Der Kranich (eine Weihnachtsgeschichte)
.Nebel und dunkle Stille lagen überm Land. Im Traum war Hennrich der Tod erschienen. Halbwach schrie er: „Bin ich noch da?“ Als niemand antwortete, griff er sich an Kopf und Schulter. Ängstlich suchend fand seine rechte Hand das schlagende Herz in der Brust, spürte den Zipper des Reißverschlusses, zog wild daran, um nur ja dem Totensack zu entkommen, aus dem Wohnwagen in den Wald zu eilen, wo sie den erstbesten Baum berührte. Kaltfeuchte Luft füllte die Lungen des alten Mannes.
Wie jeden Morgen ging Hennrich die zweihundert Meter bis zum Fluss, um sich zu waschen. Die Taschenlampe leuchtete den Pfad aus, obgleich er den Wald kannte wie seine Westentasche. Auf dem Weg zum Wasser hatte er hinter ein paar Krüppelkiefern eine Latrine in den sandigen Boden geschaufelt. Den Rest erledigte die Natur. Im Sommer ahmte er den Gesang früher Vögel nach. Ihm gefiel der Gedanke, dass sie ihn als Artgenossen erkannten, ihm erzählten, wovon sie geträumt hatten. Im November sang kein Vogel in der morgendlichen Dämmerung.
Der Taschenlampenkegel streifte das Tier nur kurz. Hennrich meinte, eine Bewegung gesehen und ein Rascheln gehört zu haben. Er hielt den Atem an, stand still und suchte mit der Lampe nach der Stelle. Erneut ein Rascheln, das konnte ein Biber sein, ein Waschbär, Wildschweine, wiewohl die mehr Lärm machen, oft ohne Hemmungen auf ihn zuliefen, weil er sie manchmal mit Äpfeln und Birnen fütterte, wenn er mehr hatte, als er essen konnte. Da! Fast hätte er das Tier gesehen. Wie dumm, dass seine Augen zu schlecht für die Brille waren. Da! Jetzt hatte er den Körper des Tieres im Lichtkegel. Dessen Fell schien lang und zottig zu sein. Wo waren seine Läufe? Er wagte zwei Schritte nach vorn, verlor die Gestalt einen Moment aus dem Fokus, fand sie wieder, ging noch einen Schritt auf das Rascheln zu und erkannte endlich einen Kranich.
„Schsch schsch, ganz ruhig“, brummte Hennrich, „keine Angst, ich tu dir nichts.“ Er zog ein Taschentuch aus der Jacke, legte den Stoff vor die Lampe, um den Vogel nicht zu blenden. Bei jedem Schritt flatterte das Tier wild mit einem Flügel, reckte den Kopf in die Höhe und schrie, dass einem das Blut in den Adern stockte. „Schon gut“, sagte Hennrich, „ich verstehe schon, näher lässt du mich nicht ran.“ Er setzte sich auf einen Holzstumpf und legte das Handtuch wie einen Schal um seinen Hals. Dann fiel das Waschen heute eben aus, die Sache mit dem Kranich würde gewiss länger dauern. Zeit hatte Hennrich im Überfluss. Sollte der Schnitter doch warten, bis er schwarz wurde. Die Erinnerung an den Traum trieb ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
„Warum bist du noch hier?“, rief er dem Kranich zu, „die anderen sind lange fort. Allein findest du den Weg nicht.“ Das Tier sah in seine Richtung, bewegte den Kopf auf und ab, als wollte es dem Alten recht geben. „Hast dich verletzt? Wärst sonst nicht hier im Wald. Die Stoppelfelder haben die deinen schon leergemacht.“ Während das erste Morgenlicht den Wald betrat, überlegte der Alte, ob er für den Kranich in seinem Wohnwagen etwas zu essen hatte. Konnte sein, dass er noch ein paar Angelmaden finden würde. Er erinnerte sich an eine Dose Mais und zwei Kartoffeln.
Als er sich mit der Schüssel und einem Fernglas wieder dem Fluss näherte, sah er das Tier nicht. Schade, dachte Hennrich, ich hätte dir gern beim Essen zugesehen. Doch dann entdeckte er den Kranich, der sich in einen Laubhaufen gelegt hatte und zu schlafen schien. Hennrich blickte auf den Boden, machte Schritt um Schritt an Zweigen vorbei, um raschelndes Laub herum. Bis auf fünf Meter war er an den Vogel herangeschlichen, als der seinen Kopf hob und versuchte aufzustehen. Sein rechter Flügel war merkwürdig abgespreizt. „Hast keine Kraft, was? Schsch. Schau her, ist was Gutes für dich.“ Hennrich stellte den Topf mit dem gekochten Kartoffel-Mais-Gemisch, das er mit einem Regenwurm garniert hatte, auf die Erde. Ohne Eile schob er das Essen mit einem langen Ast bis vor den Schnabel. „Wegen mir musst du nicht aufstehen. Ich esse auch lieber im Sitzen.“ Der Alte zog sich Meter um Meter zurück, nahm auf einem Baumstamm Platz und sah durch sein Fernglas. Der Kranich machte einen langen Hals und pickte zuerst nach dem Regenwurm. Für den Rest brauchte er keine zehn Minuten. Hennrich sah, dass der Vogel mit den Füßen in einem Netz verstrickt war, der rechte Flügel vermutlich gebrochen. Hier kannst du nicht bleiben, dachte er, dann frisst dich der Fuchs. Zum zweiten Mal an diesem Tag ging der Mann den Weg vom Fluss zurück zu seinem Wohnwagen. Zwischenzeitlich war es hell geworden, aber die Herbstsonne schaffte es nicht, die Nebeldecke vom Land zu ziehen. Er fror.
Genau zwanzig Bohnen passten in die Schublade der Kaffeemühle. An normalen Tagen ließ er sich lange Zeit mit dem Mahlen. Ganz fein musste das Mehl sein, damit er möglichst viel Kaffee damit aufbrühen konnte. Bevor er in den Wald gezogen war, hatte er ihn immer mit Milch getrunken, mit dem Löffel die Fettaugen des Kaffees in die Schlieren der Milch gerührt. Seine Erika hatte ihm zwei Stück Zucker auf den Unterteller gelegt. Von dort waren sie auf Hennrichs Zunge gewandert. Mit jedem Schluck aus der Tasse hatten sich kleinen Kristalle gelöst, seinen Mund mit Süße und Wohlbehagen gefüllt. Nach Erikas Tod war Hennrich die Welt entglitten. Jeden Abend hatte er beim Zubettgehen gehofft, der Schnitter würde ihn in ihrer verwaisten Hälfte erwarten. Doch wenn man ihn ruft, stellt der Tod seine Ohren auf Durchzug. Ohne seine Frau hielt der Alte es in der Wohnung nicht aus. Ins Leben der Tochter, ihrem Mann, den Enkeln passte er nicht hinein. „Ich gebe dir mein Auto, wenn du mich in deinem Wald wohnen lässt“, hatte er einem Bauern weit entfernt von seiner alten Heimat vorgeschlagen.
„Nur du? In dem Wohnwagen?“
„Nur ich, ja.“ Hennrich hatte ihm die Kfz-Papiere gegeben, der Bauer den kleinen Wohnwagen mit dem Trecker in den Wald gezogen.
„Wir sind quitt, verstanden?“
„Quitt“, hatte Hennrich geantwortet.
Er schlich sich von hinten an den Kranich, der noch an derselben Stelle lag. Hoffentlich klappt es mit der Decke, dachte Hennrich, zählte bis drei und warf sie über den Vogel. Bevor der mit dem Kopf darunter auftauchen und nach ihm picken konnte, war die Decke verknotet. Der Vogel schrie, aber bewegte sich kaum. Mit dem Taschenmesser schnitt Hennrich das Netz durch, das sich dem Tier um die Beine gewickelt und in einer Wurzel verfangen hatte. „Schsch“, brummte er, „du musst dich leicht machen, sonst schaff ich mit dir den Weg nicht zurück.“ Er griff um den Vogel herum, drückte den Tierkörper gegen seine rechte Hüfte und marschierte los. Als er an der Latrine vorbeikam, hätte er gern eine Pause eingelegt. Das Gehen mit dem schweren Tier strengte ihn an. Unter der grauen Mütze rannen ihm erste Schweißperlen am Hals entlang. „Was du unter Leichtmachen verstehst“, keuchte er, und sein Atem fügte dem Nebel ein paar Wolken hinzu...
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Fortsetzung folgt am 2. Advent
© Ozeana (2016)