Stefania. Oder: Was man sich alles einbilden kann
Ich habe nicht wirklich etwas zu tun und krankheitsbedingt viel zu viel Zeit. Und je mehr ich zur Untätigkeit verdammt bin und nicht richtig weiß, was ich mit mir anfangen soll, desto mehr gleiten meine Gedanken in den Morast, in den Sumpf, in die Unordnung dessen ab, was mein bisheriges Leben war.Heute habe ich mich nun den ganzen lieben Tag auf unziemlich rührselige Weise der Nostalgie hingegeben und meine erste Liebe ist aus dem Beinah-Vergessen beinah lebensecht in mir auferstanden.
Es wäre mir damals nie eingefallen - wie es die anderen taten - sie "Steffi" zu nennen! Zu schrill und aufschreiend bis zur Schmerzgrenze kreischte das "i" am Schluss ihres amputierten Namens in meinen Ohren. Auch zu spießig, zu muffig, zu einfallslos, dafür aber organisiert deutsch. Ein "i" unpassend wie die giftigen Schiedsrichterpfiffe, die den Fluss eines Spielgeschehens unterbrechen, anstatt es auf Vorteil laufen zu lassen.
Oh ... wie ich den Ballspielfanatismus an der Schule hasste! Wie können mit einem Großhirn ausgestattete Lebewesen, die sich noch dazu als Krönung der Schöpfung bezeichnen, stundenlang einem Ball hinterherjagen!?, fragte ich mich und fand nur verletzende Antworten. Spürte aber dennoch, dass die sportlichen Ambitionen etwas mit einer geistfeindlichen Tendenz zu tun hatten. Ich sah regelrecht Ödnis und Zersetzung der Hirnsubstanz um mich herum und die Überbetonung des körperlichen Bewegungsapparats als Symptom davon. Gerne lasse ich mir hierfür Überheblichkeit unterstellen - und gerade deshalb war und ist es immer noch für mich eine Frage letztlich des guten Geschmacks, dass Stefania für mich "Fania" war und es immer bleiben wird (von Fania Fenelon las ich übrigens erst viel später - aber Morast, Sumpf, Unordnung ... oder vielleicht doch Schicksal, wo alles zueinanderpasst und aufeinander abgestimmt ist, wer weiß das schon?).
(Und noch eine Parenthese, die dem Vertändnis dient: Auf dem Sportgymnasium bin ich damals gelandet, weil ich mit 16 die 100 m in 11,6 s gesprintet bin - Wer von den Verantwortlichen konnte schon ahnen, dass ich immer und überall auf der Flucht war!? - Doch Halt! Es soll hier um Fania gehen.).
Ich sah Fania gerne. Sie war grazil, gewandt, sich ihres Körpers sicher (als hauste ihre Seele in jeder einzelnen ihrer Zellen) und im Unterschied zu allen anderen auch irgendwie einfach anmutig. Wenn sie rannte, wollte sie - so war zumindest mein Eindruck - weniger schnell sein als sich harmonisch bewegen - sie tanzte sozusagen die 100 m.
Ich weiß nicht, was sie für Beine hatte, was für eine Figur, damals befand ich mich tatsächlich noch jenseits aller Fleischbeschau, um geil bzw. verliebt zu werden. Vermutlich war sie im landläufigen Sinn nicht mal schön. Keine Lichtgestalt. Keine Aphrodite. Keine Kleopatra. Was sie aber hatte - und das kann ich mit Vehemenz sagen! - sie hatte "das Gesicht".
Ein Gesicht, Züge, denen ich über die Jahre bis heute treu geblieben bin.
Angesichts verschiedener Gesichter empfindet man bisweilen Zärtlichkeit, ein Hingezogensein, doch gibt es eben auch das bestimmte, dieses eine Gesicht, das man schon immer auf geheimnisvolle Weise in sich trägt, das man schlicht und eingreifend liebt. Sieht man es in einer Menschenmenge, begegnet man ihm, dann wird etwas erfüllt - dieses eine Gesicht ist wie das eine Puzzleteil, das gefehlt hat.
Trotz ihres italienischen Vaters war Fanias Haar wie Stroh, stets wesentlich bleicher im Sommer von der Sonne. Dazu im herrlichsten Kontrast ihre wie mit Goldpuder überstreute, braun schimmernde Haut. Sie leuchtete quasi dunkel. Doch der Kontrast setzte sich fort: Ihre Augenbrauen waren dunkelbraun (ungeschminkt!) und - was für eine Laune der Natur! - ihre Augen hatten die Farbe von grau schimmerndem Eis, klar, grün ziseliert - für mich undurchschaubar ... Wenn sie mich anblickte, kam ich mir vor wie an wie an einem kristallinen Wintermorgen, erschreckend frisch; diesem Mädchen konnte Mann bereits damals nichts vormachen, ihre Augen waren antiseptisch. Oder auch unschuldig im Sinn von absolut ungetrübt. Als wäre sie das Licht selbst. (Erst heute fällt mir auf, wie dunkel und finster ich sein muss/gewesen sein muss, wenn sie diese Wirkung hatte ...). Trotzdem war ihre Tranparenz auch vernebelt und für mich tiefer und unerforschlicher und unergründlicher als die Stille und das Purpur am Abgrund zu den Stunden nach Mitternacht ... in einem Wort: ein Rätsel, das zauberhafteste Rätsel schlechthin (aber bitte, dass sich niemand täuscht, auch heute noch habe ich nicht die mindeste Ahnung, was in Frauen so vorgeht ...).
Ihre Stimme war glatt und distanziert. Sie war wohl einsam (immer war sie für sich allein und wich, so schien es, allen anderen aus) und lange war sie ahnungslos in ihrer Wirkung auf mich. Geschlossen war sie in ihrer Welt und einzigartig schön, wie ein den Menschen entrücktes wildes Tier oder wie ein wahrhaftiger Engel.
Schließlich steckte ich ihr einen Zettel zu (zu sprechen war mir unmöglich vor Aufregung), auf den ich gekritzelt hatte, "Ich liebe Dich".
Leicht und flüchtig war ihr Erröten nach dem Lesen und verlegen war die Geste, mit der sie ihre Sporttasche von der einen in die andere Hand wandern ließ - "klar, liebst du mich", war ihre verblüffende Antwort für mich, "weil wir schon lange befreundet sind und außerdem sind wir in der gleichen 100Meterstaffel und zusammen im Englisch-LK!"
Auch heute noch fehlen mir auf eine solche offensichtliche, klarsichtige Stellungnahme die Worte ... und Poesie ist an ihrer Grenze, bevor sie überhaupt angefangen hat ...
Ob Fania stärker war als ich? - Jedenfalls nahm sie alles leichter. Sie hatte nicht den leisesten Schimmer von der Angst, die mit Seligkeit meine Brust zum Bersten bringen wollte wegen ihr. Gefühle schienen für sie lediglich eine andere Form der Handhabung zu erfordern als z. B. eine Matheaufgabe; so kannte sie keine Probleme. War in sich ruhend, vielleicht sogar bestgetarnt heiter von Gemüt. Während mir damals so ziemlich alles zum Problem wurde. Beklemmend. Unverständlich. Alles.
Die Zurufe und Winke meines Schicksals konnte oder ehrlicher: wagte ich nicht zu begreifen. Ahnung und Schweigen. Tödliche Begierde und schöpferische Kraft. Wollust und Verwesung. Bebend schluchzend und beglückt jauchzend. Cherub und Bestie. Dichotomien. Polaritäten. Leicht verführbar und leicht verletzbar und schwer enttäuscht und schwer beleidigt. Romantische Begeisterung und holdester Wahnsinn.
Aus uns ist kein Paar geworden. Weil aus dem Sumpf, dem Morast, dem Urgrund gleichermaßen Liebe und Zerstörung , Wachstum und Tod entspringen, bin ich schon mit 19 als Soldat nach Beirut gekommen, weil sich dem Tod widmen einfacher war als zu lieben - was aus Fania wurde? Keine Ahnung - ich schicke ihr unsagbare, ungesagte ... ja was eigentlich? - nennen wir es "Gebete".