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Schutzengel

****na Frau
1.227 Beiträge
Themenersteller 
Schutzengel
Ich bin keine schöne Person. Mein Gesicht hat nichts Besonderes, mein Körper keine üppigen Rundungen, zartweiche Haut oder aufregend geformte Geschlechtsteile. Mein Charakter ist Durchschnitt, das Temperament gemäßigt, die Intelligenz in der Norm. Ich lebe nach dem Motto: Nimm, was du kriegst, und sei damit zufrieden. Meinethalben hätte mein Leben weitergehen können wie bisher, aber mir wurde ein Riegel vorgeschoben. Ich sitze in einer 10 qm großen Gefängniszelle und schreibe an einem Bericht, den der Anstaltspsychologe morgen abholen kommt.

Bremen, den 18.10.1991

Vor acht Jahren verließ ich um die Mittagszeit die Sparkasse in der Sögestraße und wandte mich Richtung Innenstadt, als ich vor mir ein altes Pärchen bemerkte. Der etwa 70-jährige Mann trug eine blaue Jacke und einen farblich passenden Hut. Die Frau hatte einen beigefarbenen Mantel an und ein grünes Kopftuch umgebunden. Das Paar hielt sich an den Händen. Das gefiel mir, und ich dachte, das sind zwei, die sich noch immer lieben nach all den langen Jahren, die sie miteinander leben. Die Vertrautheit ihrer Hände zog mich hinter ihnen her.

Ich folgte den beiden durch die Innenstadt, wo sie Besorgungen machten. Sie kauften Socken für ihn, ein langes Baumwollnachthemd für sie (beige mit violetten Blüten), lösten in der Apotheke ein Rezept ein, tranken im Domshof-Café je zwei Tassen Schokolade mit Sahne, um dann am späten Nachmittag an der Domsheide in die Linie 8 Richtung Schwachhausen einzusteigen. Während der gesamten Zeit hat der Mann die Hand seiner Frau nur losgelassen, wenn es unbedingt nötig war, zuletzt, um die Haustür in der Heinrichstraße 17 aufzuschließen, wo Rita und Friedrich Wenzel wohnen.

Ich weiß, für andere Menschen ist es schwer zu verstehen, warum ich am Leben der Wenzels teilhaben wollte. Mir ist egal, ob andere mein Handeln verstehen. Zur Erklärung kann ich nur sagen, dass mein Leben verdammt einsam und trostlos war, bis ich die Wenzels traf. In ihrer Nähe habe ich mich zum ersten Mal richtig wohl gefühlt. Dass ich sie jeden Tag beobachtete und ihnen auf ihren Ausflügen in die Stadt, zu Arztterminen und den Besuchen bei ihren Enkelkindern gefolgt bin, habe ich sie nicht spüren lassen. Zu meiner Verteidigung möchte ich noch erwähnen, dass ich außer am Leben der Wenzels auch an dem der Familie Steeger und dem des schwulen Pärchens Schmitter-Rosen Anteil nahm. Weder wurde ich von diesen Personen jemals bemerkt noch angezeigt. Niemandem ist ein Schaden entstanden, deshalb verstehe ich nicht, warum ich psychologisch untersucht werde. Ich habe keinem Menschen geschadet. Auch eine „Verletzung der Intimsphäre“ vermag ich nicht zu erkennen. Ich habe lediglich draußen im Garten gestanden, auf einer Mauer oder einem Vordach gesessen und durch die Fenster hineingesehen. Anderen Menschen beim Leben zuzuschauen, wird wohl nicht strafbar sein. Oder doch? Wenn ich ausnahmsweise ins Leben der Wenzels, Steegers und des schwulen Pärchens eingegriffen habe, dann nur, um zu helfen.

Zum ersten Mal war dies im August 1985 nötig, als ich in eine Situation geriet, die mich dazu zwang, kurz nach Mitternacht in die Kneipe zu laufen, die gegenüber vom Schmitter-Rosen-Haus liegt, um den Notarzt zu rufen. Am frühen Abend waren sie mit einem großen Paket nach Hause gekommen und in den Keller gegangen. Etwa eine halbe Stunde später hörte ich das Geräusch einer Bohrmaschine. Weil es noch hell war, konnte ich nicht näher an das Haus herantreten, wollte ich nicht Gefahr laufen, entdeckt zu werden. Gegen 20 Uhr waren sie fertig mit Bohren und gingen nach oben in die Küche, wo David für Peter und sich Essen kochte. Sie tranken zwei Flaschen Wein, knutschten und tanzten miteinander. Danach gingen sie wieder hinunter. Durch das Fenster konnte ich im Schutz der Dunkelheit erkennen, dass sie in ihrem Sexkeller einen Flaschenzug an der Decke montiert hatten. Peter umwickelte Davids Körper, der nackt war, mit Seilen und band ihm Ledermanschetten um die Fußgelenke. Kopfüber zog er ihn am Flaschenzug hoch und schlug ihn mit einer Peitsche.

Die brutalen Sexspiele der beiden interessierten mich eigentlich nicht. Meist ging ich so lange in die nahegelegene Kneipe und wärmte mich bei einer Tasse Kaffee und einem Tequila auf, bis es an der Zeit war, dass sie Liebe machten. Zu Anfang habe ich diesen Akt oft verpasst, nach und nach aber entwickelte ich ein Gefühl dafür, wieviel Zeit ich Bei Geerkens verbummeln konnte. An diesem Abend aber wandte ich mich nicht sofort ab, weil Peter immer wieder einen Blick an die Decke warf, als wäre er nicht sicher, ob der Flaschenzug halten würde. Mein Gefühl riet mir, zu bleiben und als Schutzengel über sie zu wachen. Es hat dann auch nicht lange gedauert, bis David samt Flaschenzug von der Decke zu Boden fiel. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wer lauter schrie – Peter, David oder ich. Blitzschnell rannte ich zu Geerkens, sagte an der Tür schon: „Gib das Telefon!“ und rief den Notarzt. Ich habe David später in der St.-Jürgen-Klinik besucht, verkleidet als Krankenschwester. Er erzählte mir, dass er wegen der schweren Wirbelsäulenstauchung noch viele Wochen im Streckbett würde bleiben müssen.

In der Zeit, als Peter allein zu Hause lebte und es für mich nichts zu sehen gab, lernte ich die Familie Steeger kennen. Sie wohnen neben Oma und Opa Wenzel und passen auf deren Haus auf, wenn die beiden ihre Tochter in Süddeutschland besuchen. Die Steegers konnte ich anfangs kaum einordnen. Zunächst dachte ich, sie lieben einander und auch ihre beiden Kinder Meike und Jens. Schnell fiel mir aber auf, dass sie nur so lange nett zueinander waren, bis die Kinder zum Spielen gingen oder ins Bett. Keine fünf Minuten dauerte es dann und sie fingen an zu streiten. Im Sommer, wenn die Fenster offenstanden, musste ich jedes Wort mithören. Ab und an hat er sie geschlagen, wenn er wütend war. Sie rächte sich, indem sie ihm Vasen und Gläser an den Kopf oder ins Kreuz warf; meistens aber verfehlte sie ihn. Meike und Jens haben die Streitereien ihrer Eltern mitbekommen und waren voller Sorge, sie könnten sich scheiden lassen. Wenn ich sie allein auf dem Spielplatz traf, versuchte ich sie zu beruhigen. Ich erklärte ihnen, ihre Eltern hätten viel Temperament, etwa wie italienische Eltern, die auch oft laut streiten würden, sich aber doch sehr lieb hätten. Als die Steegers anfingen, ihre Wut an den Kindern auszulassen, war meine Geduld dann aber zu Ende. Ich zeigte sie beim Jugendamt anonym wegen Kindesmisshandlung an. Der fast zweijährige Kampf um das Sorgerecht und der kritische Blick der Medien, die ich einschaltete für den Fall, dass sich die Behörde nicht kümmern würde, hat die Steegers erst zu einem richtigen Paar zusammengeschweißt und ihnen gezeigt, wie wertvoll eine Familie ist.

Oma und Opa Wenzel gehörte von Anfang an mein ganzes Herz. Ich mag die beiden und das Leben, das sie führen. Kein Buch und kein Film wird mir je geben können, was ich durch sie bekam. Ich war zufrieden damit, ihnen nah zu sein und ihre Liebe zu sehen, die in kleinen Gesten, leisen Worten und täglichen Routinen aufflackerte, wie ein Streichholz warmgelb leuchtete, wieder verlosch, um sich anderntags erneut zu entzünden. Um auch das kleinste Detail auffangen zu können, bestellte ich mir gleich zu Anfang im Ausland ein Nachtsichtgerät, wie es beim Militär verwendet wird. Vom Vordach, das ich über die Mülltonne erreichte, hatte ich einen guten Einblick in ihr Schlafzimmer, in dem Opa Wenzel seiner Frau jeden Abend mit einer silbernen Bürste das schulterlange weiße Haar kämmt, nachdem er zuvor den Dutt gelöst und ihr die kleinen Haarnadeln einzeln in die geöffnete Hand gelegt hat. Wenn er mit Bürsten fertig ist, beugt er sich zu ihr hinunter, streicht ihre Haare über die linke Schulter und küsst sie zärtlich auf die rechte Seite des faltigen Halses. Will er sie noch ein wenig necken, pustet er ihr nach dem Kuss ins rechte Ohr; sie giggelt dann wie ein junges Mädchen. Ganz sicher verströmt ihr beigefarbenes Nachthemd mit den kleinen violetten Blüten echten Lavendelduft, wenn sie vom Hocker vor dem Toilettentisch aufsteht, sich umdreht und ihren Mann auf den Mund küsst als Dankeschön für das Haarebürsten und Ohrpusten. Oft lesen sie sich im Bett noch etwas aus ihren Büchern oder einer Zeitschrift vor, und meist ist es Opa Wenzel, der sich nach dem Löschen des Lichts über die Besucherritze hinweg auf den Weg in die Betthälfte seiner Frau macht. Am Kruscheln unter der Decke konnte ich erkennen, dass sich auch alte Menschen immer noch lieben mit allem, was sie haben.

An den Arztbrief gelangte ich zufällig, als ich auf das Gartentor zuging und mich der Postbote bat, die Sachen für Wenzel mitzunehmen. Die Diagnose lautete Krebs, so viel verstand ich. Nun wusste ich endlich, warum Oma Wenzel Anfang des Monats für einen Tag im Krankenhaus gewesen war. Erst wollte ich den Brief behalten, aber weil sie es ja doch erfahren hätten, klebte ich ihn wieder zu und warf ihn nachts in ihren Briefkasten. Ein paar Stunden später hockte ich mich ins Gebüsch unter ihr Küchenfenster. Üblicherweise tranken sie am Vormittag ihre zweite Tasse Kaffee und lasen die Post dazu. Was sie miteinander sprachen, konnte ich nicht verstehen, aber ich hörte Oma Wenzel weinen. Am späten Nachmittag sah ich ihren Mann am Sekretär sitzen und Briefe schreiben. Seine Frau war etwa eine Stunde im Garten, um Unkraut zu zupfen, Blumen zu gießen und mit den Hummeln zu sprechen. Es fiel mir sehr schwer, in Deckung zu bleiben, denn ich spürte einen starken Drang, zu ihnen zu gehen, sie zu trösten und mit ihnen zu besprechen, wie wir gemeinsam gegen den Krebs vorgehen würden.

Gegen 19 Uhr aßen sie Abendbrot und saßen danach noch etwa zwei Stunden plaudernd im Wohnzimmer auf dem Sofa. Ein ungutes Gefühl erfasste mich. Durch die geschlossenen Fenster konnte ich ihre Traurigkeit spüren. Hätte ein Fremder sie so sitzen gesehen, er hätte vielleicht gedacht, dass die beiden über eine Reise oder das Geburtstagsgeschenk für eines ihrer Kinder sprechen. Nicht hören zu können, was die beiden beredeten, schürte mein ungutes Gefühl und machte mich immer nervöser. Ich war mir sicher, dass ich in Wenzels Briefen alle Antworten auf meine Fragen finden würde, vor allem den Tag der Operation oder den Beginn der Bestrahlung. Als ich sah, dass sie nach oben gingen, hielt ich es nicht mehr aus und benutzte meinen nachgemachten Kellerschlüssel, um ins Haus zu gelangen. Zunächst dachte ich, es sei die Aufregung, die mein Herz laut schlagen ließ, aber dann spürte ich, dass der lange Tag, die Sorge um das Leben von Oma Wenzel und die Rund-um-die-Uhr-Beobachtung meinen Nerven furchtbar zugesetzt hatte. Meine Hände zitterten, und plötzlich kam mir der Gedanke, dass die beiden alten Leute heute Abend auf dem Sofa über ihren gemeinsamen Selbstmord gesprochen haben könnten. Die Briefe vom Nachmittag waren vielleicht gar keine Briefe, sondern ihr Testament und letzte Worte für die Kinder und Freunde. Als ich die Kellertreppe hochging, die Tür zum Flur öffnete und sie leise hinter mir schloss, war ich fast sicher, dass ich Recht hatte. Mit einem Mal passte alles zusammen. Deshalb hatten die beiden das Haus heute nicht mehr verlassen, um sich mit dem Arzt zu besprechen, hatten nichts mehr eingekauft und weder den Sohn in Varel verständigt, nach Bremen zu kommen, noch mit der Tochter in Süddeutschland telefoniert. Oma Wenzel wollte ihren Mann nicht alleine in der Welt zurücklassen, wo er seine einsamen Tage vom Maßband würde abschneiden müssen, betend, dass Gott auch ihn endlich zu sich holt. Und wie gut konnte ich sie verstehen! Das waren meine Wenzels – romantisch bis in den Tod!

Gerne hätte ich sie ihren letzten Weg händchenhaltend zu Ende gehen lassen, aber als ihr Schutzengel war es meine Pflicht einzugreifen. Ich riss mir das Nachtsichtgerät vom Kopf, schaltete das Licht an, rannte die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, stürmte hinein, überwältigte Oma Wenzel im Bett und steckte ihr den Finger in den Hals, so lange, bis sie sich auf den Boden erbrach.
„Was habt ihr genommen?“ habe ich die beiden immer wieder angeschrien, aber Opa Wenzel rief nur „Hilfe, Hilfe“ aus dem Fenster. Bevor ich auch ihn überwältigen konnte, damit er sich erbricht, nahm mich die Polizei in Gewahrsam.

Haben sie überlebt?

© Ozeana (2007)
*traenenlach* ...was für eine Geschichte. Du schreibst dir wirklich ein interessantes Leben.
****na Frau
1.227 Beiträge
Themenersteller 
@*********htar

Ich sehe es eher umgekehrt: Das Leben stellt das Material zur Verfügung, ein/e Autor/in macht was Interessantes daraus - im besten Fall Kunst, mindestens aber einen Erlebnisraum für die Leser.
*******nday Frau
159 Beiträge
Liebe Ozeana,
gebannt habe ich bis zur letzten Zeile gelesen und musste hin und wieder schmunzeln. Dankeschön für diese Geschichte, welche so wundervoll das Leben widerspiegelt, egal wie man daran teil oder nicht teil hat.
*********enTe Frau
1.400 Beiträge
Lesenswerter Blickwinkel!
*******nic Mann
388 Beiträge
Achtzig Prozent seiner Welt, so sagt man, nimmt der Mensch mit den Augen wahr. Und wieviel mehr als die restlichen zwanzig baut er sich im Kopf zu einem Haus, einem Straßenzug, einer Siedlung zusammen, so daß alles hübsch wohlgeordnet ist, wenn man es durch seine innere Brille betrachtet.

Wie kommt man sicher über das Drahtseil, das sich im Zwischenmenschlichen spannt?

Danke für dieses kleine Gemälde eines Hauses in einem Straßenzug einer Siedlung, Ozeana.
Thomas
****dat Frau
3.554 Beiträge
Das war einfach großartig! Danke!
*******ant Frau
27.209 Beiträge
Ich habe mich nicht zum ersten Mal gefragt, ob ich gerne mal einen Tag lang in deinem Kopf wäre.
Mit dem Ergebnis, dass ich mir nicht sicher bin, *lach*.

(Joa, Komplimente kann ich. *rotwerd*)

Absolut großartig.
**********_Eyes Mann
143 Beiträge
Es ist mehr als ein Erlebnisraum, den du uns da bietest.
Danke für das phantastische Portfolio, Ozeana...
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