Der Spatz auf dem Dach
Der Spatz auf dem Dach"Wir leben zu einem guten Teil davon, daß wir uns selbst belügen, kleine Veränderungen an unserer Vergangenheit vornehmen und damit unsere eigene Geschichte immer neu umschreiben."
Ich hatte auf dem Nachhauseweg, der mich zu Fuß in die schnell hereinbrechende, regnerische Nacht gen Norden führte, über eine Frau nachdenken müssen. Eine Frau wie Akkordeonmusik aus großen weißen und kleinen dunklen Noten. Ich kenne sie nicht wirklich, Skizzen aus kleinen Lebensstrichen schicken wir uns, Gedankensplitter, Sehnsuchtsgeheimnisse, Pastellfragmente. Klein und unschuldig und vielleicht mit einer beginnenden Wangenröte.
Und während die Schneetropfen das Himmelblau meiner engen Jeans durchnäßten, kaute ich auf der Frage herum, was ich wohl dafür gäbe, sie wirklich kennenzulernen. Wenn ich diese raumgreifenden Schritte, die mich durch den Regen nach Hause trieben, knappe drei Tage ohne Unterlaß durchhielte, würde ich an ihre Tür klopfen können. Es wäre gewiß gegen sechs oder sieben am Abend. Sie würde mich wohl erkennen, glaube ich. Was würden ihre Augen, vor denen seit wenigen Tagen eine Brille sitzt, von ihren Gedanken preisgeben?
Sie schenkte mir ein Bild, und ich nahm es an als eines nur für mich. Es ist von der Art, die man sorgsam in seine Brieftasche einschlägt und nah an der Brust in der Manteltasche trägt. Ihr Blick geht tief, und warme, weiche Wolle hüllt ihren Hals ein. Und ein leiser Gedanke lugt hinter der Litfaßsäule mit dem großen Plakat "Realität" hervor: Wie es wohl wäre, auf diesen Hals einen vibrierenden Schauer zu hauchen? Ob ihre Locken dabei an meiner Nase kitzeln würden?
Einen Spiegel wünsch' ich mir, einen mit tiefen Mandelaugen, in dem ich den Anblick meiner Seele auszuhalten vermag.
Spiegel möcht' ich sein für Mandelaugen und Locken und Lippen so voll und schön.
Ich stand im Hof vor der Tür zum dunklen Treppenhaus. Vom Schirm der Mütze tropfte der Regen auf meine Schuhe.
Ich hatte mich in meine eigenen Gedanken geträumt.
Als ich meinen Blick hob, lächelte ich mir im Glas der Scheibe zu.
Am Himmel stand ein zunehmender Mond hinter den Wolken.
*Maria Rzhevskaya: Kogda ya stanu koshkoy