Lieber Neuschnee,
Du schreibst, Deine Freundin sei ein Mißbrauchsopfer und entsprechend schwierig gestalte sich alles. Das kann ich nachvollziehen. Nun gibt es zwei Varianten, was los sein könnte (bitte beachte den Konjunktiv! alles, was ich schreibe ist als Gedankenanstoß gedacht und nicht als Ferndiagnose) oder eine Kombination aus Beidem.
Zunächst zu ihr:
Mit dem Mißbrauch verbunden sind Gefühle von Ohnmacht und Kontrollverlust, vereinfacht ausgedrückt "ich konnte mich nicht wehren, ich war zu schwach, um es zu verhindern". Daraus kann sich im Verlauf des weiteren Lebens eine geradezu manische Kontrollwut entwickeln. "Ich will alles kontrollieren, damit ich nie wieder schwach und ohnmächtig bin". Äußern kann es sich je nach Charakter des Opfers in den unterschiedlichsten Varianten: Selbstverteidigungskurs, zehnmaliges Kontrollieren, ob die Türen und Fenster wirklich verschlossen sind, Weigerung, sich zum Essen einladen zu lassen, weil das als Aufforderung verstanden werden könnte (um nur einige Beispiele zu nennen).
Bei Opfern von wiederholtem Mißbrauch kann sich auch noch weiteres entwickeln. Auf die Gefühle von Ohnmacht und Kontrollverlust folgen Zweifel. "Ich habe es herausgefordert", "ich bin ja selbst schuld". Daraus kann sich tragischerweise so etwas entwickeln wie "ich hatte es ja nicht besser verdient" oder auch "es ist mir ganz recht geschehen, weil ich ja sowieso ein schlechter Mensch bin." Wenn jemand ein solches Päckchen mit sich rumträgt, wird es ihm generell schwer fallen, Zeichen von Aufmerksamkeit und Zuneigung anzunehmen.
Das alles sind Muster, die nicht bewusst ablaufen. Und ob etwas davon und wenn ja was auf Deine Freundin zutrifft, wird Dir hier im Forum niemand beantworten können.
Nun zu Dir:
Ich verstehe es so, dass Du Dich als behutsamen Menschen verstehst, der nur das Beste will. Die Frage, die Du Dir meiner Meinung nach stellen solltest ist folgende: neige ich generell dazu, alle Welt zu betüdeln? Beispiel: Die Nachbarin bittet Dich, eine Schraube festzudrehen und Du reparierst noch rasch die Waschmaschine. Oder tust Du das, was Du tust, nur für Deine Freundin und für eine glückliche Beziehung und übertreibst es tatsächlich, weil sie ja das arme Opfer ist? Beispiel: Sie will gar nicht, dass Du immer die Lebensmittel kaufst, Du tust es aber trotzdem. Und sie spürt natürlich, dass Du es gut meinst, aber es entzündet sich deshalb keine Grundsatzdiskussion und alle Probleme werden auf das sowieso schon heikle Thema Sex projeziert.
Das sind, ich betone es noch mal, einige Gedankenansätze. Und auch, wenn es banal klingt: da hilft nur reden, reden, reden. Und zwar nicht, um sich am Ende für den anderen des Kompromisses halber ein Stück weit zu verbiegen, sondern um zu verstehen, warum der andere wie tickt. Und um dann gemeinsam einen Lösungsweg zu suchen. Und wenn ihr zu zweit nicht wirklich weiterkommt, ist es auch keine Schande, einen Mediator einzuschalten. Und ich würde an Deiner Stelle auch mal schauen, ob es in der Umgebung vielleicht eine Gruppe gibt für Angehörige von Mißbrauchsopfern.
Liebe Grüße
Sylvie