Meine Erfahrung nach mehreren Reha- und Kuraufenthalten ist, dass es während dieser Zeit grundsätzlich leicht ist, mit anderen ins Gespräch zu kommen: man wird vom Personal an einen Tisch mit anderen Leuten gesetzt und trifft diese dort drei Mal am Tag, man hat verschiedenen Therapiegruppen, in denen man sich begegnet und gemeinsam ächzt oder auch teilweise sehr Persönliches aus dem eigenen Erleben mitteilt, man läuft sich mehrfach täglich in den Wartebereichen zu den Therapien, auf den Fluren und in Gemeinschaftsräumen über den Weg, und die meisten Kliniken haben irgendein Abend- oder Freizeitprogramm und Tagesausflüge im Angebot, die auch gerne wahrgenommen werden.
Wie intensiv sich dabei Bekanntschaften entwickeln, ist so unterschiedlich, wie die Menschen, die dort aufeinandertreffen. Bei einem Aufenthalt habe ich mehrere Dramen erlebt, weil sich "Paare" jeweils so intensiv eingelassen hatten, dass tatsächlich bereits erwogen wurde, alles Bisherige hinter ich zu lassen, sich von den tatsächlichen Partnern zu trennen und gemeinsam mit dem Kurschatten ein neues Leben zu beginnen. Das war allerdings zu Zeiten, als der Aufenthalt noch ohne weiteres auf sechs Wochen verlängert wurde, was heute ja kaum der Fall ist. Normal sind heute drei Wochen, unter Umständen gibt es auf Antrag der Kureinrichtung beim Versicherungsträger noch eine Zusatzwoche.
Zu bedenken ist, dass viele sich in einer Ausnahmesituation befinden. Wer gerade knapp einen Herzinfarkt oder eine schwere Krebserkrankung hinter sich gebracht hat, hat eher ein Bedürfnis nach Ruhe und Nachdenklichkeit und ist damit beschäftigt, wie das Leben nun sinnvoll weitergehen kann. In einer Klinik, wo die Mehrzahl der Gäste sich dagegen etwa rein zur Gewichtsreduktion oder Beweglichkeitstraining von Armen oder Beinen aufhält, ist die Wahrscheinlichkeit, dass mehrheitlich lustig gefeiert und geflirtet wird, deutlich höher.
Ganz persönlich habe ich eine Erfahrung gemacht, mit der ich so nicht gerechnet hätte. Während der Kur habe ich mich mit einem Mitpatienten sehr gut verstanden, viel unterhalten, wir haben auch gemeinsam zwei Tagesfahrten der Kurklinik miteinander absolviert und waren einmal im Kino, jedoch vollkommen platonisch, ohne die geringste Zweideutigkeit, er machte keinen Hehl daraus, dass er verheiratet war und dort glücklich, ich hatte auch nicht das Bedürfnis nach Sex sondern genoss unsere tiefsinnigen Gespräche und den ähnlich schrägen Humor, der uns beiden eigen war, sowie die herrlich skurrilen intellektuellen Blödeleien, mit denen wir uns köstlich amüsierten. Er war der Enkel eines berühmten Malers, dessen Werke ich auch sehr schätze, und zugleich dessen Nachlassverwalter. Wir nannten uns bei der Abreise zwar beim Vornamen und hatten auch gegenseitig unsere Adressen ausgetauscht, aber nach der Kur lediglich noch ein- oder zweimal brieflichen Kontakt, wo wir uns gegenseitig Fotos aus der Kur zuschickten, das war es dann aber auch und es entsprach unser beider Verständnis von unserer Begegnung - eine schöne, unkomplizierte Erinnerung, nichts weiter.
Eines Tages, ungefähr zwei Jahre danach, besuchte ich eine Ausstellung eben dieses Malers in Hamburg und sah dort zu meiner großen Überraschung und Freude tatsächlich jenen Mann aus der Kur, in Begleitung einer Frau, wie sich herausstellte, war es seine Ehefrau. Natürlich sprach ich ihn an, natürlich mit seinem Vornamen. Er war sichtlich überrascht, konnte mich auch nicht gleich einordnen, aber nachdem ich ihm auf die Sprünge geholfen hatte, freute er sich ebenso und stellte uns natürlich auch einander vor. Ich hatte allerdings bemerkt, wie seiner Frau bereits die Gesichtszüge entgleist waren, als ich ihn mit Vornamen ansprach und im gesamten Verlauf des Gesprächs war sie reichlich einsilbig und musterte mich äußerst misstrauisch. Meine Frage, ob sie Zeit für einen Kaffee in der Museumscafeteria hätten, wurde "geteilt" beantwortet, d.h. er hatte bereits ein spontanes: "aber ja, natürlich, sehr gerne" geäußert, als sie höchst säuerlich befand: "Wolltest Du nicht noch mit Herrn Direktor xx die Finissage der Ausstellung besprechen? Der ist sicher nicht mehr Im Haus wenn Du erst später hingehst" - in einem Ton, der deutlich erkennen ließ, dass sie sich ärgerte und auf keinen Fall gemeinsam einen Kaffee trinken wollte. Der Mann schluckte kurz, schaute mich an mit einem Ausdruck, der klar signalisierte, dass dies ein Vorwand war, aber er ließ seine Frau nicht im Regen stehen und wir verabschiedeten uns. Während die beiden Richtung Ausgang gingen, sah ich mir den Rest der Ausstellung an.
Als ich ein paar Tage später wieder zu Hause war, fand ich einen Brief von ihm, in dem er sich für sein Benehmen im Museum entschuldigte und erklärte, dass seine Frau sehr eifersüchtig sei und ihm bereits seit seiner Rückkehr aus jener Kur unterstellt hatte, eine intime Affaire mit einem Kurschatten gehabt zu haben, und diese auch über die Jahre heimlich weitergeführt zu haben, da er beruflich in ganz Deutschland unterwegs ist, und als ich dann im Museum auftauchte, war das für sie ein "Beweis" für die Richtigkeit ihrer Annahme.
Tatsächlich hatte er ursprünglich alleine nach Hamburg fahren wollen, um das Gespräch wegen der Finissage zu Führen, dann hatte sich seine Frau nachträglich entschlossen, mitzufahren (sie wohnen etwa 60 km außerhalb). Als ich dann plötzlich auftauchte, unterstellte sie unmittelbar, dass ihr Mann sich gezielt mit mir verabredet hätte, und machte ihm anschließend eine Riesenszene. Das Gespräch mit dem Museumsdirektor, dessentwegen er das Museum an jenem Tag aufgesucht hatte, war übrigens bereits gelaufen, bevor ich ihn ansprach, der Einwand seiner Frau also tatsächlich ein gezielter Vorwand, um jede weitere Unterhaltung zu unterbinden. Ihm war ihr Auftreten mir gegenüber sehr peinlich und er hoffte, dass dies nicht meinen ganzen Hamburg-Aufenthalt überschattet habe. Gleichzeitig bat er um Verständnis, dass er das Misstrauen seiner Frau auch nicht weiter schüren wollte und deshalb unseren Kontakt nach der Kur auch nie wieder aufgenommen hatte, obwohl er tatsächlich häufig in meiner Nähe zu tun gehabt hatte und durchaus gerne ab und zu mal mit mir zusammen essen gegangen wäre.
Ich weiß nicht, was Du für Wünsche, Sehnsüchte oder Erwartungen im Hinterkopf hast, lieber TE. Ich denke, grundsätzlich triffst Du dort auf die selben Menschen wie überall. Zum Zeitpunkt des Kuraufenthaltes befinden sie sich aber in ganz unterschiedlichen persönlichen Situationen, die kein Außerstehender wirklich ermessen kann. Oftmals sind es Ausnahmesituationen, Zäsuren , die den bisherigen Lebensverlauf in Frage stellen, eine Neuorientierung erfordern, manchmal auch das Ziel haben, Abstand vom Alltag zu gewinnen, um wichtige persönliche Lebensentscheidungen treffen zu können.
Da "tickt" so manche/r anders als in seinem gewohnten Leben, ist offener, mitteilsamer anderen gegenüber, manchmal gerade weil man davon ausgeht, dass man sich danach nie wieder begegnen wird. Aber gleichzeitig ist man auch sehr verletzlich und oft sehr viel dünnhäutiger als sonst.
Darüber sollte sich auch jeder klar sein, der selbst Absichten als Kurschatten verfolgt und sich dementsprechend verantwortungsvoll verhalten. Mir sagte einmal ein Arzt in einer Kurklinik, dass häufig ein Kurschatten die positive Wirkung der Kur verstärken kann, sofern beide(!) Beteiligten reif genug sind, diese Begegnung nicht mit völlig überzogenen Erwartungen zu überfrachten. Damit mag er wohl recht haben.