Weder Tag noch Stunde
.Sie sieht aus dem Seitenfenster. Er neigt den Kopf und lächelt. Wie immer, wenn sie sich verabschieden. Sein Mund sagt lautlos: Ich liebe dich. Als Antwort legt sie eine Hand auf ihr Herz. Siebzehn Minuten später verliert ein Lkw auf der A 46 zwei Stahlplatten. Marita wird an der Unfallstelle wiederbelebt.
„Was macht deine Hand in meiner Hose?“, hatte er sie am Abend zuvor gefragt.
„Ich prüfe die Knackigkeit deines Hinterns.“
„Schlaf jetzt, du Nase.“
„Sir, yes Sir! Ach, ich habe die Schiene vergessen. Mach mal Licht.“
„Wusste ich.“
„Was?“
„Dass du deine Schiene vergessen hast. Hab es nicht klicken gehört.“
„Sagst aber nichts?“
„Das machst du immer als Letztes im Bad – dieses Ding einsetzen. Dann weiß ich, dass du gleich kommst.“
„Und freust dich scheckig auf mich?“
„Ja.“
Sie liegt im Koma, er sitzt an ihrem Bett und beobachtet, wie sich ihr Oberkörper im Rhythmus der Beatmungsmaschine hebt und senkt. In ihrem Mund steckt ein Plastikschlauch. Wie beim Tanken, denkt Paul und schiebt seine Hand unter ihre Decke.
„Schläfst du schon, Pummelprinz?“
„Ja, und ich träume von Stille!“
„Ein ganz unrealistischer Traum – nicht?“
„So sind Träume eben.“
„Willst du wissen, was ich gerade denke?“
„Nein.“
„Nein?“
„Nein!“
„Mir ist aber langweilig und Schlafen doof.“
„Träum von Hektik und Action.“
„Ich könnte dich ärgern. Das macht Spaß!“
„Untersteh dich, sonst breche ich dir beide Arme.“
„Machst du nicht. Wir könnten über Weltpolitik quatschen. Haben wir noch nie im Bett gemacht.“
„Lieber ficken.“
„Fein.“
Ihre Haut fühlt sich an wie immer. Wohlig und zart. Vielleicht hast du ausnahmsweise auch warme Füße, denkt er und tastet sich weiter am Oberschenkel entlang, bis seine Fingerspitzen eine Art Strumpf spüren. Sacht streichelt er sich den Weg zurück zur Leiste.
„Ich liebe deine Berührung“, hatte sie gesagt.
„Außer wir streiten.“
„Dann kann ich dich überhaupt nicht leiden.“
„Ich liebe dich auch dann.“
„Ja? Ich dich nicht.“
„Dreh dich auf den Bauch.“
„Ich lege Wert auf die Feststellung, dass die Von-hinten-Stellung erniedrigend und frauenverachtend ist.“
„Halt die Klappe, du Stück.“
Von einer Verletzung zwischen ihren Beinen haben sie ihm nichts gesagt. Wird wohl nicht schaden, wenn er ihre Scham streichelt. Feucht ist sie. Hoffentlich kein Blut, denkt er.
„Ich liebe dich, Großer.“
„Und den Orgasmus, den ich dir verschaffe.“
„Wunderbarrrr.“
„Jetzt schlafen?“
„Ja, mein Pimmelprinz, tief und hart.“
„Gute Nacht, Mary-Jane.“
„Gute Nacht, John-Boy.“
52 Stunden nach dem Unfall stirbt Marita, während Paul ihre Hand hält.
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© Ozeana (2008)