kommen Sie an die Pedale?“, fragte er. „Mit Mühe“, antwortete sie, „aber es geht.“ Sein Glück bei Dr. Binder zu versuchen, war ein Tipp der Fleischersfrau gewesen: „Die ist praktische Ärztin, aber hat mir toll geholfen, meine Kinder zur Welt zu bringen. Ohne sie hätte mein Mann nur noch vier Finger an der Linken. Die kann bestimmt auch Vögel reparieren.“
„Wie lange leben Sie schon im Wald?“
„Zwei Jahre.“
„Wie schaffen Sie das im Winter?“
„Ich bleibe auf den Beinen, solange es hell ist. In Waiddorf gibt es einen Bäcker mit drei Tischen. Da sitze ich an den ganz kalten Tagen. Ein großer Kaffee kostet 80 Cent. Zur Not habe ich eine Gasheizung.“
„Sie laufen bis nach Waiddorf? Das sind über zehn Kilometer.“
„Ja.“
Hennrich hätte der Ärztin auch gerne eine Frage gestellt, aber ihm fiel keine ein. Er sah die Scheune ein paar hundert Meter geradeaus und hoffte, dass der Bauer Wort gehalten und das Tor aufgesperrt hatte. „Da vorne - das ist die Scheune.“ Der Kranich gab einen kehligen Laut von sich.

Nicht nur, dass er sie aufgeschlossen hatte: aus leeren Metallkisten, die für den Verkauf von Holzscheiten benutzt werden, hatte Uthoff ein Kranich-Gehege eingerichtet, etwa 7 mal 5 Meter bis unters Scheunendach hoch, von dem eine Glühbirne hing. Auf dem Boden lag eine dicke Schicht altes Stroh. Um in die Box hinein zu gelangen, musste man eine Holzpalette beiseiteschieben. Neben dem Eingang stand ein Sack Körnermischung. Nicht nur Dr. Binder war erstaunt, auch Hennrich stand der Mund offen. „Mit Strom hatte ich nicht gerechnet“, sagte er und legte die Taschenlampe beiseite. Die Ärztin ging mit ihren beiden Taschen unter die Glühbirne: „Na, dann bringen Sie mir mal unseren Patienten zur Untersuchung.“ Sie spritzte dem Kranich eine leichte Betäubung, bevor sie den Gürtel löste. Zwischen zwei Patienten hatte sie sich im Internet ein entsprechendes Skelett angesehen und über das durchschnittliche Gewicht eines Kranichs erkundigt, um Narkotikum und Schmerzmittel dosieren zu können. „Ach wissen Sie, Herr Hennrich, ein Vogel ist auch nur ein Mensch mit Flügel. Er hat ein Herz, Muskeln und Knochen, muss essen, schlafen, verdauen und leidet Schmerzen wie wir.“ Mit beiden Händen tastete sie jeden Zentimeter der rechten Flügelknochen ab, bis sie eine Verdickung spürte. Sie verglich die entsprechende Stelle mit dem linken Flügel und kam zu dem Schluss, dass sich der Kranich die rechte Elle gebrochen hatte. Ob darüber hinaus auch eine Bänder- und Sehnenzerrung, gar ein Abriss vorlag, konnte sie nicht sagen. „Ich werde ihm den Bruch richten und schienen. Danach fixieren wir die Flügel wieder am Körper. Den Rest erledigt Mutter Natur und Ihre Pflege.“

Der Novembernebel war von vorweihnachtlichem Schnee abgelöst worden. Auf seinem täglichen Weg zur Scheune begegneten Hennrich jetzt manchmal Rehe, die aus dem Wald kamen, um sich von der tiefstehenden Sonne ein wenig wärmen zu lassen. Dem alten Mann war in den vergangenen Tagen der Kranichstall zur zweiten Heimat geworden. Aus Gründen, die ihm verborgen blieben, hatte der Bauer nach einer Woche die Glühbirne durch eine Wärmelampe ersetzt. Daraufhin schmolzen die zehn Kilometer, die der Alte sonst nach Waiddorf gewandert war, zusammen auf drei. Zwar waren die Gespräche mit dem Vogel nicht so unterhaltsam wie die mit der Verkäuferin in der Bäckerei, dennoch hatte sich zwischen ihm und dem Kranich etwas Eigenes entwickelt, eine Verständigung über Augenkontakt und Kopfbewegungen. Das Schreien des Vogels beim Betreten der Scheune fasste der Alte als Begrüßung auf. Ein paar Male hatte er versucht, dem Kranich in dessen Sprache zu antworten, war sich aber bald sicher, der würde ihn niemals als seinesgleichen erkennen.

Heute konnte er sich nicht lange bei dem ihm aufhalten, er hatte Dr. Binder versprochen, nach zwei Wochen von den Fortschritten des Patienten Bericht zu erstatten. „Ja ja, schrei du nur, Großer, dann weiß ich, dass du lebendig bist.“ Der Vogel wich in die andere Ecke seines Terrains aus, als der Mann eintrat, um frisches Futter und Wasser in die Eimer zu füllen. Mit Nase und Augen suchte der Eindringling nach Kot und nahm, was er fand, mit der Schaufel und schüttete es in den dritten Eimer. Sobald der Weg zum Futter frei war, lief der Kranich dorthin. Manchmal fragte sich Hennrich, ob der Gier, mit der jener eine Maus oder einen Regenwurm den langen Hals hinunterschluckte, Freude innewohnte. Er wusste nicht viel von der Körpersprache eines Kranichs, nur, dass sie in der Balz die Flügel spreizen, Männchen und Weibchen miteinander tanzen. Vielleicht war das, was er als tierische Freude nahm, doch nur seine menschliche. Erika hatte sich auch immer gefreut, wenn ihm ihr Essen schmeckte und er sie um Nachschlag bat.
Hose und Pullover, die er vorgestern mit Seife im Fluss gewaschen und zum Trocknen beim Kranich aufgehängt hatte, rochen sauber. Manche Flecken konnte man noch sehen, aber das Flusswasser war so kalt gewesen, dass er beim besten Willen seine Hände nicht länger hatte hineintauchen können. Wichtiger war ohnehin, dass Dr. Binder sich nicht wegen des Geruchs von ihm abwenden würde. Er zog sich rasch um, verabschiedete sich wie immer vom Kranich mit „sei brav, schlaf gut“ und machte sich auf den Weg ins Dorf.

Die Helferin am Empfang verwies ihn ins Wartezimmer, nachdem er erklärt hatte, er sei wegen des Kranichs gekommen. Die junge Frau schien informiert zu sein, lächelte, sagte: „Bitte nehmen Sie noch einen Moment im Wartezimmer Platz, Frau Doktor ist gleich soweit.“ Er war der Einzige im Raum, setzte sich an die Heizung, betrachtete die großen Karikaturen an den Wänden. Die an der rechten Wand zeigte einen Arzt mit einer Kettensäge, das Gesicht des Patienten auf der Liege angstverzerrt. In der Sprechblase über dem Kopf des Mediziners die Frage: „Welcher Fuß schmerzt?“
Humor hat sie, dachte er, und ein Herz. Seines, schien ihm, schlug schneller in den letzten Minuten. „Ganz ruhig, Herz, wir sind nicht wegen dir hier.“ Er legte die kalten Hände auf die Heizung. Nach einer Weile hob er den rechten Arm, schnupperte unter der Achsel. Zwei Mal fuhr er sich durchs dichte Haar, spürte, dass es fettig war, setzte trotz der Wärme die Mütze auf. Etwa fünf Minuten ging er im Wartezimmer hin und her, nahm wieder Platz, blätterte in einer Zeitschrift für Frauen, räusperte sich, zog den Pullover über den Hosenbund, bis Frau Dr. Binder endlich den Kopf hereinsteckte: „Hallo Herr Hennrich, kommen Sie bitte durch.“ Mit schnellen kurzen Schritten ging sie auf eine Tür mit der Aufschrift „Privat“ zu. Er sah sie erstaunt an, die kleine Frau nickte energisch. Als er in den Raum eintrat, traute er seinen Augen nicht ...
.

Der letzte Teil folgt nächsten Sonntag.
********1983 Mann
353 Beiträge
Wie jeden Sonntag eine ganz wunderbare Geschichte. Ich habe mich schon richtig darauf gefreut. Vielen lieben Dank @****na und dir einen wunderschönen dritten Advent!
********a157 Frau
71 Beiträge
So wunderbar geschrieben.. ich sehe es als Geschenk deine Geschichte lesen zu dürfen. Und wieder ein ♥️- liches Dankeschön...
Kassandra 🙋🏼‍♀️🌲🤶🏻🎅🏻
****na Frau
1.227 Beiträge
Themenersteller 
Der Kranich (letzter Teil)
.
„Oder haben Sie schon zu Mittag gegessen?“, fragte die kleine Frau und legte den Kittel ab. Am runden Tisch saßen die beiden Helferinnen. Die jüngere lächelte unsicher, die ältere vom Empfang wies mit der Hand auf den Stuhl neben sich. „In der Adventszeit essen wir immer gemeinsam“, erklärte die Ärztin, „das hat mein Vater schon so gehalten“. Ihre rechte Hand griff nach der Kelle, die linke streckte sich ihm entgegen. Hennrich gab ihr seinen Teller, freute sich, dass Dr. Binder ihm reichlich Gulasch zu den Kartoffeln auftat. „Was waren Sie von Beruf?“, eröffnete sie das Gespräch. Eilig schluckte er ein Stück Fleisch hinunter: „Buchhalter.“
„Da mussten Sie es ganz genau nehmen, nicht?“
„Auf den Pfennig, dann den Cent.“ Für einen Moment wanderten die Blicke der Anwesenden über den Tisch, wo sie sich abwechselnd im Licht der brennenden Kerze trafen. „Und wie geht es unserem tierischen Patienten?“, fragte die Ärztin. „Nach zehn Tagen habe ich die Schienen und den Gürtel gelöst, wie Sie gesagt haben. Er flattert und frisst viel.“ Die Helferin zu seiner Linken wollte wissen, ob der Kranich nach ihm picke, wie er rieche und ob Hennrich das Geschrei nicht durch und durch gehe. „Ja, doch“, sagte er, „das Schreien ist schon laut, aber so nah lässt er mich nicht ran, dass ich ihn riechen kann oder von ihm gepickt werde.“ Ihre jüngere Kollegin meinte: „Der arme Vogel vermisst bestimmt seine Artgenossen.“
„Immerhin lebt er noch“, sagte die Ärztin, „und er hat Menschen, die sich um ihn kümmern“.
Als Hennrich sah, dass die Frauen mit Essen fertig waren, schluckte er schnell die letzten Bissen hinunter und kippte ein halbes Glas Wasser hinterher. Sicher war vor der Nachmittagssprechstunde noch einiges herzurichten und vorzubereiten. „Keine Eile, Herr Hennrich“, sagte Frau Binder, „es gibt auch noch Nachtisch“. Sie lächelte. Der Kerzenschein zeichnete ihr Gesicht ganz weich, doch es war ihre Stimme, die ihn durcheinanderbrachte. Deren Grundton erinnerte ihn an Erikas Fürsorglichkeit, die er am meisten vermisste.
Beim Kaffee teilte die Ärztin mit, dass sie vor der Nachmittagssprechstunde noch einen Hausbesuch machen müsse, und bat Hennrich, sie zu begleiten. Obgleich von der Bitte überrumpelt, mochte er sie nicht ablehnen, nachdem man ihn gerade aufs Beste bewirtet hatte.
Als sie vor dem Berlingo standen, gab sie ihm die Autoschlüssel und ging zur Beifahrertür. „Ist aber lange her, dass ich gefahren bin“, sagte er. „Selbst wenn Sie dement wären, Ihre Hände und Füße erinnern sich.“

Der Winter führte ein strenges Regiment, die Temperaturen lagen konstant unter null Grad, der Schnee tonnenweise auf Häusern, Wegen, Wäldern und Freiflächen. Nur noch selten bekam man Rehe oder Hasen zu Gesicht. Die Tiere hielten sich im Wald auf, wo das Scharren und Graben nach Moos und Eicheln erfolgreicher war. Es dauerte nicht lange, bis Hennrich wusste, wohin ihn Dr. Binder dirigierte. Er kannte alle Routen zu seiner Behausung. Sie hieß ihn auf der Straße vor dem Pfad anhalten, den er sich freigeschaufelt hatte.
„Wir sind ja zu zweit, das schaffen wir mit einem Gang.“
„Was denn?“, fragte der Alte.
„Diese Sachen in Ihren Wohnwagen bringen.“ Sie deutete auf vier große Plastiktaschen im Kofferraum, nahm zwei davon und machte sich auf den Weg. Hennrich verstand nur wenig von dem, was die vorausstapfende Ärztin in die kalte Luft posaunte. Beim Anblick der weißen Wortwolken fühlte er sich an alte Indianerfilme erinnert, daran, dass die Abstände, in denen die Wolken aufstiegen, wichtiger waren als ihre Form, denn wie beim Morsen ergaben diese Zeichen nur Sinn in Verbindung mit einem Intervall.

Allen Dingen, die sie in die Taschen gepackt hatte, haftete eine praktische Erwägung oder Fürsorglichkeit an: von den Batterien, dem gaskocherfähigen Geschirr über die schafwollene Matratzenauflage, einem neuen Kissen, dem Instantkaffee und dem Pumpernickel, bis hin zur Erste-Hilfe-Box und dem Kräutertee erkannte der alte Mann ein kluges Herz. Auf die Frage, wie er sich dafür bedanken könne, hatte die kleine Frau den Kopf geschüttelt, im Hinausgehen gesagt: „Sie helfen dem Kranich, ich helfe Ihnen. Warum machen wir das? Weil wir es können!“ Er wollte sie zu ihrem Wagen bringen, aber auch das hatte sie abgelehnt. Ihre Atemwolken waren auf dem Rückweg kleiner, die Abstände größer.

„Noch zwei Tage bis Weihnachten, du Krakele, bis dahin bring ich dir kein Amsellied mehr bei, was?“ Hennrich war gleich nach dem Morgenkaffee zur Scheune gewandert. Die dreifache Zeit hatte er gebraucht. Seit Tagen fiel der Schnee in großen Flocken. Ohne Schaufel wäre er nicht zur Holztür gelangt, die halbhoch zugeschneit war. Unter den Armen, am Rücken lief ihm von der Anstrengung der Schweiß hinunter, Schuhe und Füße waren schneenass, er spürte sie nicht mehr. Bis zu den Knien hatte sich die Feuchtigkeit in der Cordhose nach oben gezogen. Eilig richtete er dem schreienden Kranich das Futter her und das Wasser, das er im Rucksack mitgebracht hatte. Er zog die Strümpfe aus, auch seine Jacke und den Pullover. Die nassen Sachen drapierte er über zwei Metallkisten, die ihm unter der Wärmelampe als Trockengerüst dienten. Dann setzte er sich auf einen Ballen Stroh, den er ins Kranichgehege unter die Lampe gezogen hatte, und ärgerte sich, dass er zwar eine Thermoskanne mit Tee mitgebracht hatte, aber keine trockene Kleidung zum Wechseln.
Der Kranich sah den Alten neugierig aus einer Ecke des Raumes an. Er spreizte die Flügel, hob und senkte sie, als wollte er sagen: Schau her, alter Mann, wie ich vor Kraft strotze! Das Futter und die Pflege schienen dem Tier gut getan zu haben. „Ich wärme mich nur einen Moment, du bekommst deinen Platz bald wieder zurück.“ Der Vogel plusterte sein Gefieder auf, außerhalb des Wärmelichtkegels war es eisig kalt. In den Schreipausen hörte Hennrich das Ächzen der Dachbalken. Er trank den Tee, freute sich über die Wärme, die ihm durch den Hals in den Bauch lief. Alle paar Minuten wendete er seine feuchte Kleidung und rieb sich die Arme und die Brust, die in einem dünnen Unterziehpulli steckten. Vom Kranich lautstark kommentiert, riss er den Strohballen auseinander, baute sich eine Art Nest daraus und deckte Stroh über die kalten Beine. So saß er, angelehnt an die Metallkiste, und hoffte, dass ihm bald wohlig warm werden würde.

Im Traum erschien ihm Erika. Sie war ärgerlich, dass er keine Strümpfe trug, und schimpfte mit ihm. Er deutete nach draußen, zeigte ihr den meterhohen Schnee und die tiefen Löcher, die seine Schritte hinterlassen hatten. Erika verstand nun, warum er die nassen Socken abgelegt hatte. Sie zog fünf Haarnadeln aus ihrem Dutt, um ihm neue zu machen. Die Wolle kam von seiner Strickjacke, die nicht mehr im Wohnwagen, sondern hinter ihm an der Holzkiste hing. Hennrich wollte seiner Frau sagen, sie solle aufhören mit Stricken, damit er die Jacke nicht auch noch verliere, aber aus seinem Mund kamen keine Töne, obwohl er die Lippen bewegte. So tief schlief der alte Mann, dass er nicht spürte, wie schnell sein Körper nach dem Stromausfall auskühlte. Zwar träumte er, dass Erikas eilig angefertigte Strümpfe nicht wärmten, aber wegen der Liebe, die er in ihrer Anwesenheit empfand, war ihm die Kälte egal. Von seiner Frau ging eine Wärme aus, die zwar nicht den Körper, dafür seine Seele ganz und gar erfasste. Dem Kranich dauerte Hennrichs Schlaf längst zu lange. Er fror erbärmlich und arbeitete sich Schritt für Schritt in die Mitte des stockdunklen Raumes, setzte sich dort auf den Menschen, weil der jetzt die einzige Wärmequelle war und sich nicht mehr bewegte.

Auch das Dorf, seit Wochen mit Lichterketten und seltsamen blau-leuchtenden Rentier-Silhouetten erhellt, lag im Dunklen und fror. Computer und elektrische Eisenbahnen, die Registrierkassen im Supermarkt, Milchmelkanlagen, Dr. Binders Ultraschall und alle Heizungsanlagen versagten den Dienst. Die Schornsteine, aus denen sonst erst gegen Abend der Geruch von Kaminholz in die Kälte nach oben stieg, qualmten schon nach einer halben Stunde wie bei einer Papstwahl. In den Häusern hinter schwarzen Fenstern spukten mit Kerzen bewehrte Gespenster, suchten mit Taschenlampen ausgerüstete Einbrecher nach Mobiltelefonen, Batterien, noch mehr Kerzen und warmer Kleidung. Manch einer stieß sich den Kopf oder wurde wie Bauer Uthoff von einer ängstlichen Kuh angerempelt und umgeworfen.
Nachdem die Ärztin ihre Patienten und Helferinnen nach Hause geschickt hatte, dachte sie an Hennrich. Von allen war er der Einzige, der immer ohne Strom lebte und von dessen Ausfall nicht betroffen war. Sie steckte die restlichen Batterien für ihre Taschenlampe, Streichhölzer und Adventskerzen in den Arztkoffer. Es konnte nicht lange dauern, bis man sie zu einem Notfall rufen würde. Nachdem Uthoff die Notstromaggregate für seine Ställe in Betrieb genommen und den Kamin im Wohnhaus angefeuert hatte, dachte auch er an Hennrich, diesen komischen Vogel! „Schockschwerenot! Die Wärmelampe!“ Im Gegensatz zu Menschen lagen dem Bauern Tiere sehr wohl am Herzen. Solange sie am Leben waren, sollte es ein gutes sein. Schnell zog er Jacke, Schal, Mütze und die gefütterten Stiefel an. Seile und Decken, Schaufel und Sand lagen im Winter immer im Jeep.

Dr. Binder hatte Hennrichs Wohnwagen verlassen vorgefunden und war weiter zur Scheune gefahren. Aus dem für einen Traktor befahrbaren Weg war seit ihrem letzten Besuch eine mannsbreit-schmale Gasse zwischen hüfthohen Schneewänden geworden. Vielleicht sitzt er ja im Café in Waiddorf, dachte sie, stapfte aber trotzdem los Richtung Scheune. Nach wenigen Schritten wurde sie vom Kegel einer Taschenlampe überholt, hörte ein eiliges Schnaufen und erwartete im Rumdrehen Hennrich zu sehen. Stattdessen leuchtete ihre Lampe ins Gesicht von Herrn Uthoff. „Sie wollen auch nach Herrn Hennrich schauen?“, fragte sie ihn. „Nein, nach dem Vogel wegen der Wärmelampe und dem Stromausfall.“ Uthoff ging nun vor der kleinen Frau. Wie selbstverständlich hatte er ihr die Arzttasche abgenommen und sich die Decken unter die Arme geklemmt.

Vor vier Stunden war der alte Mann unterm Heu eingeschlafen. Dreieinhalb Stunden hatte der Vogel einen Teil seines bewusstlosen Körpers halbwegs warmgehalten. Die Kegel der Taschenlampen erschreckten das Tier. Es flatterte auf, schrie, spreizte drohend seine Flügel, aber die beiden Menschen kamen nicht in die Ecke, in die er flüchtete. Die Ärztin kauerte sich über Hennrich, Uthoff hielt Taschenlampen in beiden Händen, richtete sie dorthin, wo Dr. Binder das Licht haben wollte. Er verstand nicht viel von dem, was die Ärztin sagte - irgendwas mit kaum noch Puls, Atmung, Erfrierungen, Bewusstlosigkeit, Notfall. Sie wies ihn an, die Decken und weiteres Stroh über den Patienten zu legen, während sie einen Rettungshubschrauber anfordern würde.
Eine weitere Stunde mussten sie in der Scheune warten, bis sie die Rotoren des Helikopters in der Ferne hörten. Uthoff rannte zur Straße, wo der Heli gelandet war, und mit den Sanitätern zurück zum Gebäude. Sie wickelten Hennrich in Goldfolie, überbrüllten das Kreißen des Kranichs, wollten wissen, ob es noch mehr Verletzte gab. Dr. Binder begleitete die Männer, informierte sie im Laufen über ihre Notfallmaßnahmen, kreislaufstabilisierende Medikamente, die sie gespritzt hatte, Puls und Blutdruckdaten.

„Wird er es schaffen?“, fragte Uthoff die Ärztin, als sie Spritzen, leere Verpackungen und Instrumente unterm Leuchtkegel der Taschenlampe zusammensuchte. „Das wäre ein Wunder“, antwortete sie. Im selben Moment kam der Strom zurück. Sie sahen den Pullover, die Schuhe und Socken auf den Metallkisten. Uthoff reichte ihr die Sachen, trug die Kisten aus dem Gehege, breitete dem Vogel das Stroh unter der Lampe aus. „Wenn Hennrich überlebt, braucht er neue Socken“, sagte Uthoff und deutete auf die Löcher in den Strümpfen. Frau Binder lächelte: „Ist lange her, dass ich Socken gestrickt habe, aber meine Hände werden sich erinnern.“
.

© Ozeana (2016)


"Sie helfen dem Kranich, ich helfe Ihnen. Warum machen wir das? Weil wir es können!“ - die Essenz von Weihnachten.

Eine wunderschöne Geschichte, Ozeana *blumenschenk*
********1983 Mann
353 Beiträge
Liebe Ozeana! Vielen lieben Dank für diese Geschichte. Ich habe mich schon die ganzen letzten Tage sehr auf den Abschluss der Geschichte gefreut, hatte aber erst heute die Möglichkeit deinen Beitrag zu lesen. Wunderschön und mit Abstand einer der schönsten Geschichten hier. Toll geschrieben wie immer. Und das Lied ist auch klasse.

Dir ein wunderschönes Weihnachtsfest!
*******nic Mann
388 Beiträge
Manchmal wird das Schwierige ganz einfach, so wie das Einfache manchmal ganz schwierig wird.
Manchmal ist das Einfache Luxus und Gefahr zugleich.
Und manchmal kann in der Gegenwart aus Erinnerung Zukunft werden. Vielleicht.

Du hast aus leisen Worten eine kleine Geschichte gehäkelt und in die Welt entlassen, so wie man es für Deinen Kranich hofft.

Es lohnt sich, das niederländische Original "Kraanvogels" anzuhören, das für mein Gefühl die Stimmung noch ein wenig intensiver transportiert.

Thomas
Anmelden und mitreden
Du willst mitdiskutieren?
Werde kostenlos Mitglied, um mit anderen über heiße Themen zu diskutieren oder deine eigene Frage zu stellen.