Liebe, Sex, Spaghetti und Zeit
Ich hatte mal eine Freundin (na ja, einige). Aber diese eine, um die's hier geht, hieß Natascha. Also eigentlich Natalia. Und mit Vatersnamen Vladimirowna (aus Gründen des Datenschutzes halte ich ihren Familiennamen unter Verschluss). Sie war aus Moskau. Alter russischer Adel - okay, nicht gerade eine Romanow, dafür jedoch kommunischer Adel mit einem Vater beim Inlandsgeheimdienst. - Man sieht: Als Heimatloser bin ich in der Tat rumgekommen!Und diese Natascha hasste Spaghetti (ich verzichte im Weiteren auf das "s", denn das "i" verweist bereits auf den Plural - nein, nicht aus Klugscheißerei, sondern im Prinzip, weil so viel italienisch - neben dem kulinatischen Labsal - einfach sein muss!).
Ihre Abneigung ging so weit, dass sie mich schon auf dem Weg ins Restaurant - "ristorante" - verächlich bestimmend - als wäre ich ihr Sub! Man glaubt es kaum ... - darauf hinwies: "Bestell' bloß keine Spaghetti!"
Für die Dame waren also Spaghetti ein Zeichen von unverzeihlicher Unkultur. Nun ja, was soll ich sagen!? Verschrien als Spaghettifresser hielt ich es fortan nicht mehr nötig, sie einmal zu Spaghetti mit Trüffeln einzuladen (Rache ist bekanntlich süß!).
Warum zum Hank erzähle ich das alles überhaupt?
Ich bereite einen Analogieschluss vor. Oh Gott, was ist jetzt ein Analogieschluss! (Ich höre so manchen munkeln, ich hätte allerdings einen Schuss! - Korrekt, das kommt von den Spaghetti!) - wo war ich?
Ja, Analogieschluss. Dazu Georgi Schischhkoff (ich liebe diesen Namen) in seinem Philosophischen Wörterbuch S. 23 (Google kann mir gestohlen bleiben):
"ein Schluss von der Übereinstimmung oder Ähnlichkeit zweier Dinge in einigen Punkten auf Gleichheit oder Ähnlichkeit auch in anderen Punkten."
Und so möchte ich in dieser kleinen Glosse nicht weniger als das Rad neu erfinden - nee, nee, ich will vielmehr den Zusammenhang zwischen Liebe, Sex, Spaghetti und Zeit kurz erläutern, um eine untrügliche Wahrheit ans Licht zu bringen - yeaaaah!
Okay, all day, alright, all night, ich will jetzt die Analogie mit den Spaghetti nicht überstrapazieren, habe also ein Einsehen mit der bisher schon zur Genüge leidgeprüften Leserschaft und setze das Folgende als allgemein anerkannt voraus: Spaghetti sind an sich kein Gegenstand von Kulturlosigkeit, sondern ohne Kultur ist derjenige, der mit bloßen Händen und Fingern in die Schüssel mit den Spaghetti - und je nach Gusto einer bestimmten Soße - greift und sie so vertilgt.
Kultur ist bei diesem Beispiel also schon die Nutzung einer profanen Gabel (in wie weit die Benutzung eines Messers zum Zerschneiden der Spaghetti der Gipfel von kultureller nördlich der Alpen angesiedelter Kultur/Unkultur ist, darüber schweige ich mich besser an dieser Stelle mal vorsichtergeweise in Stille aus ...;).
Um endlich mit der Sprache rauszurücken: Ich halte Spaghetti(-Essen) genauso für eine Kulturerscheinung wie Liebe.
Liebesgeschichten sind Geschichten über Indirektes, Umwege, Mittelbares, Beseitigen von Hindernissen, dem Kampf mit allerlei Tabus, Erzogenem, Beigebrachten, Konditioniertem usw. - sind Geschichten, die Zeit brauchen. Wer demnach ankommt, bevor er sich überhaupt reisefertig gemacht hat, erlebt kaum eine Geschichte, Abenteuer. Oder im Bild zu bleiben: Wer mit puren Händen in die Spaghetti-Schüssel greift, bringt sich um eine Geschichte:
Auswahl des Ristorante, die Vorfreude, den Weg dorthin, das Auftauchen deselben an der Straßenecke, Auswahl des Gerichts, das Warten darauf, der gedeckte Tisch, das Ambiente, die Wahl des Weins, der Duft des Essens im Raum und nicht zu vergessen das Wichtigste schlechterdings: wer mit einem am Tisch sitzt!
Wenn das soweit klar ist, lehne ich mich mal sehr gewagt aus dem JoyClub-Fenster: Wer gleich in die Spaghetti-Schüssel greift, um zu mampfen, ist zwar gleich bis sofort beim Fun - aber ist er wirklich an der Freude, wenn (kulturell) aufgebaute (Umweg)Spannung ihre Erlösung findet? Wenn es heißt: Küss' mich! Fick mich! - Wo ist die Werbung, das Spiel, wo sind die Geheimzeichen, wo ist die Entdeckung eines anderen, der Aufbau von Vertrauen, um sich im anderen verlieren zu können, ohne verloren zu gehen - wo ist auch ein bisschen Leiden und Unsicherheit?
Klar, alles läuft aufs Gebumse raus - hmmm, aber die Frage ist: Was ist Gebumse mit Kultur? Kann schnödes Ficken geadelt werden, falls JA, durch was?
Boaah, jetzt wird's aber komplex kompliziert anspruchsvoll - eine Französin sagt mal in einem Song, also Schongsong, "C'est peut-être un peu complexe / Sans doute un peu circonflexe / Mais, je n'veux plus faire l'amour / L'amour qu'avec toi" (Juliette Armanet - merci Margoschka).
Hmmm, vielleicht hängt sogar die Länge und der Zeit, die man sich nimmt, eines Umwegs hin zum Sex von der Größe der Ziels ab? Und wird je nach eingeschlagenem Umweg des Ziel an Größe zu?
Papperlapp! So ein Quatsch! Kultur - Was ist Kultur? Wir leben in einer Kultur des Pragmatismus, des Praktischen, der klaren Ziele, die ohne Umschweife und effizientem Einsatz der Mittel, um diese Ziele zu erreichen, gekennzeichnet ist.
Dies sagten und forderten im übrigen schon die alten Griechen: Timeis monai (auch wenn viel später ein "time is money" daraus geworden ist)!
Da ist kein Platz mehr - und keine Zeit - für ein Geschwafel von Umwegen, Zeit-Lassen, Zeit-Reifen-Lassen, Entwickeln usw. Es geht längst um Geraden, um Ziele zu erreichen, um Abkürzungen - nicht um Verzögerung und Verlängerung.
Das Produktionstempo soll gesteigert werden, das ist Leben, das ist Leben aus den Vollen: möglichst viele in möglichst kurzer Zeit ficken - denn - Achtung! Es wird philosophisch! - morgen sind wir vielleicht schon tot, da gilt es keine Zeit zu verlieren, nichts zu verpassen, nichts zu versäumen ...
Und dennoch lasse ich mir Zeit beim Spaghetti-Essen mit meiner Gabel, ich genieße jeden Bissen und lasse mir den Geschmack auf der Zunge zergehen, spüre die Wärme in meinem Bauch, die zunehmende Sättigung, das Behagen ... und so will ich lieben - auch wenn es unzeitgemäß ist - auf Umwegen ins Bett, auf Entdeckung von Quadratzentimeter Haut um Haut auf dem Weg in die Vulva, ohne abstruses Abrechnen quid pro quo, verloren in der Zeit will ich sein, als hätte ich alle Zeit der Welt, als lebte ich ewig - aber lebt nicht jeder, der liebt, in der Ewigkeit?