Träumerei
Die Nacht hält uns fest. Mich und mein Traumgespinst. Eine tiefe Nacht. Das Lagerfeuer brennt am Rand des sacht abfallenden Tals. Ab und zu stehe ich auf und füttere es mit neuen Scheiten. Die Flammen züngeln unruhig, werden vom Wind immer wieder niedergedrückt. Golden und trocken hat der Oktober hier im Altai begonnen. Nach Kanada hätte ich gerne einmal gewollt. Aber um ein Visum zu bekommen, ist meine Zeit zu knapp.
Gedankensplitter stören mein Wohlbehagen: Die Tracht Prügel von meinem Vater, weil verdammt noch mal Kanada für alle Ewigkeit in Auschwitz ist! Ein verbotenes Land. Nur nichtsnutzige Söhne wollen dahin, nur Vollidioten, die keine Ahnung haben! Eine Schande! - Zur Versöhnung unter Tränen gab's dann immer Wodka ... als 12, 13 war.
Nebel hat sich über die weitläufigen Senken gelegt. Es ist bitterkalt. Als der Morgen graut, staune ich: Die Berge am Horizont sind mit weißen Kappen verziert! Blau, klar, glitzernd. Wie wunderschön ihnen der Schnee steht; makellos rein recken sie sich zur flach stehenden Sonne. Was ist hinter diesen Bergen? Fängt dort etwa die Unendlichkeit an? Könnte ich von dort erkennen, was im Innersten dieses Leben zusammenhält?
Auf der Oberfläche der gefrorenen Erde bin ich selbst zu Eis geworden. Mein Körper ist so alt gewroden, versagt mir den Dienst - doch meine Seele ist immer noch jung. Aber nutzt das irgendwas?
Mein Kopf schwankt müde. Zu schwer von Trübsal. Von Reue. Von Bildern ungenutzter Möglichkeiten.
Mein Schritt ist genauso wenig mehr raumgreifend wie meine Gedanken. Es ist als hielten Fußschellen meine Beine fest und Bewusstseinstrübungen meine Gedanken. Wie gerne würde ich einfach hier über und durch die Steppe rennen! Wie gerne ins Leben stürmen! Dann würden noch einmal Musik, Poesie, Liebe meinen Weg kreuzen!
Aber die Ketten des Alters fesseln mich und lassen mich kleinlaut in den Schlafssack verkrümmeln. In meinem Kopf, allein, beim Klirren der Ketten der zentnerschweren Arme und Beine, dem Ziehen und Stechen in den Gliedern, den quetschenden Schmerzen im Bauch, wie ein Sträfling wandere ich in Tagträumen ... Schritt für Schritt, leer, dunkel, einsam.
Gegenüber der Sonne leuchtet in mattem, weißem Licht der Mond im Steppenwind. Er steigt und fällt bei jeder Bö. Meine Augen schwerzen und tränen. Trotz Feuer und Schlafsack wird mir nicht mehr warm.
Die Kälte und der Schnee haben mich nicht wirklich überrascht. Das Eis habe ich schon immer in mir mit mir rumgetragen. Wird mir behaglicher, wenn ich an Sabine, Petra, Anna und wie sie alle hießen, denke?
Träumereien!
Besteht nicht mindestens die Hälfte des Lebens aus überschwenglichen Träumen von und mit Frauen? Verlockend und erfüllend? Spannend und erlösend?
Zumindest machen solche Träume das Leben erst süß. Und - so will mir jetzt und hier scheinen - gerade weil sich nicht alles erfüllt, was man träumt, ist das Leben so teuer und hat seinen eigentlichen Motor.
Gibt es noch irgendwo eine, die auf mich wartet? Noch eine, die an mich denkt?
Gelten nicht alle diese weiblich besetzten Träume nicht einer besonderen, sondern allen Frauen insgesamt, dem Weiblichen an sich? Jede einzelne eine Art Sternschnuppe aus dem Paradies mit einer Gewähr, dass es das Paradies tatsächlich gibt?
Könnte man sich mit nur einer, nur einer im Glück treffen?
Na ja, nein natürlich. Solche Frauen aus Fleisch und Blut gibt es nicht. Sind Traumgespinste. Sind Sehnsucht nach dem verloren gegangenen Paradies. Trugbilder. Wolken in Frauengestalt ... um Männer entweder in den Wahnsinn zu treiben oder mit Stumpf und Stiel zu zerstören. - Wow, welche Kraft eines idealistischen Overkills!?
Dennoch: Was sonst ist Leben? - Etwa Geld verdienen und doch nicht über spießige Manifestationen von Haus, Garten, Auto, Kinder und Hund hinauskommen? - Neee ...
Frauen hingegen als das Weibliche charakterisiert, sind nicht nur Ergänzung im Sinne von Stereotypen, sondern ... hmmm, jetzt wird's schwierig ... schwer ...
Wer jemals geliebt hat, weiß wovon ich rede - aber das taugt als Erkenntnis rein gar nichts ...
Wer also jemals geliebt hat, weiß, dass er die geliebte Frau (da ich nun mal ein Mann bin, spreche ich aus dieser Perspektive) niemals besitzen kann, niemals vollständig verstehen kann - erst recht nicht, wenn man sie den Armen hält, küsst, liebkost (und noch Animalischeres), dass man sie nie wirklich hat, auch wenn sie einem ewige Liebe schwört ...
Solche Aussichten nähren Hoffnung, aber auch Furcht ... Leben und Lieben ist wohl doch nichts für Angsthasen ... solche Aussichten nähren sogar jetzt noch meine Träumereien.
Der Weg hier auf dieses Plateau im Altai war lang und mühsam. Ich schiebe meine Hand durch den Kragen auf meine Brust, die ist kalt und feucht. Eingefallen und schmächtig ist sie geworden. Es nützt nichts, ich muss aufstehen. Ein Stück Brot spucke ich aus, meine Zähne schmerzen beim Kauen.
Ich ziehe langsam weiter. Bin ganz von Kräften gekommen. Wie alt bin ich?
Es wird wärmer. Die mit Schnee vermischte Erde schmatzt unter meinen Stiefeln auf meinem Weg ohne richtiges Ziel, aber in ansonsten menschenleerer und darum herrlicher Landschaft.