Ein Moment der Klarheit
Das Gefühl von Leere und Kälte vertiefte sich.
Sina nickte schließlich. „Ankuscheln wäre gut“, sagte sie so sachlich und neutral, wie sie konnte. Es schien etwas zu sein, was sie jetzt brauchte, um gegen die beschämende Schwäche in ihren Beinen anzugehen. Sie fühlte sich, als wäre sie nicht in der Lage, wieder aufzustehen. Die Muskeln an Po und Becken weigerten sich, ihre Pflicht zu tun, den Rücken zu stützen und die Beine beim Laufen festzuhalten.
Der Fremde öffnete die Arme. Sina konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Innerlich verspürte sie etwas, das sich beinah wie Hass anfühlte. So hatte es nicht laufen sollen. Am Ende war es doch Sina, die siegte und sich über die erhob, die sie zu beherrschen glaubten! Sie wollte doch stark sein. Sie musste stark sein.
Wenn sie nicht mehr stark war, konnten fürchterliche Dinge passieren.
Doch jetzt war da diese Schwäche, diese Leere und Kälte und die Tränen, die ganz dicht unter der Oberfläche lauerten und darauf warteten, aus ihr herauszubrechen. Wenn sie noch länger allein in ihrer Ecke kauern würde, würde sie zu weinen beginnen. Wenn sie aufstand und den Raum verließ, um wieder zu ihrer Alltagskleidung zu finden, würde sie zu weinen beginnen.
So war es nicht geplant gewesen.
Vorsichtig rutschte Sina auf dem Sofa neben den Mann, die Decke immer noch hochgezogen, damit sie ihre Brüste und den Rest von ihr bedeckte. Sie umklammerte ihren Tee und legte ihren Kopf vorsichtig an die Schulter des Mannes.
Er legte seinen Arm um sie.
Sina duldete es.
Auf irgendeiner tiefen, archaischen Ebene spürte sie trotz allem, dass es richtig war, sich jetzt anzukuscheln und bei einem anderen Menschen zu sein. Wärme zu spüren. Es beruhigte ihren Puls und drängte die brutale, erstickende Kälte in ihrem Magen zurück. Sina versuchte, die richtige Balance zwischen dem stillen Punkt in sich und dem Minimum an erforderlicher Nähe zu finden. Ihre Sprache kehrte allmählich zurück, aber sie wollte mit diesem Mann nicht reden. Sie schämte sich für das, was sie mit sich hatte anstellen lassen.
Außerdem roch der Mann falsch.
Vorhin hatte es nicht gestört. Vielleicht hatte sein Deo den natürlichen Duft seiner Haut überlagert. Oder, überlegte Sina, sie war einfach nicht dicht genug an ihn herangekommen, und bewusst wahrzunehmen, wie seine Haut roch.
Allmählich beruhigte sich ihr Atem und wurde tiefer. Sie musste gähnen und nahm einen Schluck Tee.
Ihr Dom, oder die fremde Zufallsbekanntschaft, was auch immer der Typ war, veränderte seine Position. Er lehnte seinen Kopf sanft gegen Sinas. Es beruhigte sie tatsächlich und vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit, zumindest an der Oberfläche.
Er war und blieb ein Fremder.
Doch die Geste war nicht mehr die eines Fremden, sondern eines Vertrauten.
Sina fühlte sich zerrissen. Der Moment der Geborgenheit tat gut. Auf dumpfe Weise fühlte es sich an, als hätte sie in Wahrheit die ganze Zeit nach genau so etwas gesucht. Nach einer Nähe und Verbundenheit, die so tief ging, dass sie alles umfasste, was sie war.
Die Vorstellung machte ihr Angst. Wenn jemand tatsächlich so dicht an sie herankam, dass er alles halten, berühren, besitzen und kontrollieren durfte, was sie war …
Was wäre, wenn der andere diese Macht missbrauchte?
Hatte sie deswegen seit Jahren panisch die Flucht ergriffen, sobald ein Mann ihr Herz berührte und die Gefahr bestand, dass sie sich früher oder später in ihn verliebte?
In diesem Augenblick, in dem Sina nach wie vor das volle Brennen und die Absolutheit der Hingabe fühlte, zu der sie fähig war, aber auch die zärtliche Nähe des Fremden an der Schwelle zu etwas, wo er kein Fremder mehr wäre, überkam sie die Erkenntnis wie ein Lichtblitz von Kopf bis Fuß. Auf einmal passte alles zusammen. Die Einsamkeit an der Seite ihres ersten Freundes, der so sanft und lieb gewesen war, aber bei dem sie nie den Halt und die Härte gefunden hatte, den sie gebraucht hätte, um auf diese Weise in die volle Größe und Form ihres Seins zu fließen. Die Einsamkeit an der Seite ihres zweiten Freundes, der ihr Härte gegeben hatte, aber weder Sanftheit noch Liebe noch Halt, bis sie flüchten musste und ein halbes Jahr bei Freunden untertauchte.
Irgendetwas hatte immer gefehlt. Sie hatte nie ganz die Frau sein dürfen, die sie war.
Und war das nicht eine der wichtigsten Voraussetzungen überhaupt für eine Beziehung? Wenn man sich bei einem anderen Menschen permanent verstellen musste und für das schämte, was man war, sei es wegen der Sehnsucht nach Härte oder wegen der Sehnsucht nach Zärtlichkeit, wie konnte es dann Liebe sein?
Das, was sie war, war real und absolut. Es war kein böses Verlangen, dem sie schamhaft alle paar Wochen oder Monate nachgeben wollte, um anschließend mit erhobenem Haupt in ihr wahres Leben zurückzukehren. Das würde nämlich bedeuten, dass sie sich dafür schämte, anstatt sich wertvoll und vielleicht sogar stolz auf das zu fühlen, was sie war. Ihre Hingabe, dieses seltsame, weiche und warme Fließen, dessen Größe und Intensität sich nach einer ebenso großen und intensiven Form sehnte, in die sie fließen konnte, war sie selbst. Das war die wahre Sina.
Es war zumindest ein wichtiger Teil von ihr.
Wie lange wollte sie noch davonlaufen und sich immer neue Situationen zusammenkonstruieren, in denen fremde Männer ihr einen blassen Abklatsch von dem ermöglichen sollten, was sie in Wahrheit war – in Situationen, die Sina im Vorfeld so sorgfältig skriptete, dass ihr Herz auf keinen Fall involviert werden konnte?
Sie richtete sich auf und sah den Fremden an, der für einen Abend ihr Dom gewesen war. „Ich glaube, ich bin viel devoter, als ich immer dachte.“
Er nickte. In seinem Blick lagen Liebe und Wärme. „Das klingt wie ein Abend großer Selbsterkenntnis.“
Sie nickte nachdenklich. „Ich glaube, damit muss ich erst mal klarkommen.“
„Es ist immer ein Schock, ja. Zu erkennen, dass es real ist. Dass man wirklich so fühlt und nicht nur auf kleinen Ausflügen in eine verbotene Welt jenseits der Realität.“
Sie sah ihn erstaunt an. „Du auch?“
Er nickte und sah plötzlich verlegen aus. „Ich kämpfe auch manchmal noch damit, wie ich bin. Meine letzte Beziehung ist daran zerbrochen.“
Sina zuckte zurück.
„Keine Sorge.“ Er lächelte wieder so warm und lieb wie zuvor. „Ich hab schon verstanden, worum es dir ging. Du bist ein Schmetterling, der gerade erst geschlüpft ist, und du suchst nach einem anderen Schmetterling, der so schön ist wie du. Heute ist nicht der Tag, an dem du dich binden willst.“
Sina atmete erleichtert und dankbar aus. Es wäre furchtbar gewesen, wenn der Mann diesen Moment der Wahrheit und Verletzlichkeit missbraucht hätte, um Sina unter seine Kontrolle zu bringen, weil er sich nach etwas Ähnlichem sehnte wie sie. Tief in sich spürte sie, dass der richtige Anfang dafür keine Nacht wie diese sein durfte.
„Danke“, sagte sie leise und kuschelte sich an. Endlich fühlte sich die Geborgenheit echt an. Dieser Mann sah sie als das, was sie war, und akzeptierte es, als wäre es völlig normal. Darin lag etwas unglaublich Heilsames. „Du bist echt korrekt, weißt du das?“
Er küsste sie sanft auf die Schläfe. „Du auch.“