Vory legte ihr Kleid ab und schlich auf Zehenspitzen über die Terrasse zu den palasteigenen Badebecken. Zu ihren Füßen erstrahlte die nächtlich ruhige Stadt mit ihren strohgedeckten Dächern, den roten Ton- und schwarz verwitterten Holzschindeln. Zuhause, in den Marmorstädten, war jetzt die Zeit gekommen, seine Liebsten und Verwandten zu beschenken und das „Lichterfest“ zu feiern. Im Kreise der Freunde und Familie wurden dann gemeinsam besondere Leckereien genascht und Lieder gesungen. Leider kannte man in den Südlanden diese Tradition kaum oder sie war inzwischen in Vergessenheit geraten …
Vory legte ihre Hände auf ihren stark gerundeten Bauch und sah sich im Palastgarten um. Kannte man einen Garten, kannte man sie alle. So glaubte man zumindest. Aber dieser hier war anders. Hier fanden sich noch mehr goldene Statuen als im „Inselpalast“. Sie kam nicht umhin, bei einer von ihnen stehen zu bleiben und über die lebensechten Formen zu streichen. Bis ins letzte Detail stimmten alle Proportionen. Die der Brüste, Hüften, Schenkel. Selbst die Schöße der Menschen entsprachen in allen Einzelheiten der Wirklichkeit. Sie streckte ihre Hand aus und berührte die glatten polierten Goldflächen.
„Gefallen Sie Euch, Hoheit?“
Vory wirbelte herum.
Ein Mann in einer einfachen Mönchskutte.
Er saß im Schatten auf einer kunstvoll gearbeiteten Bank aus Stein.
Sletee – das geistige Oberhaupt von Kahakai. Er bekleidete den Rang eines Erzherzogs und Stadtherrschers und unterstand nur bedingt der weltlichen Gerichtsbarkeit. Man nannte ihn auch den „Herausragenden“ oder den „Erlauchtesten“. Manche meinten, er wäre der mächtigste Mann in diesem Teil der Welt. Vory hielt den Atem an. Es hieß zudem, dass er sich nicht oft in Politik einmischte, was sie jedoch bezweifelte. Sein Einfluss war vor allem in dieser Stadt allgegenwärtig spürbar.
„Oh, Ihr.“
Sletee lächelte und strich sich über seinen eleganten Spitzbart.
Dass sie völlig nackt vor ihm stand – hochschwanger –, wurde ihr erst jetzt bewusst. Auch dass sie ihre Hand noch immer an den Oberschenkel einer über alle Maßen begehrenswerten Frau hielt. Diese sah aus, als hätte sie bis vor wenigen Augenblicken wirklich gelebt und geatmet.
Und auch sie war schwanger – wie Vory.
„Wunderschön“, beantwortete sie seine Frage von vorhin. „Der Künstler … muss ein wahres Genie gewesen sein.“
Er schenkte ihr ein gespenstisches Lächeln. „Es gibt fünftausend von ihnen in ganz Kahakai … Fünftausend …“ Er sprach das Wort wie einen Fluch aus.
Unvorstellbar. Wie konnte man nur so viele Skulpturen anfertigen? Reichte dafür ein Leben überhaupt?
„Gefällt es Euch in Bageecha, Hoheit?“ Er erhob sich und näherte sich bedächtig.
„Das hier ist eine beeindruckende Stadt. Ich kenne von zuhause nichts Vergleichbares.“
„In den alten Zeiten erschienen die ‚Hängenden Gärten’ noch viel imposanter. Sie versorgten die ganze Stadt mit lebensspendendem Wasser. Und es gab sie überall im ‚Land der eintausend Paläste’. Doch heute ist der Glanz von damals nahezu verschwunden.“
Vory wusste darauf nichts zu antworten. Sie sah die Statue an. Welche Frau auch immer der Künstler im Auge gehabt hatte, als er dieses Kunstwerk erschuf – er hatte es geschafft, ihre Seele einzufangen. Ihre zu einem schnellen Lächeln geeigneten Lippen wirkten traurig. Eine Hand hielt sie auf ihren von der Schwangerschaft gewölbten Bauch.
„Es hat sich bestimmt viel geändert, seit die Truppen des Kaisers das erste Mal an den Küsten der tausend Paläste anlandeten.“
„Das hat es“, bestätigte er und ging um sie herum. „Vielleicht riecht Ihr es, erhabene Voriassa. Die Mauern um uns … Sie atmen Weltgeschichte. Drei Kaiser und drei Gebieter der Gläubigen residierten in diesem Palast.“
Unglaublich.
„Wusstet Ihr, dass er vorher als Tempel für den ‚Erhabensten’ diente?“
„Nein“, gestand sie und schüttelte Kopf. „Das wusste ich nicht.“
„Der Prophet errichtete die Grundmauern der alten Stadt. Das war lange, bevor der Kaiser seinen Fuß in dieses Land setzte.“
Etwas Ähnliches hatte Paraast erwähnt.
„Seitdem wurde selten etwas besser … Es ist ein verbrecherisches Zeitalter, in dem wir leben. Von den entlegenen Häfen Kumaas über das ‚Land des hüfthohen Wassers’ bis hin zu den fernen Nebelgestaden im tiefen Westen … Überall nehmen Seemänner das Gesetz gerade in die eigenen Hände und strecken ihre Klauen bis weit über die Ozeane aus.“
Piraten …
„Ich denke, Ihr wisst, wovon ich spreche, Hoheit.“
„Wüsste ich es nicht, müsste ich zugeben, dass ich unwissend bin. Und die zukünftige Königin kann es sich nicht leisten, als ‚unwissend’ zu gelten.“
„Wie eine Königin gedacht und gesprochen“, verneigte er sich beeindruckt und ließ sich zu einem Lächeln hinreißen.
„Ihr müsst entschuldigen“, bat sie verlegen. „Ich rechnete nicht mit Euch heute Abend. Ich hörte, Ihr weilt außerhalb der Stadt in einem altehrwürdigen Kloster.“
„Es gibt nichts, wofür Ihr Euch entschuldigen müsstet, erhabene Voriassa. Der ‚Eine, der keine Fehler hat’ erschuf Euch in seinem schönsten Traum nach seinem Ebenbild. Wer wäre ich, wenn ich ‚Seine’ Schöpfung gering schätzen oder gar verfreveln würde?“
„Das sehen nicht alle Männer Eures Glaubens so. Schon gar nicht in dieser Zeit. Ein nackter Frauenkörper gilt als der fleischgewordene Auswuchs der Sünde.“
„Diese Männer sind ebenso einfältig wie heuchlerisch.“
Sie sah ihn an. Zögerte.
„Und Ihr glaubt wirklich … ER hat mich nach SEINEM Ebenbild erschaffen?“ Am liebsten hätte sie gelacht.
„Nun“, lächelte er. „Wenn ‚Er’ eine Frau wäre, würde ‚Er’ wie Ihr aussehen.“
Geschmeichelt senkte sie den Blick. Um Komplimente war dieser heilige Mann nicht verlegen.
„Und wenn ‚Er’ tatsächlich eine Frau ist?“
„Das wäre nun wirklich Sünde, das anzunehmen.“ In seinen Augen blitzte es gefährlich auf.
„Entschuldigt, ‚Herausragender’ – diese Frage war wahrhaft unbedacht.“
Er grinste mit strahlend weißen Zähnen. „Unbedacht war sie nicht. Aber die Entschuldigung wird natürlich akzeptiert werden, Hoheit. So, wie jedes Mal.“ Er verneigte sich. „Hattet Ihr bereits ausreichend Möglichkeiten, Euch in Eurem Königreich umzusehen?“
„Noch nicht so richtig“, bedauerte sie. „Ich habe noch nicht alles gesehen. Aber was ich sah … die Städte glänzen wie funkelnde Perlen inmitten von grünen Urwäldern.“ Sie sah hinab auf die schlafende Stadt. Hadika hatte sie leider nur einen halben Tag lang besichtigen können. Da wie dort begann gleich nach der Stadtmauer die Wildnis und das Ende der Welt nur eine Meile hinter den letzten Ackerfeldern.
„Ein schöner Vergleich.“
Sie vermisste das nächtliche Bad im Meer, aber das wollte sie nicht zugeben. Das Schwimmen bis zur Sandbank, von wo sie die „Palastinsel“ sehen konnte. Wo sie endlos lange Herzschläge auf Suon wartete – vergeblich wartete, nur um auf einen anderen Tag zu hoffen.
„Ich bin froh, all diese Städte doch noch kennenzulernen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte es nicht mehr danach ausgesehen.“
„Ich habe davon gehört.“
Natürlich hatte er das. Sie sah ihn an. Starrte ihm tief in die Augen.
„Dann wisst Ihr auch, dass nicht jeder meinem Erscheinen hier in Kahakai wohlwollend entgegensah.“ Das war keine Frage – es war eine Feststellung.
„Ja“, nickte er.
„Gut, somit würde ich gern mehr darüber erfahren.“
Sein Blick glich dem eines Mannes, der Jahrhunderte kommen und gehen gesehen hatte.
Das Gelächter mehrerer angeheiterter Adeliger wehte über die Terrasse. Sie kamen hierher ...