Berührung
Er hatte mit sich gerungen, seine Fahrt zu ihr auf den nächsten Morgen zu verschieben und darauf zu hoffen, dass er es in drei Stunden schaffen könnte, statt wie jetzt, wo die Schneeräumdienste noch dabei waren, die Autobahnen einigermaßen befahrbar zu machen, die Fahrzeit schwer kalkulierbar war. Doch ihm war nicht nach einem Buch oder dem Herumzappen im Fernsehprogramm, das Wochenende war zu kurz für den Verzicht auf diese Stunden, die er mit ihr verbringen konnte. Er rief sie an, sie versuchte, ihm abzuraten, noch am späten Nachmittag loszufahren, ließ es dann aber, weil sie spürte, dass sein Entschluss feststand. „Fahr vorsichtig, versprich es mir.“ Er versprach es ihr.Natürlich war das Vorhaben dumm gewesen, es wurde ein Höllenritt. Er zählte 12 kleinere bis mittlere Unfälle, die er zu passieren hatte. Einmal musste er sogar die Autobahn verlassen, weil mehrere LKW im Abschnitt einige Kilometer vor ihm ineinander verkeilt waren. Der Umweg allein kostete ihn eine Stunde. Es war kurz nach 23 Uhr, als er bei ihr ankam. Als Mann war es ihm nicht gegeben, ihren Blick zu deuten, mit dem sie ihm sekundenlang etwas zu deuten gab, bevor sie ihn hineinließ. Sie umarmte ihn für einige Momente nur für sich, bis er seine Verspanntheit ablegte und auch Teil der Umarmung wurde. Allein das schon hätte ihm gefehlt, wäre er nicht gefahren.
Im Wohnzimmer nahm er auf dem Sofa Platz, sie fragte, ob er gerne einen Kaffee oder ein Bier hätte. Er wollte beides und sie schlug vor, sie könnten es sich teilen. Als er sie fragend anblickte, meinte sie „Natürlich beides“. Er lächelte und spürte, wie er ankam. Sie brachte alles, stellte eine Schüssel mit Chips und eine kleinere mit Nüssen dazu, holte die Fernbedienung für den Fernseher und den Streaming-Dienst und übergab sie ihm. Dann legte sie sich neben ihn auf das Sofa, bettete ihren Kopf in seinem Schoß, streichelte sein Bein. Er schaltete die Geräte ein, räumte sein Bierglas zur Seite, damit es nicht ihren Blick auf den Fernseher versperrte und gab ihr die Fernbedienung für den TV-Stick.
Er brauchte die freie Hand, um ihr Haar zu streicheln und sie überall dort berühren zu können, wo sein Arm hinreichte. Sie wählte etwas aus der ARD-Mediathek, die seiner Ansicht nach überhaupt nur für Frauen angelegt wurde, und es war ihm recht. Er spürte ihre Wärme, vielleicht floss auch etwas von der Energie seiner Hände, die ihren Ursprung in einer ganz besonderen Quelle hatte, zu ihr. Er mochte ihr das zumindest zu verstehen geben. Jede Berührung stellte mehr Nähe her, es fühlte sich einfach gut an, sie fühlte sich gut an.
m.brody
2021