Blind Date
Sobald die Sonne sich gesenkt hat, wird es kühl und der verschwindende Tag sinkt von zaghaftem Gelb in fahles Grau. Die Passanten schlagen die Kragen hoch und beschleunigen ihre Schritte. Sie sind auf dem grossen Platz mitten in der Stadt verabredet. Er steht leicht schräg an einen gusseisernen Laternenpfahl gelehnt und lässt seinen Blick durch die Menschen wandern, die Ameisen gleich über den Platz hasten.
Würde sie kommen, würde er sie gleich erkennen. Das ist ihm klar. Ausser wenigen beiläufigen Andeutungen weiss er nichts über ihr Aussehen. Ihre Art hatte es ihm angetan und er spürte gleich, dass sie ihm gefallen würde. Einige Zeit hatten sie sich Nachrichten geschickt. Ihr Stolz, ihre Offenheit, ihre Koketterie, ihre Willigkeit sowie ihr Wille, ihr klarer Verstand faszinierten und berauschten ihn mehr und mehr. Und er handelte. Schrieb ihr, dass er sie treffen will. Ihre Antwort liess lange auf sich warten. Er hatte sie überschätz, ihr Liebespiel beschränkte sich doch nur auf gewagte Wortgefechte, ihre Lust auf prickelnde Schilderungen – dachte er.
Als sie dann antwortete, tat sie es so luzide, dass er sogleich euphorisch und ungeduldig wurde. Doch schnell wurde er wieder Herr der Lage. Nachdem das Rendez-vous vereinbart war, dachte er dankbare an die schmerzhaften Fehler seiner Jugend. Sie hatten ihn mehr als alles andere über die Frauen gelehrt. Die Euphorie und Ungeduld wurden zu Vorfreude und Gewissheit.
Da ist sie, kein Zweifel.
Sie ist schön und sie weiss es. Und dieses Wissen ist bei ihr nicht Hochmut, sondern Eleganz. Sie fällt auf, weil sie zugleich Anziehung und Distanziertheit ausstrahlt, eine dezente zugleich überbordende Erotik. Die Männer drehen die Köpfe nach ihr, wissen nicht, was denken. Die Frauen schauen ihr nach und nehmen ihr übel, dass sie etwas hat, das ihnen fehlt. Sie schlendert scheinbar ziellos über den Platz, blickt sich um. Sie ahnt, dass er sie bereits entdeckt hat. Der Gedanke von ihm gemustert zu werden, ohne zu wissen, wer er ist, versetzt sie in belebende Aufregung. Er nimmt sich Zeit sie anzusehen, ihren Gang, ihre Haltung. Diese Frau will er nicht einfach verführen – er will sie dazu bringen, sich ihm hinzugeben!
Nun geht sie in seine Richtung, schaut ihn an ohne ihn zu sehen. Ihr Blick scheint ihm verträumt. Sie gibt sich der wohligen Ungewissheit hin. Sie fühlt, dass gleich etwas passieren wird. Er löst sich vom Laternenpfahl, steht gerade und schaut ihr direkt in die Augen. Sie spürt seinen Blick, erwidert ihn.
Das ist er, kein Zweifel.
Sie spürt die leichte Welle nicht, die in diesem Augenblick durch ihre Bewegungen geht. Doch er hat dieses liebliche Zeichen sinnlicher Anspanung erkannt. Sie kommt zügig auf ihn zu, dabei blickt sie immer knapp an ihm vorbei. Denn sie fühlt schon, wie betörend es sein könnte, sich ihm hinzugeben. Doch zu einfach wird sie es ihm nicht machen – sie will erobert werden!
Nun stehen sie sich dicht gegenüber, könnten sich berühren, könnten sprechen. Doch noch ein paar Augenblicke heben sie sich das auf. Augenblicke noch, ohne zu wissen, wie sich der andere Körper anfühlt, wie die andere Stimme klingt. Wenige Augenblicke noch diese so sanften Vorboten die Sinne reizen lassen. Als sie kurz den Blick senkt, wissen beide: Das war erst der Anfang.