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Johanna

Johanna
Drei Gedanken vorweg. Es ist KEINE erotische Geschichte. Es ist eine phantastische Liebesgeschichte und ich fürchte fast, dass ich nicht gut genug bin, sie so geschrieben zu haben, dass man „Solaris“ von Lem gelesen haben muss, um sie zu verstehen. Zuletzt: Die Psychologen/Neurologen mögen mir verzeihen. Ich hatte Eure Hilfe nicht beim Schreiben. Vielleicht kommt sie ja noch ...
Und jetzt, trotzdem: Gute Unterhaltung!

Rainer


Gott hat die Menschen geschaffen, ihn anzubeten. Obrigkeit, Kirche und Krieg, sie immer daran zu erinnern und die Hölle, auf dass die Seelen jener, die den Kopf nicht beugen wollen, in ihrem Feuer ewige Pein erleiden. So macht man es die Leute glauben, und nichts davon ist wahr. Die Hölle ist nicht heiß, sondern kalt; so sehr, dass die arme Seele, die sich dahin verirrt, nicht abgefackelt, sondern schockgefrostet wird. Dieses Reich der Verdammnis existierte lange, bevor es auf der Erde jemanden gab, der genug Hirn gehabt hätte, an einen Herrn über ihm zu glauben. Es ist die Antarktis und Robert Falcon Scott schrieb über sie in sein Tagebuch: „Großer Gott! dies ist ein schrecklicher Ort.“
Stürme wie ich sie nirgendwo sonst gesehen habe, rasen über ihren kilometerhohen Eispanzer in einer sechsmonatigen Nacht, die so rabenschwarz ist wie das Herz eines Kredithais und in der die Temperaturen in Bereiche fallen, in der Flüssigkeitsthermometer einfach nur zerplatzen. Schützt du dich vor der Kälte, schickt sie dir einen Blizzard auf den Hals; gehst du vor dem Sturm in Deckung, reißt sie das Eis unter deinen Füßen auf; stehst du auf festem Grund, rollt sie häusergroße Felsen heran und hast du das alles überlebt, spielt der Kompass verrückt und du findest den Weg zurück nicht mehr. Sie verzeiht keine Fehler und zu glauben, sie besiegt zu haben, ist einer. Scott war auf dem Rückmarsch vom Südpol, hatte schon das Basislager vor Augen, da schlug sie ein letztes Mal zu und schickte einen Schneesturm. Er erfror jämmerlich, nur ganze achtzehn Kilometer von der Rettung entfernt.
Das kann keine Natur sein, niemals kann ich das glauben, erst recht nicht nachdem, was in den letzten Tagen hier geschehen ist. Irgendwo hier lauert ein tückischer Verstand und jede Nacht höre ich seinen Ruf wie Odysseus den Gesang der Sirenen. Er ruft nach mir, will ein neues Kräftemessen mit mir, will eine neue Chance, mich umzubringen. Warum nicht auch die anderen? Hakonsen? Johanna? Nur ich ... oder wollen sie ihn nicht hören?
Es ist die letzte Nacht, die ich so noch ertragen kann. Dann werde ich mich ihm stellen. Morgen früh, von Angesicht zu Angesicht ...


Ein Kälteschauer rann mir den Rücken herab und ich schlug das Tagebuch mit dem abgegriffenen roten Ledereinband von Thore Wejndahl zu. Es hatte einen fast wundersamen Weg zurückgelegt, bis es irgendwann zwischen den Patientenakten auf meinem Schreibtisch gelandet war und das, was ich eben gelesen hatte, war der letzte Eintrag darin, den er selbst geschrieben hatte. Ich hatte den norwegischen Expeditionsleiter nicht gekannt und wusste nicht mehr über die Antarktis, als ich in der Schule gelernt hatte. Hingegen kannte ich von Berufswegen uns Menschen besser, als mir manchmal lieb war. Wir waren hilflos, wenn wir der Natur ohne Technik gegenüberstanden; kommunikations- und gefühlsunfähig ohne unsere Smartphones mit Rechtschreibprüfung und Smileys und panisch, wenn wir bei einer Überlandfahrt einen Atemzug ohne Pollenfilter machen mussten. Wenn wir auf die Urkräfte der Natur trafen, sahen wir überall Heimtücke und es konnte es gut sein, dass Thore Wejndahl in seinen letzten Stunden den Gegner, mit dem er sein ganzes Leben lang als Antarktisführer gerungen und der ihn letztendlich besiegt hatte, vermenschlicht hatte. Wir und die gleiche Natur, die uns hervorgebracht hatte – wir waren keine Freunde mehr und ich fragte mich, ob es auf den anderen Erden auch so war.

Vor über fünfzig Jahren, neunzehnhundertfǘnfundsechzig, hatte Sergej Rachmantikow, ein junger sowjetischer Astrophysiker, auf einem Symposium in Moskau gesagt, dass Wissenschaft nicht bedeutet, auf alles eine Antwort zu haben, sondern die richtigen Fragen zu stellen, selbst dann, wenn sie unpopulär sind und bisherige, als unabänderlich geltende Wahrheiten in Frage stellen. Man hielt es für den Allgemeinplatz eines Profilierungssüchtigen und er bekam, natürlich, höflichen Beifall. Doch er hatte nur die Frage vorbereitet, um die es ihm wirklich ging und die lautete: Auf welcher der denkbaren Erde leben wir?
Nachdem er sie gestellt hatte, klatschte niemand mehr, Totenstille herrschte im Saal, bis die ersten begriffen, dass seine Frage implizierte, dass es mehr als eine Erde geben könnte. Dann lachten sie los, andere fielen ein, wie ein Lauffeuer breitete es sich aus, bis schließlich der ganze Saal dröhnte vor Lachen und Rachmantikow wie ein geprügelter Hund mit gesenktem Kopf das Podium verließ.

Zehn Jahre lang vergrub er sich in Selentschukskaja im Kaukasus an seinem Arbeitsplatz, dem damals größten Spiegelteleskop der Erde. Dann veröffentlichte er seine zweite Doktorarbeit, in der er auf brillante Art und Weise seine eigene Frage beantwortete: Niemand weiß, wie viele Erden existieren, denn alles, was ist, oszilliert; Universen durchdringen sich in Raum und Zeit und bilden ein Multiversum, in dem die Existenzausprägungen der Sterne, Planeten, ja sogar jedes Elementarteilchens und Energiepartikels im gleichen Raum zur gleichen Zeit existieren können, aber nicht müssen und die Anzahl dieser Erdausprägungen sich indirekt proportional zur Schwingungsfrequenz dieses Multiversums verhält. Er bewies, dass die Anzahl der existierenden Erden berechenbar ist, unter der Voraussetzung, dass diese Schwingungsfrequenz gemessen werden konnte und dass sie in jedem Fall größer ist als eins.
Seine Arbeit strotzte vor Formeln und Berechnungen, die nur die wenigsten verstanden, aber sie hielt jeder Kritik stand und schlug ein wie eine Bombe, nicht nur in der Sowjetunion, sondern in der gesamten Welt der Wissenschaft.

In dem einzigen Interview, dass er danach gab, sagte er: „Ist es nicht schön, zu wissen, dass wir Menschen definitiv nicht allein sind, nicht die unwiederholbare Krönung der Schöpfung sind und unsere intelligenten Brüder und Schwestern keine glupschäugigen Schleimmonster, sondern Menschen wie wir? Alles, was wir tun müssen, ist das Tor zu ihnen zu finden und ich bin davon überzeugt, dass es irgendwo hier auf unserer Erde befindet. Ich glaube nicht, dass wir uns sehr unterscheiden. Nicht einmal, dass wir uns unterschiedlich entwickelt haben. Auf jeder unserer Schwestern wird es auch ein Moskau geben und einen Baikalsee.“
Doch das Tor dahin auf unserer Erde zu finden, musste er anderen überlassen. Nur wenige Tage nach diesem Interview starb er an einer Hirnblutung.

Hatte er recht gehabt? Das Tor war nie gefunden worden und aus der anfänglichen Euphorie war nach und nach Ernüchterung geworden, bis sich irgendwann nur noch wenige Wissenschaftler mit der Suche danach beschäftigt hatten. Der Bau von Raketen und die Erforschung des Weltraums waren einträglich für die, die damit ihr Geld verdienten, einträglicher als durch ein simples Tor zu einer anderen Welt zu gehen. Vielleicht wollte man es auch gar nicht, denn wenn Rachmantikow recht gehabt hatte, könnte es vielleicht unter diesen Erden eine geben, in der die Antarktis Thore Wejndahls ein blühender Garten war; eine Welt, auf der die Menschen gelernt hatten, im Einklang mit der Natur zu leben, statt sie zu zerstören wie wir es taten und in der es keinen Weltkrieg gegeben hatte – es wäre für die kleinen und großen Potentaten unserer Zeit eine Katastrophe, bräche doch ihre Lüge von der besten aller Welten, in der wir leben sollten, für alle sichtbar zusammen.

Vielleicht gab es sogar eine Erde, auf der Schwerin keine Millionenstadt war, sondern nur ein Provinznest. Was dann doch ziemlich schwer vorstellbar war, wenigstens für mich. Meine Heimatstadt war zwar nicht das Zentrum des Universums, aber sie quoll aus allen Nähten und wohin ich auch schaute, überall wuchsen neue Häuser so schnell empor wie Birkenschösslinge zwischen verlassenen Bahngleisen.

Irgendwo fiel leise eine Tür ins Schloss. Es war kurz nach zehn abends, wahrscheinlich lösten sich die Schwestern gerade ab. Ich schaltete die Schreibtischlampe aus und reckte mich. Ich sollte besser nach Hause gehen, meine Gedanken machten ohnehin Bocksprünge. Durch das Halbdunkel des Flurs ging ich zum Automaten und drückte den Knopf für einen Kaffee. Der Becher fiel in die Halterung und leise zischte das kochende Wasser in der Maschine; beruhigende Geräusche voller Normalität, in meiner kleinen Stationswelt hier in der psychiatrischen Klinik keine Selbstverständlichkeit. Der Ausgabearm fuhr heraus, ich entnahm den Becher, stellte mich ans Fenster und blickte über den nachtdunklen Schweriner See.

Die Lichter der Skyline der Stadt überstrahlten den Glanz der Sterne, ganz vorne der monströse Tower von NordicSF, der Ort, an dem Ragnar Borg jetzt das Sagen hatte und nicht weit davon entfernt der Koloss der Europabank mit dem gigantischen Hologramm der Europafahne darüber. Neun Sterne für neun, ja, was eigentlich? Staaten nannten sie sich nicht mehr, Staaten hatten Grenzen, deswegen waren auch nur noch neun geblieben, weil die anderen ihre dicht gemacht und gesagt hatten, ihr könnt uns mal – also neun irgendwas zum Geldschöpfen und Steuern einsacken.

Es war lange her, dass ich einmal geglaubt hatte, dass dieser Anblick ein Sinnbild meiner Welt war; geglaubt hatte, dass nur Menschen in ihr lebten, die liebten und hassten; manchmal auch zornig wurden oder dumme Dinge taten; die gesund oder krank waren, arm oder reich, jung oder alt und nichts weiter. Dass es hinter dem schönen Schein noch eine andere Welt gab, in der Menschen kalten Herzens das Blut von Ihresgleichen vergossen oder – noch schlimmer - vergießen ließen, hatte ich lange nicht wahrhaben wollen, bis ich ihnen begegnet war. Seit dreißig Jahren tauchte ich ab in die Tiefen menschlicher Seelen und noch immer konnte ich nicht akzeptieren, dass ich dabei manchmal in einer Jauchegrube schwimmen ging; konnte ich nicht verstehen, dass es Menschen gab, die sich selbst weder als grausam noch als brutal ansahen, obwohl für sie der Unterschied zwischen dem Fällen eines Baumes und dem Töten eines Widersachers nur in der Höhe der Summe bestand, die sie aus ihrer Portokasse dafür bezahlen mussten, und in der Wahl des richtigen Werkzeugs.

Etwas stach mir in die Hand und ich blickte nach unten. Ich hatte den leeren Kaffeebecher zerquetscht. Zu viel Arbeit, zu viele Stunden hier, zu viele Jauchegruben in den letzten Jahren – es wurde wirklich Zeit für mich, Feierabend zu machen. Ich holte mir noch einen Becher Kaffee für die Fahrt nach Hause, hinterließ der Nachtschwester ein paar Zeilen und machte mich auf den Weg zu meinem Wagen.

Wolken zogen vor den Mond, als ich aus der Tür trat, die bioluminiszenten Leuchtstreifen im Gehweg erhöhten sanft ihre Lichtintensität und die schiefe Sommerlinde am Ende des Wegs zum Ausgang der Klinik, unter der ich meistens, außer im Sommern natürlich, meinen Wagen parkte, wies mir mit ihrem Duft den Weg. Jemand hatte letztes Jahr ein Herz und einen Pfeil, der es durchbohrte, in ihre Borke geritzt, die Rinde war vernarbt, das Herz sah aufgequollen aus und an der Stelle, an der es der Pfeil getroffen hatte, war es in zwei Teile zerbrochen. Trotzdem hatte das verletzte Herz den schiefen Baum nicht davon abhalten können, zu blühen, wie er es schon seit vielen einhundert Jahren immer im Sommer getan hatte und seine Pollen machten aus der lauen Mittsommernacht ein Sinnesfeuerwerk. Wie der sanfte Abschiedskuss einer Geliebten - tief atmete ich ihn ein und wieder fragte ich mich, auf welchen krummen Pfaden meine Gedanken heute Nacht unterwegs waren.

„Sie arbeiten zu lange.“ Eine Gestalt trat hinter dem Baum hervor und mit einem satten Geräusch klatschte mein Kaffeebecher auf die Bodenplatten, Spritzer landeten auf meinen Füßen und ich verhielt mitten im Schritt.

„Womit bewiesen wäre, dass mein Gewissen weiblich ist.“ Es war das erstbeste, was mir einfiel.

„Ein Mensch mit Gewissen. Ich bin begeistert.“

Ihre Stimme war deutlich und akzentuiert, mit einer Vibration in den Untertönen, die in schlaflosen Nächten dafür sorgt, dass man sich wünscht, sie weiter zu hören, weil es eine Stimme war, die die Seele streichelte. Dunkel, fast rauchig. Eine schöne Stimme, was den Spott darin nur umso ätzender machte.

Ich drehte mich um. „Das bezweifle ich. Aus dem Alter, in dem es Frauen für sinnvoll erachtet haben mochten, mir aufzulauern, bin ich heraus. Wenn ich es genau bedenke, hat mir nie eine Frau aufgelauert.“

Nur Patientinnen, aber das war ein kalkulierbares Berufsrisiko als Stationsarzt der Psychiatrie und damit konnte ich umgehen. Damit, dass mir eine Frau mitten in der Nacht hinter einem Baum auflauerte, eher weniger. Sie war dunkel gekleidet, wirkte kräftig und größer als ich. Was nichts bedeuten musste, ich war nur mittelgroß und der tägliche Stress sorgte dafür, dass ich schlank blieb. Ihr Alter mochte irgendwo zwischen dreißig und vierzig liegen. Es war nicht hell genug, als dass ich mich auf eine genauere Schätzung eingelassen hätte. Ohnehin schien sie eine von jenen Frauen zu sein, bei denen jeder Mann bei einer Altersschätzung nur ins Fettnäpfchen treten konnte. Tizianrote Locken fielen ihr ungebändigt fast bis zur Hüfte herab, ihr ovales Gesicht war bleich. Im Mondlicht wirkte es wie aus Marmor gemeißelt und die wie bei einer Orientalin leicht schrägen Augen schimmerten in einem so intensiven Grün, das jede Raubkatze neidisch geworden wäre.

Scheinbar locker stand sie vor mir und doch wehte ein Hauch von Angespanntheit zu mir herüber. Wie eine Angestellte der Klinik wirkte sie nicht und wie eine Patientin schon gar nicht. Natürlich konnte ich mich irren - ich hatte auch schon einmal einen Pfleger an seinem ersten Tag für einen Patienten gehalten und zur Tanztherapie schicken wollen. Immerhin verzichtete er am nächsten Tag dann auf Jesuslatschen und Dreadlocks und erschien sogar pünktlich zum Dienst.

Sie hatte sich mit dem Rücken an den Baum gelehnt, ein Knie angewinkelt und malträtierte mit dem Absatz einer Stiefelette den Stamm. Wäre ich die Rinde gewesen, ich hätte geschrien.

„Haben Sie sich eine Meinung gebildet?“ Sie ließ die Arme fallen und stieß sich mit den Schultern vom Stamm ab. „Dann lassen Sie uns ein Stück gehen.“

Wenn ich beim Schachspielen etwas nicht mag, dann sind es Eröffnungszüge, die in keiner Bibliothek stehen. „Aber gerne. Ich wollte Sie ohnehin fragen, ob ich Sie nicht zu Ihrer Station begleiten soll. Wenn der Nachtschwester auffällt, dass sie fehlen, bekommen Sie Ärger.“

So schnell, dass ich nicht einmal sah, wie sie die zwei Schritte zu mir machte, packte sie mich bei den Aufschlägen meiner Jacke. „Ich könnte Sie schlagen.“

Sie fuhr sich dabei mit der Zunge über die Lippen, als würde sie Lust empfinden oder würde sie empfinden, wenn sie es tat. Unauffällig warf ich einen Blick nach links und rechts, doch nirgendwo rührte sich etwas. Vorsichtig erwiderte ich: „Wahrscheinlich. Ich bin ein alter Mann, viel Spaß würden Sie daran wohl kaum haben. Lust vermutlich noch weniger.“

Wieder huschte ihre Zunge über die Lippen wie eine kleine rosafarbene Schlange. „Was wissen Sie schon von Lust?“

Wenig, dafür umso mehr von den Abgründen, in die sie Menschen zerren konnte. Ich hatte täglich mit ihnen zu tun, aber das ging sie nichts an. Gar nichts ging sie hier etwas an. Sie hatte einen erstaunlichen Griff und ihn keine Sekunde gelockert. Mit aller Ruhe, die ich aufbringen konnte, sagte ich: „Lassen Sie mich bitte los.“

Zögerlich gab sie mich frei, glättete mit der Hand meine Jackenaufschläge und wiederholte: „Gehen sie ein Stück mit mir. Dann werden Sie verstehen. Bitte.“

„Nein.“

Ich ging um den Wagen herum und öffnete die Tür. Sie seufzte. Es klang nicht sonderlich echt. Das, was dann kam schon: „Ich könnte natürlich auch Borg sagen, dass Svensson bei Ihnen so etwas wie eine Beichte abgelegt hat. Was denken Sie, würde Borg dann tun? Mit Ihnen?“

Ich erstarrte. Ragnar Borg war der Sektionschef Deutschland von NordicSF und der Statthalter Hakonsens hier in Schwerin. Er war auch derjenige, der persönlich Svensson in der Antarktis eine Kugel in den Rücken gejagt und ihn so zur Strecke gebracht hatte. Die Kugel steckte noch immer in Svenssons Rückgrat und er konnte nur noch den Kopf und den rechten Arm bewegen. Borg hatte eine Operation untersagt und ihn für alle Welt für tot erklärt. Dass ich Svensson noch als Elfjährigen gekannt hatte, hatte mir ein paar mehr als nur unangenehme Fragen von Borg und seinen Leuten eingebracht, aber ich hatte glaubwürdig genug simulieren können, dass ich nichts wusste. Dass Svensson mir erzählt hatte, dass er seiner Geliebten Johanna Hakonsen das Genick gebrochen hatte und dass das der Grund war, warum er dreißig Jahre später hier in Schwerin im Alleingang fast den ganzen Konzern Hakonsens im Blut seiner Vorstandsmitglieder ersäuft hatte, hatte er dem Arzt erzählt. Auch wenn dieses Krankenhaus hier wie so vieles anderes in der Welt Johannes Hakonsen gehörte, war mir das Arztgeheimnis heilig und deswegen hatte ich mich von Borg nicht weichklopfen lassen. Doch wenn er von diesem Gespräch erfuhr, würde er auch vor einem alten Arzt nicht Halt machen. Damit stellten sich zwei Fragen: Woher wusste sie das und was wollte sie von mir?

Sie wartete ein paar Schritte entfernt. „Beschleunigen Sie Ihre Denkprozesse etwas, Doktor und dann kommen Sie. Ich meine es ernst.“

Einen Moment zögerte ich noch, dann warf ich meine Tasche in den Wagen. Was blieb mir anderes übrig? Ich hätte schreien können oder weglaufen, aber irgendetwas sagte mir, dass beides keine gute Idee war. Die Kraft, mit der sie meine Jackenaufschläge gepackt hatte, war erheblich gewesen.

Sie hakte sich bei mir ein und nach einigen Minuten, in denen sie mich stumm zwar sanft, aber bestimmt in Richtung des Parks gesteuert hatte, sagte sie: „So bin ich auch mit Chrrristian spazieren gegangen, als er mich hier besuchen kam.“

„Sie waren noch nie Patientin hier. Ich sehe Sie zum ersten Mal.“

Erst, als ich geantwortet hatte, fiel mir auf, dass sie Svensson beim Vornamen genannt hatte und auf eine besondere Art, wie jemand, der ... ihm sehr nahe steht. Niemand hatte ihn beim Vornamen genannt, nicht einmal er sich selbst. Weil kein Mensch auf der Welt ihm noch nahe stand.

Sie lächelte mit schmalen Lippen, als wüsste sie es besser. „Ich habe nur auf den Busch geklopft. Anders hätte ich Sie wohl kaum überreden können. Er hat also mit Ihnen geredet und Sie haben Borg nichts davon gesagt.“

„Vorher. Bevor er in die Antarktis ging. Eine Geschichte von Blut und Tränen, in der nicht einmal er, der sie doch vorangetrieben hatte, einen Sinn erkannte. Nur seine Endstation und die unsichtbare Hand eines zu ihm nicht gerade gnädigen Schicksals.“

„Es war weder das Schicksal, noch unsichtbar, aber man sieht immer nur das, was man sehen will. Selbst er ...“

Wir kamen an einer alten Holzbank vorbei, die einzige im ganzen Park, wenn ich mich noch recht erinnerte. Man hatte sie wohl übersehen, als Hakonsen und NordicSF hier alles modernisiert hatten. Nicht einmal die Bänke hatten sie vergessen, überall standen sie herum – hässliche braune Dinger aus Plastik mit Wärmefäden unter der Sitzfläche, die sich einschalteten, sobald sich ein Patient darauf niederließ und mit einem Solarpaneel, das dafür die Energie lieferte, wenn die Sonne schien.

„Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Doktor.“ Sie blieb stehen. „Ich kann keiner Fliege etwas zu Leide tun. Wir waren es immer, die Angst vor euch hatten und als ihr vor fünfzigtausend Jahren das Feuer für euch entdeckt habt, wussten wir, dass es Zeit war für uns, zu gehen.“

Ich habe Unglaubwürdigeres von meinen Patienten gehört als diesen Satz. Wenigstens bewirkte er, dass sich wieder etwas von dem Arzt meldete, der ich doch war. Der nicht urteilt, der nur Gefährte ist auf der Suche nach dem Ausgang aus dem Irrgarten einer kranken Seele und hofft, dass der Patient auch die Kraft findet, durch diesen hindurch zu gehen, wenn er nach Wochen oder Monaten endlich gefunden ist. Wie es aussah, musste ich für sie nach einem Scheunentor Ausschau aushalten.

Sie ließ mich los, setzte sich auf die Bank und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. „Kommen Sie, setzen Sie sich ein bisschen zu mir. Mögen sie düstere Legenden?“

Nein, mochte ich nicht. Nicht jetzt, nicht außerhalb der Dienstzeit, in der ich genug davon hörte, die nicht nur düster, sondern schwärzer als die Nacht waren und eigentlich überhaupt nicht. Ich mochte jetzt zu meinem Auto gehen, nach Hause fahren und eine Tablette gegen Wahnvorstellungen von Frauen, die einen ahnungslosen Psychologen mitten in der Nacht in einen dunklen Wald entführten, nehmen. Aber es sah so aus, als würde ich damit noch ein bisschen warten müssen.

Ich setzte mich neben sie und wenn ich ein bisschen zu theatralisch dabei stöhnte, so ignorierte sie es wenigstens. Eine Weile schwieg sie und atmete schwer, als müsste sie Kraft sammeln, dann sagte sie: „Ich habe ein bisschen recherchiert. Ihre Art, mit Verrückten wie mir umzugehen, genießt einen gewissen Ruf. Lassen Sie mich sehen, ob er richtig ist. Also, vor langer Zeit lebten die Affen in den Bäumen und die Menschen auf der Erde. Die Affen ernährten sich von Früchten und kleinen Tieren und wurden von Gefühlen geplagt; die Menschen ernährten sich von der Energie des Wassers und des Windes, ihr Denken war so geradlinig und klar wie das Strahlen der Sonne; Mitleid, Schmerz, Furcht, Gier, Hass und ... und ... Liebe ... so etwas kannten sie nicht, ja, sie verstanden es nicht einmal. Trotzdem war ihnen tiefe Ehrfurcht vor jedem Leben, egal, ob Pflanze, Tier oder Affe, in die Gene geprägt. Aber den Affen genügten die Bäume nicht, sie stiegen herab, lernten, aufrecht zu gehen und das Feuer zu bändigen und die Affen, die am lautesten brüllen konnten, machten sich zu Oberaffen und bestimmten über die Affen, die nur eine leise Stimme hatten. Immer mehr wurden sie und die Menschen flohen vor den Affen, die nicht einmal Respekt vor dem Blut ihrer eigenen Art hatten, auf eine einsame Insel. Doch ihre Hoffnung auf Frieden währte nur ein paar tausend Erdumläufe um die Sonne. Die Oberaffen ließen Schiffe bauen und egal, wie viele von ihnen das Meer auch verschlang – die Affen eroberten eine Insel nach der anderen und kamen immer näher. Die Menschen schufen sich biologische Maschinen, die sie versorgten und verschwanden von der Oberfläche der Erde. Alles, was den Affen blieb, waren Legenden über Götter, über die Großen Alten, die aus einer fernen Welt gekommen waren – was nicht stimmte - und deren Untergang. Die Menschen richteten ihr Interesse auf Dinge, die größer waren als sie und schlossen die Affen aus ihrer Wahrnehmung aus. Das war ihr erster Fehler und er sollte sich bitter rächen. Langweile ich Sie, Doktor?“

Es war gut, dass sie mich aus ihren Phantasien herausriss. Satz für Satz war es mir schwerer gefallen, bei mir selbst zu bleiben. Ihre leise Stimme hatte etwas Suggestives und mich zusammen mit dem Rauschen des Windes in den Kronen der Bäume fortgetragen in ihre Welt, ihr Innerstes. Das ist in meinem Beruf ein unverzeihlicher Fehler. Ihre Frage holte mich wieder zurück und fast war ich ihr dankbar dafür. Hatte sie es mit Absicht getan?

„Wenn es so wäre, würde es etwas ändern?“, antwortete ich.

„Nein. Worte ändern nichts.“ Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, dann legte sie wieder auf ihr Knie. Es war eine schöne Hand, mit langen Fingern, ohne Falten und hervortretenden Adern auf dem Handrücken und mit kurzen schlanken Nägeln. Junge Mädchen, die nie hart gearbeitet haben, besaßen solche Hände. Ich sah ihr die Kraft nicht an, mit der sie mich vorhin gepackt hatte.

„Worte haben noch nie etwas geändert“, wiederholte sie. „Nur Taten, im Guten wie im Bösen und manchmal ist es nicht einfach, dazwischen zu unterscheiden. Die Oberaffen ließen immer größere Waffen bauen und die Menschen taten etwas, was ihrer Natur zuwiderlief: sie mischten sich ein. Viele Affen starben deswegen und es stürzte die Menschen in einen tiefen Konflikt mit sich selbst. Ihre Kenntnis der kosmischen Gesetze war weit fortgeschritten, aber sie anzuwenden, hatte sie nie interessiert. Macht hatte sie nie interessiert, Zeit nichts bedeutet, Eile hatten sie nicht gekannt - sie waren stille Beobachter dessen gewesen, was ist, was war und was sein wird; kalte, machtlose Götter, die auf einmal begreifen mussten, dass ihre Zeit abgelaufen war und so lernten sie dann zum Schluss doch noch ein Gefühl kennen: Angst.“

Sie verstummte und ich wartete, ob es noch eine Fortsetzung gab. Doch sie schaute nur mit leerem Blick über den See. Ich sah so einen Blick nicht zum ersten Mal, zeitliche und räumliche Desorientierung konstatierte ich für mich. Das Schlüsselwort hatte sie gesagt: Angst. Nicht die ihrer ominösen Götter, die schob ihr Unterbewusstsein nur vor. Es war ihr eigene Angst, die sich so manifestierte. Doch sie machte nicht den Eindruck, als ob sie Hilfe annehmen wollte und wenn es so war, gab es wenig, was ich für sie tun konnte. Außer, es wenigstens zu versuchen.

Langsam stand ich auf und sagte mit der gleichen Stimme, mit der ich schon viele tausend Male in solchen Momenten gelogen hatte: „Ich denke, wir sollten gehen. Versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen, dann kommen Sie morgen bei mir vorbei und ich bin sicher, dass wir ihnen helfen können.“

„Glauben Sie an Schicksal, Doktor?“

Sie schaute mich an, aber ihr Blick sagte mir, dass sie immer noch nicht wieder bei mir war. Ich streckte meine Hand aus: „Kommen Sie.“

Schwer zog sie sich an meiner Hand empor und diesmal war ich es, der sie führte. Nach ein paar Schritten sagte sie: „Die Menschen mussten nicht an Schicksal glauben. Sie wussten, dass es existiert und sie ergaben sich darin. Doch bevor sie das taten, erschufen sie ein Wesen, das aussah wie ein Affe, verweigerten ihr jedoch deren Gefühle und gaben ihr stattdessen all ihr Wissen und einen Auftrag: Zu verhindern, dass sie jemals entdeckt wurden. Dann löschten sie das Wissen um ihre Herkunft in ihrem Gehirn und verdammten sie zu einem Leben unter den Affen.“

Es war nicht schwer, zu erkennen, was sie mir sagen wollte. Manchmal denke ich auch, dass ich von Affen umgeben bin, auch wenn mich dann sofort das schlechte Gewissen plagt und ich mich schnell wieder zur Ordnung rufe. Das ist eine typische menschliche Eigenschaft, es sei denn, sie wird bestimmend wie bei ihr. Dann ist es keine Eigenschaft mehr, sondern eine Erkrankung der Seele. Meistens ist sie heilbar.

Wir standen wieder an meinem Wagen. Ich drückte ihren Arm, dann ließ ich sie los. Ich wusste, dass ich ihr jetzt nicht vorschlagen durfte, mit mir in die Klinik zu gehen. Immer noch hatte ich im Hinterkopf, dass sie mir mit Borg und Svensson gedroht hatte. Warum und wie so, war nicht so wichtig. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es im Dunstkreis dieser beiden Männer überproportional viele kranke Seelen geben musste. Wahrscheinlich war sie eine davon.

Ich sagte: „Ich bin so ab zehn in der Klinik morgen. Kommen Sie vorbei und wir reden ein wenig. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“

„Sie wollen einer armen Seele aus dem Dunkel der Verdammnis helfen? Kein Vertun? Sie überschätzen sich, Doktor.“

Eisiger Spot troff aus ihren Worten und plötzlich war sie wieder die Frau, die mich vorhin gepackt hatte. Sie straffte sich und ihr Blick klärte sich. „Dann sagen Sie Borg, dass er mich haben kann. In zwei Tagen, wenn die Sonne über der Klinik, in der er Chrrristian vor mir versteckt, am höchsten steht und er mich fünf Minuten mit ihm sprechen lässt. Sagen Sie ihm das, Doktor!“

Es war nicht ihre Stimme, die, auch wenn sie wie das Knallen einer Peitsche geklungen hatte, mich erstarren ließ. Es war etwas ganz anderes: Ich kannte nur einen Menschen, der jemals und das auch noch ziemlich häufig, das Wort „vertun“ gebraucht hatte – Christian Svensson. Mein Kopf knüpfte Verbindungen, die es nicht geben konnte, nicht geben durfte ... „Wer sind Sie?“ Mehr brachte ich nicht heraus.

„Das werden Sie wissen, wenn Sie mir die fünf Minuten bei Svensson verschaffen.“

Ich schrie: „Ihr Name!“

Ihre Antwort klang, als spuckte sie mir ins Gesicht: „Ich bin ein Affe, Doktor, nichts weiter als ein Affe. Mit Gefühlen, die ich nie gewollt habe und von denen nach all den Jahren nur noch eins übrig ist: Hoffnung.“

Sie machte zwei Schritte, dann drehte sie sich noch einmal um: „Und mein Name ist Johanna.“

RHCSo, Dez. 2020
**********henke Mann
9.638 Beiträge
Erotik ist der Gedanke, das Unausgesprochene, das Zwischen-den-Zeilen. Das muss man können. Du kannst es!
*******nic Mann
388 Beiträge
Die Kinos haben zu, und Du baust in aller Seelenruhe und konzentriert Leinwand und Projektor im Park auf.
Meist trinke ich nur ein Bier oder einen Wein zum Film; Popcorn mag ich eh' nicht so.
Beides wäre warm und schal geworden.
Ich bin gefesselt wie lange nicht mehr.

Danke.
Thomas
**********pioGJ Mann
742 Beiträge
Danke. Ich freue mich schon sehr auf die Fortsetzung der Geschichte. Dieser Thread ist eine der seltenen Perlen hier.

Danke auch für den Hinweis auf Solaris von Lem. Das Hörbuch habe ich mir gleich mal auf meine Leseliste gesetzt.
*******n69 Mann
6.467 Beiträge
@ CChristjan
Oh, wow, was für eine tolle Geschichte. Bitte mehr. Bleib gesund. Peter
Teil II

Damit ging sie und mir blieb nichts anderes, als ihr nachzuschauen. Wahrscheinlich stand mir sogar der Mund offen. Ihre letzten Worte waren wie die unsichtbare Hand gewesen, die mit einem Ruck den Vorgang vor dem Fenster aufreißt und den Blick auf das freigibt, was wirklich ist. Etwas in mir wusste, dass jedes Wort, das sie gesagt hatte, die Wahrheit gewesen war und ich erinnerte mich an das, was Svensson mir gesagt hatte, bevor er gegangen war: Es sind zu viele Zufälle, kein Vertun. Wenn etwas geschieht, dann deswegen, weil es irgendjemand so geplant hat, und das, was zufällig scheint, ist nix weiter als das Eintreten der Notwendigkeit. Irgendwo ist eine Hand, die das alles steuert. Ganz sicher!

Borg, Hakonsen und vielleicht auch Svensson mochten Johanna für nichts weiter als eine biologische Maschine halten. Ich hätte es auch tun müssen, weil ich Arzt bin und wissen sollte, was einen Menschen ausmacht.

Mittlerweile war ich mir da nicht mehr so sicher, denn immer dann, wenn sie Svenssons Vornamen ausgesprochen hatte, war etwas in ihren Augen gewesen, etwas, von dem ich wünschte, dass es mit einer solchen Intensität jemals in den Augen einer Frau für mich geleuchtet hätte.

Wenn Svensson recht hatte, dann hatte alles vor gut dreißig Jahren in den kalten Wassern der Ostsee vor Warnemünde begonnen ...

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25. November 1988, 01:05 Uhr, 11 Seemeilen nördlich von Warnemünde.

Der Wind sprang auf Nord-Nord-West, frischte von Minute zu Minute mehr auf und das nur knapp dreizehn Meter lange Schnellboot „Seehecht“ der Volksmarine schüttelte sich wie ein nervöses Rennpferd vor dem Start unter dem Anprall der Ostseewellen.
„Ob irgendwann mal auf den Wetterbericht Verlass sein wird?“ Manfred Elsner knurrte missmutig.
„Werden wir wohl nich mehr erleben, Genosse Korvettenkapitän. Machen Sie sich Sorgen?“
Gischt klatschte gegen die niedrige Plexiglasscheibe, Spritzer flogen darüber hinweg und der Steuermann zog den Kopf ein. Elsner hob den Feldstecher und starrte durch das Glas, als suchte er in der Dunkelheit vor dem Boot die Antwort. Schließlich setzte er es wieder ab und schüttelte den Kopf.
„Das ist Oldenburg da unten. Für den ist Nachtaufklärung bei rauer See wie Sonderurlaub. Der Mann weiß nicht einmal, wie sich ‚Fehler‘ schreibt. Wenn, dann würde ich mir höchstens deswegen Sorgen machen.“
Der nächste Brecher traf den Bug des Schnellbootes und drückte ihn tief ins Wasser. Elsner schlug den Kragen der Wetterjacke hoch. „Halten Sie das Boot auf Position. Ich gehe mal nach hinten.“
„Position halten. Jawoll.“
Elsner drehte sich abrupt um und kämpfte sich auf dem stampfenden Boot zum Heck.
Den Blick, den ihm der Steuermann mit zusammengezogenen Augenbrauen zuwarf, sah er nicht mehr.


In unregelmäßigen Abständen flammten hinter Unterleutnant zur See Christian Oldenburg die Handscheinwerfer der anderen beiden Kampftaucher seines Teams auf und leuchteten den Meeresgrund an. Wie schwarzer Samt umgab ihn das Wasser, oben und unten hatten jede Bedeutung verloren wie alles andere auch. Er warf einen kurzen Blick auf die fluoreszierenden Zeiger seines Kompasses am rechten Unterarm, schaltete seinen Handscheinwerfer ebenfalls ein und gab den beiden Obermaaten Werner und Andres ein Zeichen, zu ihm aufzuschließen.
Nach einigen Minuten schälte das Licht einen torpedoförmigen Metallzylinder vor ihnen aus der Dunkelheit. Christian hob die rechte Hand, ballte die Faust und alle drei Taucher erstarrten zur Bewegungslosigkeit. Seltsam nackt, ohne jeden Bewuchs oder Muschelbefall ragte das Ungetüm halb aus dem Schlick des Meeresgrundes und eine stumme Drohung schien von ihm auszugehen. Es sah aus wie eine Kreuzung aus einer Fünfhundertkilogramm-Fliegerbombe und einem Torpedo. Die Luftleitbleche, die sie nach dem Abwurf stabilisierten und dafür sorgten, dass sie mit dem Zünder zuerst auf den Boden prallte, waren für eine Bombe zu klein und für einen Torpedo zu groß. Für eine Grundmine besaß er weder die optimale Form noch die Sensoren, die den Sprengstoff in ihm zur Explosion bringen konnten. Zumindest waren keine zu sehen, was aber nichts bedeuten musste. Magnetzünder konnten auch unter dem vom Meerwasser zerfressenen Gehäuses sitzen und wenn die drei Männer Pech hatten, auch noch funktionieren. Sie tauchten außerhalb der üblichen Schifffahrtslinien des Rostocker Überseehafens, die Ostsee war hier knapp dreißig Meter tief und ein glücklicher Zufall konnte es gewollt haben, dass der Waffe noch kein Schiffsrumpf nahe genug gekommen war, um sie zur Detonation zu bringen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass die drei auf ein Modell gestoßen waren, das noch nirgendwo anders gefunden worden war. Was entweder bedeutete, dass sie hier tatsächlich auf eine noch unbekannte Waffe gestoßen waren, oder dass es diejenigen, die vor ihnen woanders auf ein gleiches Modell gestoßen waren, zusammen mit ihr zerrissen hatte.
Sie waren ein eingespieltes Team. Mehr als einen kurzen Blickkontakt brauchten sie nicht, Christian hielt seine Position und sicherte, die beiden anderen näherten sich mit vorsichtigen Flossenschlägen der Waffe.


Der Steuermann gestikulierte wild mit den Armen und Elsner kämpfte sich auf dem wild hin und her stampfenden Schnellboot wieder nach vorne.
„Was gibt es?“, schrie er gegen den immer noch weiter auffrischenden Wind.
„Wasserschloss ruft,“ brüllte der Steuermann und hielt Elsner das Sprechgeschirr hin. Zwischen Elsners blonden Augenbrauen erschien eine steile Falte. Er wusste, dass sich der Stab der Volksmarine so gut wie nie in einen laufenden Einsatz der KSK-18 einschaltete.
„Roter Hecht hört“, schrie er ins Mikrophon.
„Wasserschloss hier. Brechen Sie sofort den Einsatz ab!“, kam unmittelbar die Antwort.
„Wiederholen Sie!“
„Abbruch! Abbruch! Abbruch!“
Er blickte den Steuermann an, als wüsste der mehr als er. Sie besaßen nicht die moderne Ausrüstung der Amerikaner oder Franzosen, die unter Wasser lustige Schwätzchen über verschlüsselte Kanäle bei ihren Gefechtseinsätzen führen konnten und das wusste auch Wasserschloss.
Elsner drückte die Sprechtaste: „Nicht möglich. Wiederhole: nicht möglich. Kein Funkkontakt.“
Einen Moment war nur Prasseln in der Leitung, dann tönte eine andere Stimme aus dem Lautsprecher: „Wasserschloss Eins hier. Persönlich! Holen Sie Ihre Männer aus dem Wasser! Sofort! Egal wie! Sie dürfen ihr Ziel nicht erreichen. Ende.“
Elsner musste nicht auf den Chronometer an seinem Handgelenk schauen, um zu wissen, dass es dafür zu spät war. Er wusste, dass, wenn Oldenburg nicht eine Seejungfrau erschienen war und ihn zum ersten Mal überhaupt von dem festgelegten Unterwasserkurs abgebracht hatte, dann waren er und seine Männer genau jetzt über der Fundstelle. Aber der Chef der Volksmarine war persönlich am Funk und das allein hätte um diese Zeit jedem Seeoffizier eine Gänsehaut über den Rücken gejagt.
Der Korvettenkapitän hob das Fernglas und blickte in die Richtung, in der er sein Unterwasserteam vermutete. Gut eine Seemeile entfernt davon leuchteten die Positionslampen eines Frachters und Elsner malte mit den Kiefern, als bisse er auf eine Nuss. Mit einer entschlossenen Bewegung setzte er das Glas ab und befahl dem Steuermann: „Zielkoordinaten. Volle Kraft und alles, was wir haben. Beten Sie, dass Oldenburg unsere Schraubengeräusche hört und mitdenkt!“
Der Steuermann gab Vollgas, die mächtige Maschine riss den Bug des Schnellboots aus dem Wasser und ließ es in den nächsten Wellenberg krachen. Der nächste Brecher krachte gegen den Rumpf, dann noch einer und noch einer – die Seehecht nahm Geschwindigkeit auf.
Was Elsner tat, war nicht mehr als eine Verzweiflungsaktion. Es war ihm strikt untersagt, die Hoheitsgewässer der DDR zu verlassen, aber das Team von Oldenburg operierte unter Wasser fast eine Seemeile außerhalb der Seegrenzen der DDR. Wenn das Schnellboot zur Fundstelle fuhr, würde mindestens das jetzt in der Nähe vorbeifahrende Schiff es auf dem Radar haben. Elsner konnte nur hoffen, dass an dessen Heck die Fahne der DDR-Handelsmarine oder die der Sowjetunion flatterte.


Das hochfrequente Kreischen unter voller Kraft rotierender Schiffspropeller drang durch das Wasser und es war Obermaat Werner, der den entscheidenden Fehler beging. Vielleicht war es die Routine, die auch die größte Gefahr, wenn man ihr immer wieder begegnet, gewöhnlich macht und ihn unaufmerksam werden ließ. Vielleicht war es seine Freundin Monika, die in vier Stunden am Kontrolldurchlass in Kühlungsborn darauf warten würde, dass er endlich seinen Erholungsurlaub antreten konnte oder es war nichts weiter als Enttäuschung darüber, ergebnislos aus dem Wasser zu müssen – er drehte sich von der Waffe weg zu Christian herum und eine seiner Schwimmflossen streifte die Waffe. Es war nicht mehr als ein Hauch, eine winzige Veränderung des Wasserdrucks, die auch die empfindlichste Grundmine nicht aus ihrem Schlaf gerissen hätte. Diese hier schon. Öliger, gelber Rauch schoss aus ihr hervor, hüllte die beiden Taucher ein, die ihr am nächsten waren und Ausläufer zuckten auch auf den dreißig Fuß entfernten Christian zu, erreichten ihn aber nicht.
Es dauerte nur Sekunden, bis die starke Grundströmung den Nebel um die beiden Obermaate wieder auseinanderriss. Scheinbar war nichts geschehen, wie Roboter bewegten sie ihre Schwimmflossen und hielten mit gleichmäßigen Schlägen ihre Position im Wasser. Christian richtete den Scheinwerfer auf seine rechte Hand und formte mit Zeigefinger und Daumen einen Kreis. Als er keine Reaktion bekam, wartete er ein paar Atemzüge, dann wiederholte er die Frage.
Die beiden Froschmänner krümmten sich zusammen, rissen ihre Kampfmesser aus der Scheide an der Wade, dann wirbelten ihre Beine los und wie zwei schwarze Torpedos rasten sie auf Christian zu.


„[Ich bin] ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. ...
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.“
Johann Wolfgang von Goethe



Meine persönliche Katastrophe begann an einem Montagmorgen vor dreißig Jahren um acht Uhr. Alle Katastrophen beginnen an einem Montagmorgen um acht, manchmal brechen sie nur erst später aus. Ich wusste damals noch nicht, dass mit den Wölfen heulen noch lange nicht hieß, dass man nicht trotzdem von ihnen gebissen wurde.
Mein Vater war Professor für innere Medizin an der Berliner Charité, meine Mutter eine Augenärztin mit zwei Doktortiteln. Mit dem Elternhaus wäre ich in jedem anderen Land die Nummer eins auf der Liste der Bewerber für einen Psychologie-Studienplatz gewesen. Aber um die Gefährlichkeit dynastischer Intelligenz wusste man im Arbeiter- und Bauernstaat DDR nicht erst seit Pol Pot und so war meine Herkunft gleichbedeutend mit dem letzten möglichen Platz auf der Liste der Anwärter. Doch es gab in jedem System Hintertüren und ich wusste, dass keine Armee der Welt ohne wenigstens ein paar intelligente Leute auskam, wobei das für mich schon ein Widerspruch in sich war – Armee und Intelligenz.
Ich verpflichtete mich als Berufssoldat, „vergaß“ dabei meinen Cousin jenseits des Eisernen Vorhangs zu erwähnen und bekam mein Studium. Vier Jahre später hatte ich meinen Diplompsychologen, trug die Uniform eines Leutnants der NVA mit der Äskulapschlange auf den Schulterstücken und versah meinen Dienst im Militärlazarett in Bad Saarow in der Nähe von Berlin. Ein Thema für meine Dissertation hatte ich auch nebst dem zukünftigen Doktorvater. Ich war in der Spur und wenn mein Vater ab und zu bei unseren seltenen abendlichen Gesprächen auf seiner Datscha am Müggelsee mit hochgeschobener Brille die Stirn runzelte und mich nachdenklich ansah, spornte mich das nur noch mehr an. Ich wusste, dass Herr Professor Doktor Gneidsen es noch nie gemocht hatte, wenn jemand dabei war, ihn zu überflügeln, und nahm an, dass er darin auch für seinen Sohn keine Ausnahme machte.
Es war ein Montagmorgen und wie an jedem Wochenanfang nahm sich Oberstleutnant Witwer für seine wöchentliche Dienstbesprechung exakt sechzig Minuten, um den militärischen Schlamperladen, wie er es nannte, auf Vordermann zu bringen und die Ärzte im Offiziersrang „einzunorden“. Was nichts anderes bedeutete, als das er in einem Tonfall und einer Lautstärke, nach der auch ein Tauber hätte Tango tanzen können, seinen Unmut darüber zum Ausdruck brachte, dass Bakterien, Krankheiten und Verletzungen sich trotz seines aufopferungsvollen Kampfes immer noch genau so wenig an den Dienstplan hielten wie gewisse Offiziere des medizinischen Personals. Dass er mich dabei ansah, dürfte kaum ein Zufall gewesen sein. Ich hatte mit Autorität, die auf nichts anderem als der Anzahl der Sterne auf den Schulterstücken beruhte, so meine Probleme und dass ich jetzt selbst welche trug, wenn auch nur in Silber und nicht in Gold wie Witwer, änderte nichts daran. Sie waren für mich nur eine ungeliebte Notwendigkeit, damit ich vorankam im Leben, und kein Glaubensbekenntnis.
„Leutnant Gneidsen!“
Seine sonore Stimme klang für seine Verhältnisse viel zu freundlich. Aus seinem Gesicht konnte ich nichts ablesen – er sah ruhig und sicher aus, und vielleicht sogar ein wenig gelangweilt: ein großer, grauhaariger Mann in einer perfekt sitzenden Uniform mit Bügelfalten zum Brotschneiden, den eine so unbedeutende Sache wie ein frischgebackener Leutnant und Diplompsychologe von wichtigen Aufgaben abhielt.
„Ja, bitte?“, erwiderte ich, ein junger Arzt aus der Inneren neben mir stöhnte leise auf und ich presste die Lippen aufeinander. Eine halbe Sekunde zu spät, die beiden verhängnisvollen Worte waren schon heraus. Die korrekte Erwiderung hätte lauten müssen: „Hier, Genosse Oberstleutnant.“ Auf diese Anrede hatte Witwer laut der militärischen Hackordnung ein Anrecht und er war nicht derjenige, der darauf verzichtete.
Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und schenkte mir sein bestes kaltes, professionelles Lächeln – selbst die gusseiserne Leninstatue auf dem Dreesch in Schwerin blickte bei Minus vierzig Grad freundlicher.
„Sie haben also ein Problem mit meiner Autorität, Genosse Gneidsen“, stellte er fest und jetzt klang seine Stimme wie das Knurren eines hungrigen Wolfes. „Wir sind hier eine militärische Einheit. Nur, falls Sie das immer noch nicht begriffen haben und unterliegen damit wie jede andere auch der Gefechtsbereitschaft. Ich bin dafür verantwortlich. Wenn für die Regimenter und Bataillone rund um Berlin Alarm ausgelöst wird, verlegen sie in ihre Wechselkonzentrierungsräume, Verletzte sind dabei vorprogrammiert, bevor auch nur ein Schuss gefallen ist. Menschen, deren Leben davon abhängt, dass wir hier an jedem Tag des Jahres, egal ob Wochenende, Ostern oder Weihnachten, innerhalb von zwei Stunden mit fünfundachtzig Prozent unseres Personalbestandes bereit sind, Leben zu retten. Das, Leutnant Gneidsen, nennt man in der NVA Gefechtsbereitschaft!“
Wort für Wort hatte seine Stimme einen sauberen Steigerungslauf hingelegt. Jetzt kam das Finale furioso mit allem, was seine Lungen hergaben: „Haben Sie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, als Sie gestern Abend unerlaubt den Standortbereich verlassen und ihre Eltern in Berlin aufgesucht haben? Sie haben mit dem Leben von Menschen gespielt, Leutnant Gneidsen! Menschen, die die gleiche Uniform tragen, auf die auch Sie geschworen haben!“
Seine dunklen Augen schleuderten Blitze auf mich, gegen die ein Ultraviolettlaser eine Streichholzflamme war. Gefechtsbereitschaft war der Fetisch der NVA, der Heilige Gral und der weltweite Sieg des Kommunismus in einem. Was nach meiner, hier leider nur unbedeutenden Meinung, völliger Blödsinn war. Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, bei der Bundeswehr, klappte man am Freitag spätestens um siebzehn Uhr die Bürgersteige für das ganze Wochenende hoch. Kein Rad drehte sich da mehr, weil keiner da war, der hätte auch nur die Waffenkammer aufschließen können. Wenn die NVA am Wochenende losschlug, würden die Jungs drüben sich am Montag wundern, dass eine Fahne mit Hammer und Sichel im Ährenkranz über ihrem Kasernentor flatterte - der schnellste und unblutigste Krieg der Menschheitsgeschichte hätte nur ein Wochenende gedauert. Gefechtsbereitschaft – einfach lachhaft im Zeitalter der Satellitenaufklärung, fand ich. Leider lag diese Erkenntnis jedoch für eingefleischte Militaristen wie Oberstleutnant Witwer außerhalb ihres kognitiven Horizontes.
Ruhiger sagte der jetzt: „Ich habe mich mit dem Politoffizier beraten. Er ist der Meinung, dass es für eine aktenkundige Bestrafung noch zu früh ist und ich stimme ihm da zu. Schließlich wollen wir Sie nicht verdammen, sondern einen guten Offizier aus Ihnen machen.“
Unauffällig atmete ich aus. Der Korb schien noch einmal an mir vorbeigegangen zu sein und das Witwer mich im Angesicht meiner Kollegen niedergemacht hatte, würde mir bei ihnen eher zum Vorteil gereichen. Dass ich kein guter Offizier, sondern ein guter Arzt werden wollte und dass das eine das andere ausschloß, würde der Kommisskopp vor mir sowieso nie begreifen.
Witwer griff nach einem Zettel auf seinem Schreibtisch und hielt ihn mir hin. „Das ist ein Passierschein für die geschlossene Abteilung. In einer Stunde melden Sie sich wieder hier im Besprechungsraum und erhalten dann neben einer Einweisung in die Sicherheistbestimmungen für den Zutritt zu diesem Bereich detaillierte Informationen. Morgen früh um acht Uhr melden Sie sich dort beim Stationsarzt. Am Freitag um fünfzehn Uhr erwarte ich einen Bericht von Ihnen über den Patienten nebst einem fundierten Therapieansatz. Major Brost?“
Doktor Brost – er war der Stationsarzt – erwiderte nach einer deutlich hörbaren Pause, von der wahrscheinlich nicht nur ich wusste, warum er sie machte: „Äh ... hier, Genosse Oberstleutnant.“
Die Augenbrauen Witwers zuckten in die Höhe, aber er ließ sich nichts anmerken. „Major, morgen früh um acht Uhr meldet sich Leutnant Gneidsen bei Ihnen zum Dienst. Sorgen Sie dafür, dass es mit ihm keine Probleme auf Ihrer Station und mit den Wachen gibt. Wegtreten!“

Draußen klopfte mir der junge Arzt auf die Schulter, der eben noch neben mir gestöhnt hatte. „Nehmen Sie es nicht so tragisch und schlafen Sie eine Nacht darüber, Kollege Gneidsen. Da mussten wir alle durch. Außerdem“, er zwinkerte mir verschwörerisch zu, „kommt ja wohl vor der Therapie erst die Anamnese und die kann sich in ihrem Fachgebiet durchaus ein paar Wochen hinziehen, so viel ich weiß. Aber das kann so ein Komisskopf gar nicht wissen.“ Er streckte mir die Hand hin. „Holger Weinberg. Ich bin Arzt im Praktikum in der Chirurgie. Und Zivilist.“
Er sagte es, als wäre es eine Auszeichnung, keine Uniform tragen zu müssen und vielleicht war es das auch. Ich reichte ihm die Hand. „Winfried Gneidsen, Seelenklempner.“
Er lächelte zurückhaltend. „Klempner ist gut. Die Rohrzange werden sie wohl auch brauchen.“
„Ich dachte eher, den Gummihammer.“ Demonstrativ warf ich einen Blick auf die Tür zu Witwers Dienstzimmer.
Aus seinem Lächeln wurde ein Grinsen. „Ich meinte nicht für den Hausdrachen. Für ihre Patienten. Sie sind neu hier, vermutlich wissen Sie gar nicht, in welche Schlangengrube er Sie gerade geworfen hat.“
Er trat dicht an mich heran und senkte die Stimme: „Geschlossen heißt: Posten vor der Tür, Gitter vor den Fenstern, kein Zutritt ohne Erlaubnis, keine Besucher ... Straftäter in Uniform ... Mörder, Vergewaltiger, unerlaubter Schusswaffengebrauch, Republikflucht ... Ich hätte lieber die Bestrafung genommen statt des Passierscheins.“
Wahrscheinlich sah ich nicht gerade begeistert aus, denn er lachte laut auf. „Keine Sorge, im Moment liegt nur ein Patient auf Station. Der soll allerdings ein Doppelmörder sein ...“
Mir fiel nichts ein, mit dem ich seinen Redefluss stoppen konnte. Ich murmelte ein undeutliches „Danke für die Info“, drehte mich um und stieß mit einer Frau zusammen.
„Verrrzeihung“, sagte sie, stützte sich mit einer Hand an meiner linken Brust ab und taumelte einen Schritt zurück. Dass sie mir dabei den Passierschein aus der Brusttasche fischte, bemerkte ich nicht. Um die Vierzig, wirkte sie eher attraktiv als hübsch, mit einem intelligenten Gesicht voller Charakter, Entschlossenheit und einem Hauch untertriebenen Make-ups. Ein Zopf tizianroter Locken fiel ihr über die Schulter und in ihren leicht geschlitzten raubkatzengrünen Augen funkelte kühler Spott.
„Ich muss mich entschuldigen.“ Ich bückte mich und hob den blauen Hefter auf, der ihr aus der Hand gefallen war. „Winfried Gneidsen.“
Tief und für meinen Geschmack länger, als man es bei einem Fremden tut, schaute sie mir in die Augen. Dann nahm sie mir die Mappe aus der Hand, ging zwei Schritte, den Blick immer noch auf mich gerichtet, dann warf sie den Kopf, dass ihr Zopf flog und schritt den Flur entlang davon. Ich blieb zurück mit der Erinnerung an lange rote Haare mit dem herben Duft eines Frühlingsmorgens, Augen voll distanzierter Kühle und mit meiner Verblüffung.
„Na, ich wünschte, meine Frau würde mich einmal so anblicken.“ Holger Weinberg schaute ihr hinterher. „Sie scheinen ja hervorragende Kontakte zu haben.“
„Ich habe sie noch nie gesehen. Wahrscheinlich hat sie mich verwechselt.“
„Sie nehmen mich auf den Arm. So schaut man keinen fremden Mann an.“
Das sagte ich mir auch, aber tatsächlich war ich ihr noch niemals begegnet. Das Gesicht hätte ich garantiert nicht vergessen, auch wenn ich nicht hätte sagen können, was es so außergewöhnlich machte. „Wenigstens Sie scheinen die Dame ja zu kennen. Wer ist sie?“
Er schnalzte mit der Zunge. „Nur dem Namen nach, leider: Natalja Ermakowa. Hat gleich zwei Doktortitel, einen als Onkologin, einen in Transfusionsmedizin, heisst, sie kennt wahrscheinlich jedes rote und weiße Blutkörperchen in Ihrem Körper mit Vornamen. Ist gestern Abend direkt aus Moskau in Schönefeld angekommen für eine Konsultation mit meinem Chefarzt morgen Nachmittag. Die beiden haben schon an der Lomonossow Universität zusammengearbeitet. Ich glaube, sie ist wegen Ihrem Mörder gekommen.“
„Zuerst einmal ist er ein kranker Mensch, der Hilfe ...“
Ich brach ab. Es hatte keinen Sinn. Seine Augen glitzerten genau so wie in dem Moment, als er sich über die geschlossene Abteilung ausgelassen hatte und es war wieder einer jener Momente, in denen ich mir wünschte, es möge für Leute wie ihn und Witwer eine Pille geben, die dafür sorgen könnte, dass sie Zugriff auf die Areale in ihrem Gehirn bekamen, in denen Mitgefühl, zwischenmenschliche Intelligenz und wenigstens ein bisschen Selbstreflexion vor sich hin schnarchten.

Wird fortgesetzt ...
**********henke Mann
9.638 Beiträge
Was für ein Feuerwerk! Ich warte jeden Moment darauf, dass der UvD pfeift und "Kompanie, Gefechtsalarm!" ruft - so hast Du mich in der Zeit reisen lassen. Danke!
*******nic Mann
388 Beiträge
Guten Abend @*******jan,

wenn ich meine Kinder am Wochenende habe, wir morgens ein wenig später aufstehen - ich habe Glück, sie lassen mich meist bis gegen halb neun im Bett - und ich mich dann peu-á-peu ums gemeinsame Frühstück kümmere, darf ich eins nicht vergessen, daran werde ich unter Androhung kindlicher Sanktionen spätestens dann erinnert, wenn ich den frisch gemahlenen Kaffee aufbrühe: Speck.
Vier dünne Streifen, genau eine halbe Packung, mit etwas Abstand (das ist wichtig) nebeneinander auf ein Blatt Küchenrolle auf einem großen Porzellanteller. Dreieinhalb Minuten bei voller Kraft in die Mikrowelle, dann ist er genau richtig ausgebacken. Meist gelingt es uns dreien, uns friedlich hinsichtlich des vierten Streifens zu einigen.
Obwohl ich der festen Überzeugung bin, daß er am besten dann schmeckt, wenn er noch warm ist, erlebe ich Woche für Woche meinen Großen dabei, daß er sich seinen Anteil aufhebt, bis Brötchen und Ei und Kakao aufgegessen und alle sind. Er sagt, es wäre der Höhepunkt des Frühstückst, den knusprigen Speck in kleinen Bröckchen abzuknabbern und zu lutschen wie ein Bonbon.

Als ich heute spätnachmittags Dein neues Kapitel angezeigt bekam, war ich in starker Versuchung, es sofort zu lesen.

Dann dachte ich an meinen Sohn.

Ich glaube, er hat recht.


Hab Dank für den zweiten Gang, CChristjan. Ich habe keine Ahnung, wie umfangreich das Menu werden wird. Ich verspreche jedoch, daß ich mir für jeden Teil genauso genußvoll Zeit nehmen und essen werde, bis nichts mehr in mich hineingeht.

Thomas
**********pioGJ Mann
742 Beiträge
Hallo Christjan,

Danke für die Fortsetzung.

Gut finde ich die optische und so auch durch VoiceOver akustische Trennung von Gegenwart und Vergangenheit der Geschichte.

Etwas irritiert hat mich das eingeflochtene Gedicht. Optisch ist dies eine gute Trennung der beiden Erzählstränge. Akustisch leider weniger. Da der Algorithmus den Absatz, im Post, nicht hörbar macht.
Da hilft schon das setzen von drei Punkten.
... wird durch VoiceOver als Ellipse vorgelesen. So gibt es eine kurze akustische Trennung.
Dies bitte als Hinweis verstehen.

Ich freue mich auf die Fortsetzung der Geschichte. Und wenn es sie als Hörbuch gibt bitte Bescheid geben.

Gruß
MSGJ
********t_64 Frau
3.098 Beiträge
....grandios geschrieben... genau die Art Literatur die mir gefällt... humorvoll intellektuell... Denkanstöße...ein perfekter Freitag Nachmittag. *kuss* ...Danke dafür
Verwaltung 2000
Exakt eine Stunde später, auf die Minute genau, klopfte ich an die Tür des Besprechungszimmers. Sie war nur angelehnt und auf das „Kommen Sie ruhig herein“, von drinnen drückte ich sie auf. Ein schmaler Mann mit Stirnglatze und einem weißen Baumwollhemd saß an Witwers Schreibtisch und blätterte in einem Aktenordner. Vor ihm stand eine Tasse, die Untertasse daneben, eine zweite Tasse auf dem Platz gegenüber und in der Mitte des Tisches eine Thermoskanne. Ein graues Sakko hing halb heruntergerutscht von der Stuhllehne hinter ihm und Witwer hätte wahrscheinlich einen Wutanfall bekommen, hätte er das Chaos gesehen.

„Guten Tag.“ Ich trat ein und lehnte die Tür nur so an, wie ich sie vorgefunden hatte. Ohne den kahlen Kopf von seinen Papieren zu heben, wies der Mann mit der linken Hand auf den Platz am Tisch ihm gegenüber. „Ich bin gleich für Sie da, Genosse Gneidsen. Machen Sie bitte die Tür zu und gießen Sie sich eine Tasse Kaffee ein. Ich bin Bernard Müller.“

Er schien Worte zu mögen, sprach leise, nicht allzu schnell, sehr deutlich und verschluckte keine Endungen. Ein Mann, der offenbar Wert darauf legte, dass man ihn verstand.

Ich goss mir Kaffee ein, lauschte dem leisen Gluckern in diesem Raum, in dem heute Morgen noch die verbalen Fetzen geflogen waren und dachte: Wenn Witwer hereinkommt, wird sich das mit der Stille sehr schnell erledigt haben. Unwillkürlich drehte ich den Kopf in Richtung Tür.

„Er wird nicht kommen. Sie müssen mit mir vorliebnehmen.“

Müller schob die Papiere, in denen er bis eben gearbeitet hatte, zu mir herüber. „Die Akte Ihres Patienten. Faszinierende Lektüre. Aber vorher sollte ich wohl noch etwas klären.“

Das war eine gute Idee, fand ich. Zum Beispiel, was er hier machte. Er trug weder eine Uniform, noch wirkte er wie ein Angehöriger des medizinischen Dienstes. Die Hand hatte er mir ebenfalls nicht gereicht, stattdessen in der Akte geblättert. Ich glaubte nicht, dass er es einfach nur vergessen hatte. Ein Händedruck bricht Eis, schafft Vertrauen und manchmal sogar zwischenmenschliche Wärme, mehr, als es ein freundliches Gesicht wie seines konnte, auch wenn ihm das Lächeln durchaus stand. Es wirkte nur ein kleines bisschen zu professionell? Oder war es ein „ich weiß etwas, was du nicht weißt?“ Doch ich wollte nicht päpstlicher sein als der Papst – ich wusste, dass ich jetzt auch dem Steinbeißer Witwer gegenübersitzen könnte, wahrscheinlicher allerdings hätte ich da gestanden.

„Wie geht es Ihrer Familie?“

Das fragte man keinen Fremden und ich ging innerlich in Deckung. Unschuldig schaute Müller mich aus pflastersteingrauen, eng beieinanderliegenden Augen an. Ich mochte sie nicht.

„Gut, denke ich. Meine Eltern würden es mir kaum sagen, wenn es ihnen schlecht ginge.“

Freundlich wippte er mit dem Kopf auf und nieder. „Natürlich. So sind sie, die Eltern. Kümmern sich immer um ihre Kinder. Ich dachte übrigens eher an ihre entferntere Verwandtschaft.“

„Ich habe keine.“ Ein EKG hätte jetzt eine leicht erhöhte Herzfrequenz gezeigt.

Er lächelte. „Von der sie wissen ... wollen.“

Jetzt hätte das EKG die Skala gesprengt. Müller wusste von meinem verleugneten Cousin in Westberlin und damit war mir ziemlich klar, warum er sich so einfach im Besprechungszimmer des Lazarettkommandanten einquartieren konnte. Leute wie er konnten sich überall, wo sie wollten, einquartieren und taten es auch.

Er kniff sein linkes Auge ein wenig zusammen und es sah aus, als zielte er über einen Gewehrlauf. „Ja, Sie denken richtig. Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute schafft.“

Ich konnte nichts dagegen tun – ich verzog das Gesicht und er lachte auf. „Bitte entschuldigen Sie. Mein ‚Faust‘ ist ein bisschen eingerostet. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich nie studiert.“

„Scheint mir eher ein generelles Verständnisproblem für Goethe zu sein,“ knurrte ich. „Mephisto wollte zwar das Böse und hat doch Gutes ...“

„Es scheint mir ein generelles Verständnisproblem bei Ihnen zu sein, junger Mann.“ Rüde fuhr er mir dazwischen. „Mich interessiert nicht, mit welchen Tricks Sie sich Ihr Studium erschlichen haben. Mich interessiert nur, dass Sie wissen, wo Sie stehen, und das tun Sie doch jetzt, oder?“

Er nickte dazu und es animierte zum Mitmachen. Darum tat er es wahrscheinlich auch. Leute wie er mochten eine Ausbildung in so etwas bekommen haben, eine, die nicht Bestandteil einer Psychologievorlesung für Normalsterbliche wie mich war. Ich nickte auch und wir waren nichts weiter als zwei Männer, die sich freundlich zunickten, als sei alles in bester Ordnung. Nur, dass einer davon ein emporgekommener Bauerntrampel oder Prolet war, dem man den Knüppel der Macht in die Hand gegeben hatte und der deshalb sagen konnte: Friss Vogel, oder stirb.

Was er dann auch tat, wenn auch ein bisschen freundlicher: „Seien Sie bitte so nett, und werfen Sie einen Blick in die Akte ihres Patienten. Leider kann ich sie Ihnen nicht überlassen und was Sie darin lesen, werden Sie für sich behalten müssen. Sie werden es gleich verstehen.“

Immer schön freundlich, der Herr ... Ich schaffte es tatsächlich, meinen Mund zu halten. Es dauerte etwas, bis ich mich in dem Aktenordner zurechtfand. Handschriftliche Einträge wechselten sich nicht immer chronologisch ab mit maschinengeschriebenen Blättern. Es war keine Patientenakte mit medizinischen Daten, eher ein Lebenslauf, geschrieben von anderen über jemanden, dessen Name überall entweder sorgfältig geschwärzt oder durch „Die Person“ ersetzt worden war. Seit ihrem elften Lebensjahr war „Die Person“ beobachtet worden, selbst intimste Familiendetails waren aufgelistet und was das Schlimmste war – man hatte nicht nur beobachtet, sondern auch lenkend in das Leben dieses Menschen eingegriffen. Er hatte es wahrscheinlich für Zufälle gehalten, doch in Wahrheit hatte sich sein Leben in einer Bahn entwickelt, die mit viel Geschick oder Erfahrung von jemand anderem vorgezeichnet worden war. Mit jedem Wort, das ich las, fühlte ich mich in einem Sumpf versinken, von dem ich niemals geglaubt hätte, dass er in meinem Land existierte.

Ich legte die Papiere so vorsichtig auf den Tisch, als seien sie Nitroglycerin und vielleicht waren sie das auch. Nur weil ich sie gelesen hatte, fühlte mich genau so schuldig, wie es diejenigen waren, die das Leben des Jungen gesteuert hatten und wenn das die Absicht der Leute hinter Müller gewesen war, hatte er den Plan übererfüllt.

Er hatte sich Kaffee eingegossen, war dann aufgestanden und im Raum hin und her gegangen, aber ich hatte gespürt, dass er mich keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. Jetzt nahm er wieder Platz, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, stieß die Fingerkuppen von linker und rechter Hand gegeneinander und blickte mich mit einem Ausdruck von Mitgefühl an. Wenn es echt war, sollte es besser dem jungen Mann gelten, dessen Akte zwischen uns lag und nicht mir. Wenn Müller es nur vorspielte, war er ein Genie darin.

„Ich kann wirklich verstehen, was Sie jetzt denken“, begann er. „Man fühlt sich besudelt, nahezu mitschuldig, weil man in einem Land lebt, in dem das notwendig ist, damit Kinder unbeschwert lachen und Menschen wie Sie in Ruhe studieren können. Wie sein Vater hatte auch der Junge unglaubliche Talente und es wurde geradezu fahrlässig damit umgegangen. Doch leider kommt es noch schlimmer und an der Stelle kommen Sie ins Spiel.“

Er ballte seine Hände zu Fäusten und legte sie vor sich auf den Tisch. „Vor zwei Wochen gab es ein großes Fischsterben vor Warnemünde. Bei der Suche nach der Ursache stieß man auf eine vermeintliche Fliegerbombe. Ein Trupp Kampfschwimmer, drei Männer, die eine Ausbildung absolviert haben, wie sie nicht einmal die amerikanischen Navy Seals durchstehen, gingen ins Wasser. Erfahrene Männer, die Dinge hinter sich haben, die Sie sich nicht einmal vorstellen können. Und doch tauchte nur einer wieder auf. Blutend aus mehreren Messerstichen, schaffte er es noch bis ins Boot und brach dann zusammen. Die anderen beiden fand man viel später, beide waren durch genau einen absolut präzisen Stich eines Tauchermessers ins Herz bzw. die Leber getötet worden. Alles sieht nach einer Auseinandersetzung zwischen den drei Kampftauchern aus, die unser Mann durch seine Ausbildung überlebt hat. Das einzige, was nicht dazu passt, ist sein Gesundheitszustand. Keiner der Stiche in seinem Körper war lebensgefährlich und doch verfällt er von Tag zu Tag mehr. Wenn den Ärzten nicht ein Wunder gelingt, wird er sterben. Ich brauche Antworten, und nur er kann sie mir geben, denn außer ein paar unidentifizierbaren Metallteilen, die zu jeder x-beliebigen Seemine passen könnten, wurde am Grund der Ostsee nichts gefunden. Aber er schweigt. Seitdem sie ihn zurück an Bord geholt haben, hat er kein Wort mehr gesprochen.“

Seine Knöchel waren rot angelaufen, so fest hatte er sie zusammengepresst, als er sprach und er lockerte seinen Griff auch nicht, als er hinzusetzte: „Zu spät! Wir sind zu spät von der geplanten Operation informiert worden!“

Das war sein Problem, es interessierte mich nicht. Ich ahnte, was er von mir wollte, auch wenn ich es nicht glauben konnte. „Sie wollen, dass ich ihn zum Reden bringe? Das ist nicht Ihr Ernst ...“

„Doch, das ist es.“ Mit einem Ruck schob Müller den Stuhl zurück. „Haben Sie schon einmal etwas vom Konzept der nuklearen Abschreckung gehört?“

Natürlich hatte ich das. Seit den Fünfzigern flogen die Amerikaner mit ihren B-52 und Kernwaffen an Bord rund um die Erde, wie sie lustig waren. Es war der Knüppel, mit dem sie alle zum Stillhalten zwangen. Korea, Vietnam – sie konnten machen, was immer sie wollten und niemand traute sich, ihnen auf die Finger zu hauen. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass der Atomtod jederzeit über unseren Köpfen präsent war.
Er blickte mich fragend an, ich nickte nur und er ging zum Fenster, wendete mir den Rücken zu, blickte hinaus und sagte nachdenklich: „Menschen haben eine erstäunliche Fähigkeit, sich an Schlimmes zu gewöhnen. Offenbar verliert jede Drohung ihren Schrecken, wenn sie nur lange genug anhält, ohne jemals wahrgemacht zu werden. Auf beiden Seiten wird nach postnuklearen Waffen geforscht, deren Wirkung noch vernichtender, noch abschreckender ist als eine Kernexplosion.“

Er drehte sich wieder zu mir. „Es war neunzehnhundertachtundfünfzig, als ein strategischer Bomber mit einer besonderen Waffe an Bord abhob und Kurs auf die Ostsee nahm. Noch während er in der Luft war, kam es in dem Labor, in dem sie entwickelt worden war, zu einem Unfall. Dort und im größten Teil der angrenzenden Kleinstadt brachten sich die Bewohner gegenseitig um, mit allem, was sie gerade in die Hände bekamen. Man kriegte es mit der Angst zu tun und beseitigte alle Spuren. Die Forschung wurde eingestellt und alle Unterlagen beseitigt nebst denen, die daran gearbeitet hatten. Aus einem unerfindlichen Grund stürzte ebenfalls das Flugzeug ab. Es wurde geborgen, die Waffe aber trotz intensivster Suche nie und irgendwann geriet das Ganze in Vergessenheit. Tatsächlich hatte niemand eine Ahnung, was sie damals entwickelt haben. Geblieben ist nur der Name X-44 und unser Wissen um den abgestürzten Bomber.“
Bis hierhin hatte er ohne jede Emotion gesprochen, ganz so, als läse er einen Reisebericht von einem Kamelritt durch die Wüste vor. Doch er war nicht ruhig, im Gegenteil. Blanke Wut glühte in seinen Augen. „Ich muss wissen, was da unten geschehen ist! Warum gehen drei Männer, die zusammen durch dick und dünn marschiert sind, plötzlich aufeinander los? Aber was macht er? Schweigt und das bringt ihn vor ein Erschießungskommando. Sie müssen ihm da raus helfen!“

Er war gut, wirklich. Er stützte sich mit den Fäusten vor mir auf die Tischplatte und starrte mir, die Augen zu Schlitzen verengt, ins Gesicht.

„Und wie?“, fragte ich.

„Bringen Sie ihn zum Reden!“

Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, warum er mir die Akte zu lesen gegeben hatte. Jetzt wusste ich es. Es war eine subtile Machtdemonstration gewesen und eine Drohung für mich, für meine Eltern, wahrscheinlich sogar für meine Kinder, sollte ich einmal welche haben. Ich hatte sie verstanden und trotzdem hätte ich aufstehen müssen und gehen. Damit, dass ich es nicht tat, verriet ich genau die, die ich vorgab, schützen zu wollen: Meine Eltern und meine Kinder.

Mit eingezogenem Kopf murmelte ich: „Ich kann das nicht. Ich bin kein Verhörspezialist, nur Psychologe.“

Wahrscheinlich hatte ich schon zu oft mit dem Dinosaurier Witwer zu tun gehabt – ich erwartete, dass Müller mich anschrie, doch ich hatte ihn unterschätzt. Er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstand. „Ich weiß. Sie sollen ihn auch nicht verhören. Sie sollen sein Freund werden, denn er hat jetzt keinen mehr, nicht einmal seinen Vater. Der abgestürzte Bomber war eine TU-95 und der Flugplatz, von dem er gestartet ist, liegt im Ural. In der Sowjetunion wurde eine Massenvernichtungswaffe entwickelt und hergestellt, die gegen jede Charta verstößt und schlimmer ist als jede Kernwaffe. Wenn das herauskommt ... in der jetzigen politischen Situation ... Niemals wird man das zulassen ... wenn er auch nur ein Sterbenswörtchen von sich gibt gegenüber Dritten, treten Kräfte auf den Plan, gegen die nicht einmal wir etwas ausrichten können. Ich kann hier nicht einmal meinen eigenen Leuten vertrauen. Es klingt furchtbar, aber man wird ihn umbringen, wenn man herausbekommt, dass er mit X-44 kontaminiert ist. Ich tue im Moment alles Menschenmögliche, damit genau das nicht passiert.“

Ich glaubte ihm kein Wort, doch ich schwieg, blieb sitzen und versank mit jeder Sekunde tiefer in dem Abgrund, den Müller unter mir auftat. Nach ein paar Sekunden fuhr er sich mit der Hand über die Augen und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

„Es ist tatsächlich so – Sie müssen sich um ihn kümmern. Er darf nicht einmal wissen, dass es mich gibt, die Gründe dafür will ich Ihnen nicht sagen, ich habe Sie schon viel zu tief hineingezogen und das tut mir leid für Sie. Wie dem auch sei – verbringen Sie so viel Zeit mit ihm wie möglich. Er muss es begreifen. Achten Sie auch auf das Personal, ob da neue Leute dabei sind. Ich werde eine Lösung finden für ihn, damit er wieder ein normales Leben führen kann, aber ich brauche Zeit dafür. Verschaffen Sie sie mir. Ohnehin muss er erst einmal überleben. Das wird auch von Ihnen abhängen.“

Er stand auf, warf sich das Sakko über und raffte die Akte zusammen. „Meine Arbeit wartet nicht und ob sie es glauben oder nicht - Ihr Patient ist nicht einmal das wichtigste Problem auf meinem Schreibtisch.“
Eine leise Stimme versickerte im großen Raum: „Für all das hätten Sie mir die Akte nicht zu lesen geben müssen.“ War es meine?

Er nickte wieder. Es schien seine liebste Beschäftigung zu sein. „Sie haben Potential, Genosse Gneidsen. Ich wollte nicht, dass Sie eine falsche Entscheidung treffen. In jedem System macht die Seite, auf die man sich stellt, den Unterschied aus. Sie können mit den Wölfen heulen, gegen sie ankläffen oder sich vor ihnen verstecken. Wie weit Sie mit Letzterem kommen, haben ich Ihnen gezeigt und Sie haben es verstanden. Sie haben studiert und mir damit eine Menge voraus, auch wenn es Ihnen Flausen in den Kopf gesetzt hat. Aber wenn Sie beim Studium auch nur ein bisschen aufgepasst haben, wissen Sie, dass Gut und Böse nur eine Frage des Standpunktes sind, der wiederum abhängig ist von dem Anteil an Macht, den wir Ihnen zugestehen. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, hat Marx gesagt und ich sage: Gut und Böse sind weder taugliche Kategorien zur Bewertung der objektiven Realität, noch Ihres Lebens. In dem ist nur eines wirklich und das mit absoluter Sicherheit: Täter und Opfer. Das gilt für jeden Staat der Welt, jenseits und diesseits des Atlantiks, vor und hinter dem eisernen Vorhang und für jedes System, seit die Affenhorden von den Bäumen gestiegen sind. Es war ihre Entscheidung, was davon Sie sein wollen. Ich habe Ihnen nur geholfen, die richtige zu fällen.“

Er warf mir noch einen prüfenden Blick zu, als wollte er sich überzeugen, dass ich ihn auch richtig verstanden hätte, dann ging er ein wenig gebeugt mit leisen Schritten zur Tür - ein Beamter, selbstlos, nur das Beste für alle wollend und niedergedrückt unter der Last seiner Verantwortung für das Wohlergehen des Staates und seiner Bürger.

Und die Erde ist eine Scheibe. Ich hätte mich anspucken mögen in diesem Moment und vielleicht deshalb fiel ich dann doch noch aus der Rolle, die er mir zugedacht hatte, als ich leise sagte: „Wäre es dann nicht das Beste für Sie, wenn er einfach so einschläft, ohne noch einmal die Augen zu öffnen?“

Er musste Ohren wie ein Luchs haben. Wahrscheinlich von Berufswegen. „Könnte man annehmen“, sagte er bedächtig, schaute auf die Spitzen seiner schwarzen Lederschuhe und wippte darin vor und zurück. „Wenn es mir egal wäre, ob er tatsächlich auf dieses X-44 gestoßen ist oder es nicht doch noch irgendwo da draußen in der Ostsee lauert und es dann vielleicht noch mehr Tote gibt. Wenn es mir egal wäre, ob er nur ein Opfer der Umstände geworden ist oder ob wir mit unserer Ausbildung aus dem unberechenbaren Kind einen zwar hochfunktionalen, aber psychopathischen und letztendlich nicht mehr kontrollierbaren Killer gemacht haben. Was meinen Sie, Herr Diplom-Psychologe Leutnant Winfried Gneidsen? Ist es mir egal?“
Er schaute bedeutungsvoll auf den dicken Ordner unter seinem Arm, dann mir in die Augen. „Achten Sie auf Ihre Gedanken, Genosse. Menschen wie Sie sind die Zukunft unseres Landes und ich will nicht hoffen, dass Ihre Akte bei uns eines Tages auch so dick ist wie diese hier. Jede Gittertür hat immer zwei Seiten, aber der Schlüssel passt nur auf einer. Verlieren Sie das so wenig aus den Augen wie wir Sie.“

Geräuschlos schloss er die Tür hinter sich. Ein paar Minuten grübelte ich noch, dann verließ ich den Besprechungsraum. Einen Moment überlegte ich, „Der Person“ gleich einen Besuch abzustatten, aber Witwer war sehr deutlich gewesen heute Morgen und ich wollte mir nicht schon wieder einen Bannstrahl des Drachen einfangen. Er hatte gesagt, morgen früh um acht und bis dahin konnte ich auch noch warten. Ohnehin hatte ich heute Nachmittag noch einen Termin mit meinem Doktorvater in Berlin.

Die Tür neben dem Besprechungszimmer wurde geöffnet und wieder sah ich der Frau in die Augen, die ich damals für eine Ärztin aus Moskau gehalten hatte. Immer noch hatte sie den gleichen kühlen Ausdruck im schönen Gesicht und auch den blauen Hefter hatte sie noch in der Hand. Ein Stethoskop hing jetzt zwischen ihren Brüsten und es stand ihr so gut wie anderen Frauen eine Halskette. Obwohl ich eigentlich aus dem Alter für Doktorspiele heraus sein sollte, hätte ich mich nicht sonderlich gewehrt, hätte sie meine Herztöne abhören wollen. Wahrscheinlich waren sie leicht beschleunigt.

Sie nickte mir zu, als wären wir alte Bekannte, dann ging sie an mir vorbei und ich drehte mich nicht um. Sie hätte es kaum missverstehen können, aber dagegen, dass ich dem Echo ihrer Schritte auf den Steinfliesen lauschte, bis sie verklangen, konnte sie nichts tun.


Wird fortgesetzt ...
********t_64 Frau
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Danke für die Fortsetzung...
Der Lada rumpelte über ein Schlagloch, dem Müller nicht schnell genug hatte ausweichen können und er murmelte: „Tut mir leid. Die Federn haben schon einiges mitgemacht.“

Sven Oldenburg erwiderte: „Meinen Sie wirklich, dass mich das jetzt interessiert? Was ist mit meinem Sohn?“

Es waren die ersten Worte, die er sprach, seit er am Flughafen Schönefeld in den Lada gestiegen war. Er machte auf dem Beifahrersitz ein Gesicht wie ein Beamter, der gerade seine Kündigung las. Er wirkte immer so auf den ersten Blick, mit seiner schicken grauen Anzughose, dem dazu passenden Hemd mit Binder, dem Brillengestell aus Draht und den peinlich genau auf links gescheitelten Haarüberbleibseln auf seinem großen Kopf. Nur die abgetragene braune Lederjacke um seine breiten Schultern passte nicht dazu. Er wirkte immer, als sei er kurz vor dem Einschlafen, die Augen nie ganz offen, die Mundpartie entspannt und den Kopf leicht vorgebeugt. Wer sich die Mühe machte, ihm in die Augen zu schauen, sah etwas anderes: kornblumenblauen Augen mit ein wenig Grau darin, hellwache Intelligenz und ein Blick, der in Sekundenschnelle alles erfasste und sich dabei nie lange an einem Punkt aufhielt. Doch Sven ließ selten jemand dicht genug an sich heran, dass der das bemerken konnte und wenn er es nicht vermeiden konnte, versteckte er seine Augen hinter halb gesenkten Lidern.

Auf seinem Schoß lag ein in braunes Packpapier eingeschlagenes Paket. Es war Otto Nordenskjölds „Antarctic - zwei Jahre in Schnee und Eis am Südpol.“ Das Buch war seinem Sohn Christian auf den Fuß gefallen, als er mit vier Jahren in einem Wutanfall gegen das Bücherregal seiner Großmutter getreten hatte. Sechs Monate lang hatte der es kaum aus der Hand gegeben und sich damit das Lesen beigebracht. Danach hatte er es nicht mehr gebraucht – er hatte es im Kopf gehabt, Seite für Seite, Wort für Wort.

Müllers Nachricht hatte Sven in Oslo erreicht, mitten in einer Besprechung mit dem Botschafter. Sven hatte den Mann, der ihm - offiziell zumindest - vorgesetzt war, einfach stehen lassen, dem Fahrer des Botschaftswagens Ampelfarbenblindheit befohlen und so noch die Mittagsmaschine nach Berlin-Schönefeld erwischt. Dass er damit Müllers Zeitplan – der hatte ihn erst vierundzwanzig Stunden später erwartet – torpediert hatte, wusste er nicht.

Müller schwieg ein paar Kilometer lang, als müsste er sich sammeln, dann sagte er: „Es geht ihm unverändert. Unverändert schlecht muss ich wohl sagen. Es tut mir wirklich leid, aber sie können wenig tun für Ihren Sohn. Sein Immunsystem ist zusammengebrochen und zerstört statt Krankheitserregern jetzt die eigenen roten Blutplättchen. Niemand weiß, warum. Wenn der Prozess fortschreitet, werden irgendwann die Organe versagen, weil das Blut nicht mehr genug Sauerstoff zu ihnen transportieren kann. Evans-Syndrom heisst das, aber nicht mal da sind sich die Ärzte sicher.“

Konzentriert blickte Müller durch die Frontscheibe nach vorne. „Sie tappen im Dunkeln. Alle möglichen Tests haben sie durchgeführt, aber in seinem Körper ist nichts, was dafür verantwortlich gemacht werden kann und so viel wir wissen, ist er mit nichts in Berührung gekommen, was das hätte hervorrufen können. Am wahrscheinlichsten scheint außergewöhnliche Stressbelastung bei Dunkelheit und unter Wasser. Die Ausbildung ist hart bei den Kampfschwimmern ... “

Zwei Ausfahrten zu früh setzte Müller den Blinker, fuhr von der Autobahn ab und Svens Augenbrauen gingen eine Winzigkeit in die Höhe. Müller ließ einen roten Traktor vorbei, obwohl er hätte gefahrlos noch vor ihm auf die Landstraße einbiegen können, dann sprach er weiter.

„Es war ein Kampfeinsatz, wie er schon viele hinter sich gebracht hat. Nichts Besonderes für einen Mann mit seiner Ausbildung und Erfahrung. Sie sollten eine Bombe unter Wasser finden und identifizieren. Dann wurde das Wetter ziemlich schlecht, sie haben sie aus dem Wasser holen wollen, aber nur er kam wieder nach oben.“

Links und rechts huschten Apfelbäume vorbei, dann kamen ein paar Häuser. Kinder standen an einer Haltestelle und warteten darauf, dass der Bus sie von der Schule nach Hause fuhr. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und roten Schleifen winkte, vielleicht aus Langeweile, vielleicht auch, weil sie einfach nur freundlich sein wollte und weil sie noch nichts von den Gedankenkisten der Großen wusste. Sie sah eher aus, als würde sie sich noch Märchen von ihrer Großmutter erzählen lassen, in denen der Teufel immer ein Lügenbold war. Er konnte gar nicht anders, es sei denn, er konnte mit der Wahrheit mehr Schaden anrichten. Dass die Erwachsenen den Dingen immer irgendwelche Schilder umhängen mussten, damit sie sie in Gedankenkisten einsortieren konnten, selbst dann, wenn sie nichts darüber wussten, würde ihr hoffentlich das Leben beibringen. Die Schublade, in die Müller und die Ärzte Christian Oldenburg gepackt hatten, hieß Evans-Syndrom.

Das Ortsausgangsschild flog vorbei und Sven sagte: „Sie müssen ihn da herausholen.“
Die Antwort kam, als hätte Müller sie parat gehabt. „Da sind die besten Ärzte für ihn. Ich habe sogar um eine Blutspezialistin aus Moskau gebeten und das mit Herausholen geht nicht so einfach, selbst wenn er gesund würde. Das stand übrigens in meiner Nachricht an Sie.“

„Weil da die dicksten Mauern sind? Türen mit Schlössern, Fenster mit Gittern?“

Müller zuckte die Schultern. Er ließ den Wagen in einen Waldweg rollen, stellte den Motor ab und legte, sich Sven zudrehend, einen Arm auf die Rückenlehne.

„Also Klartext, Oberleutnant Oldenburg! Erstens haben Sie gegen meine eindeutige Weisung durch Ihre überstürzte Abreise für Fragen in Oslo gesorgt. Fragen, die wahrscheinlich jetzt schon bei mir auf dem Schreibtisch liegen und die ich nicht beantworten kann, ohne den Botschafter der Deutschen Demokratischen Republik in Norwegen, dessen Sekretär Sie sind, anzulügen. Er mag zwar vermuten, dass Sie nicht nur seine Konferenzen und Kontakte organisieren, weil Sie so viel außerhalb der Botschaft unterwegs sind, aber genau bei dieser Vermutung wollen wir es auch belassen. Zweitens lassen die Ärzte Ihren Sohn zur Zeit schlafen, damit sich der Prozess in seinem Organismus verlangsamt und jede Störung dabei gefährdet das Leben Ihres Sohnes. Wollen Sie das? Ich denke, bestimmt nicht. Morgen kommt er erst langsam wieder zu sich, vor morgen Abend ist kein Besuch bei ihm möglich. Darum bringe ich Sie Drittens jetzt in das Wohnheim des medizinischen Personals, Sie schlafen sich dort aus, sammeln Kräfte und morgen Nachmittag können Sie Ihren Sohn sehen. Das haben Sie zu akzeptieren!“

„Einen Scheiß habe ich.“

Sven nahm das Buch von seinen Knien, legte es im Fußraum des Lada ab und zog den Reißverschluss seiner Lederjacke auf. Überdeutlich laut klang das Geräusch durch den Innenraum. Wie ein Boxer, der sich lockert, kreiste er einmal den Kopf, drehte sich ebenfalls Müller zu und sagte, und er bekam kaum die Zähne auseinander dabei: „Ich rede dann auch mal Klartext, Major ... Müller. In spätestens dreißig Sekunden rollt dieses Auto und es hört erst damit auf, wenn es vor dem Lazaretttor steht. Wenn Sie dann noch hinter dem Lenkrad sitzen wollen, sollten sie jetzt losfahren.“

„Oberleut ...“

„Jetzt!“

Nur ein Wort und es klang wie ein Schuss. Einen Moment trommelte Müller mit der Hand auf das schwarze Leder der Lenkradumhüllung, dann zuckte er die Schultern, startete den Motor und fuhr weiter.

Als wäre nichts geschehen, sagte er nach einer Weile in fast lockerem Plauderton: „Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht verletzen, aber Sie müssen den Tatsachen ins Auge sehen, auch wenn sie schmerzen. Ihr Sohn hat seine zwei Genossen umgebracht und wird sich dafür zu verantworten haben, wenn er wieder gesund wird. Bis dahin wird er die beste Pflege bekommen, es wird keine Verhöre geben und niemand wird ihn mit Fragen belästigen, dafür könnte ich sorgen. Sollte er es überleben, tue ich mein Möglichstes, um ihn aus der Sache herauszuholen. Ich kann so manche Tür öffnen, das wissen Sie.“

„Den Stoß in den Rücken nicht zu vergessen, damit man auch durchgeht. Ich kann die Stelle noch fühlen.“ Svens Lachen klang wie das Brodeln in einem Vulkanschlund. Ein baldiger Ausbruch stand bevor.

Müller hatte kein Ohr dafür. „Sie sind übermüdet, Genosse Oldenburg und stehen unter Stress. Ich bringe Sie jetzt zu Ihrem schlafenden Sohn, so, wie Sie es wollten und dann sehen wir, was wir für ihn tun können.“

„Echt jetzt? Noch mehr als in den letzten Jahren? Mir kommen die Tränen.“ Der Vulkan baute Druck auf.

„Genosse Old...“

„Schnauze halten!“ Explosion. Der rechte Teil des Armaturenbretts zeigte an der Stelle, an der Svens Faust eingeschlagen hatte, eine tiefe Delle.

Er fischte im Fußraum nach Christians Buch, legte es sich wieder auf den Schoss, ließ die Lider sinken und lehnte seinen Kopf an das Seitenfenster. Kurz darauf entspannte sich sein Gesichtsausdruck und seine Atemzüge wurden langsamer und tiefer.

Müller hatte ohne sichtbare Reaktion Svens Ausbruch über sich ergehen lassen. Mit unbewegtem Gesicht warf er einen kurzen Blick auf Sven. Es sah aus, als sei er tatsächlich eingeschlafen und Müller schaute wieder auf das Asphaltband vor dem Wagen. Doch nach einigen Kilometern, als er sich auf die Abfahrt konzentrieren musste, veränderte sich sein Gesicht und zeigte einen Ausdruck, zu dem Witwer gesagt hätte: Gesicht zur Faust geballt.

Sven schloss die Augen ganz.

wird fortgesetzt ...
*********zier Mann
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Was kann ich
dazu sagen?

Ich liebe Bücher. Ich mag es, stundenlang bei Thalia, Hugendubel, noch lieber in kleinen, vollgepackten Antiquariaten zu stehen und Bücher anzulesen. Manchmal geschieht dabei etwas mit mir. Das Buch, die Geschichte, die Erzählung saugt mich ein. Das sind die Bücher, die ich dann kaufe, nach Hause gehe und zu lesen beginne. Dann gibt es mitunter kein Halten mehr. Schlaf ist nicht mehr wichtig, essen ist nicht mehr wichtig. Es zählt nur noch der Fortgang in dieser anderen Welt, die ich betreten durfte.

Die letzten Bücher, die das schafften, tragen die Namen großer Autoren. Diese Qualität habe ich hier im JoyClub nur ganz selten gefunden und noch seltener nehme ich hier das Wort Literatur in den Mund. Diesmal tue ich es und sehr bewusst.

Ich freue mich unendlich, bei der Geburt von etwas Großem dabei zu sein. Diese Story hat Bestseller-Potenzial und ich glaube, Dein Licht steht unter dem Scheffel. Hole es hervor. Großes Kino. Ich werde erst ein paar weitere Kapitel lesen, bevor ich mich weiter äußere.

Meine Hochachtung
Der Patrizier
Ich möchte gerne sagen, dass sich sieben Jahre Arbeit, in die Ecke werfen, wieder hervorholen, frustriert gegen die Wand knallen, Schreibratgeber wälzen, Kritiken runterschlucken - das sich alles für diesen Kommentar gelohnt hat. Es wäre eine Lüge. Am Anfang war es so, war es Gier nach Anerkennung. Doch diese trägt nicht, nicht über so einen langen Zeitraum. Auch nicht die Hoffnung, einen Verlag zu finden, nicht mehr in meinem Alter.
Es ist die Geschichte. Sie ist größer als ich, sie muss geschrieben werden und da nur ich sie kenne, kann auch nur ich das tun. Ich will, dass Menschen sie lesen und da sie nie als beworbenes Buch Massenware werden wird, bleibt mir nur hier. Das hier ist erst der Anfang, er muss leider sein und er ist später entstanden als der Rest. Denn jede Geschichte braucht einen Anfang ...

Ich danke Dir sehr. Manchmal brauche ich ein wenig Mut ...
Es war kurz nach 6 Uhr am Abend, Fütterungszeit. Das Klappern von Geschirr und von Türen, die auf- und wieder zugeschlagen wurden, hallte über den Flur und über allem lag der Geruch von Essen. Schwestern und Pfleger schoben Wagen mit Essenportionen über den Gang und mit Interesse sah der Soldat Günter Henninger dem Treiben zu. Auch wenn es ihn nichts anging, so bedeutete es wenigstens Abwechslung in seinem vierstündigen Postendasein, in dem er nur eine Aufgabe hatte: Jedem den Zutritt zu dem Bereich hinter der abgeschlossenen Tür hinter sich zu verwehren, der nicht über einen vom Lazarettkommandanten unterschriebenen Passierschein verfügte.

Er stand nicht das erste Mal hier Wache, kannte die Gesichter des medizinischen Personals, das hier aus- und einging und das Kontrollieren ihrer Passierscheine war für ihn eine Routine, die er schon im Unterbewusstsein erledigte. Ohnehin hielten ihm die meisten den Passierschein nur im Vorbeigehen vor das Gesicht und die, die mehrmals an ihm vorbeimussten, gar nicht mehr. Sie hatten sich daran gewöhnt, dass er auf ihren Zuruf ihren Namen und die Ein- und Ausgangszeit in sein Wachbuch eintrug. Es gab die Vorschriften und es gab das Leben – zwischen beidem lagen auch hier Welten und wenn er auch in seinen ersten sechs Monaten Grundwehrdienst nicht so viel gelernt hatte, wie es seine Vorgesetzten gerne gehabt hätten, hatte er wenigstens das begriffen.

Die Frau, die jetzt auf ihn zukam, wirkte nicht, als würde sie jemals einen Wagen mit Essen für die Patienten geschoben haben. Offen und damit unvorschriftsmäßig wehten die Schöße des Arztkittels um ihre wohlgeformten, nackten Beine; der graue Wollrock darunter endete eine Handbreit über den Knien und die weiße Seidenbluse spannte sich verräterisch über ihren Brüsten. Zwei Kugelschreiber wippten in der Tasche über ihrer linken Brust bei jedem schnellen Schritt und der hüftlange rote Zopf auf ihrem Rücken schlug den Takt dazu. In der linken Hand balancierte sie auf einem kleinen Tablett Utensilien für eine Blutentnahme, in der rechten hielt sie ein Stück Papier.

Mit mit einem schnellen Hüftschwung wich sie einem Wagen voller schmutzigen Geschirrs aus, nickte den beiden Schwestern zu und erst einen Schritt vor ihm stoppte das Stakkato ihrer Absätze auf dem abgenutzten Parkettboden.

Sie hielt ihm einen Passierschein hin. „Zum Patienten Oldenburrg, Komplikation, schnell.“ Ungeduldig wippte sie mit den Füßen.

Der Blick, den er auf das Dokument warf, war wesentlich kürzer als der, mit dem er sie angesehen hatte, als sie den Gang entlang auf ihn zu gestürmt war. Er übertrug die Daten des Passierscheins in das Besucherbuch, dann gab er ihn ihr zurück. „Sie dürfen passieren, Doktor Gneidsen.“

Sogar die Tür hielt er ihr auf. Sie ging hindurch und er schickte sich an, ihr zu folgen. Sie stoppte. „Sie wohin wollen?“

„Ich muss mitkommen. Ist Vorschrift außerhalb der offiziellen Dienstzeit.“

„Sie werden nurrr von acht bis sechzehn Uhr krrrank?“

„Äh ...“

„Dann vielleicht Sie sollten Oberrstleutnant Witwerr anrufen. Sein Bürro hat Passierrschein ausgestellt. Err kann errzählen Ihnen überr Verrtrraulichkeit Arrzt Patient.“

Er trampelte von einem Fuß auf den anderen. Hier war es ruhig und trocken, Schwestern teilten Lächeln aus und manchmal stellten sie ihm sogar einen Kaffee hin. Sein Wachvorgesetzter hätte ihn in den Hintern getreten, wenn er ihn mit der Frage belästigt hätte, ob eine Ärztin mit einem vom Lazarettkommandanten persönlich unterschriebenen Passierschein alleine Zutritt zur geschlossenen Abteilung außerhalb der Dienstzeit zu gestatten war.

„Ich lasse die Tür zum Gang hier offen“, sagte er schließlich. „Lassen Sie die Krankenzimmertür nur angelehnt und rufen Sie, wenn Sie mich brauchen bitte.“



Ohne Antwort lässt sie ihn stehen, geht die paar Schritte, entriegelt die Tür, lässt sie einen Spalt offen und dreht sich um.

Christian Oldenburg schläft auf dem Rücken. Er hat ein kantiges Gesicht mit einem fast quadratischen Kinn und einer sichtbaren Grube darin. Die Nase ist kräftig und die Stirn hoch, Schweiß perlt auf ihr. Dreiundzwanzig Jahre ist er alt und sein Gesicht scheint festgefügt und unabänderlich, als hätte das Leben darin schon alles abgeschliffen, was es abzuschleifen gilt. Totenblass spannt die Gesichtshaut über spitz hervorstehenden Wangenknochen, eine Narbe in frischem Rot auf seiner linken Wange windet sich in Richtung Mundwinkel. Tief und gleichmäßig, aber sehr langsam atmet er und selbst im Schlaf sieht er noch nach Kampf aus. In beide Armbeugen hat man ihm Zugänge gelegt, in den linken läuft eine Flüssigkeit aus einem Tropf, der Port in seiner rechten Armbeuge ist verschlossen.

Über seinem Stahlrohrbett ist ein Fenster ohne Griff, dafür mit einem Gitter davor, daneben ein Nachtschrank mit zerkratzter Oberfläche, ein leerer Stuhl und ein Blechschrank mit einer Delle in der Tür. Irgendwo tropft Wasser in ein Waschbecken, es stinkt nach einer Mischung aus Desinfektionsmitteln, kaltem Kantinenessen und Urin.

Am Fußende des Bettes hängt ein Klemmbrett mit der Patientenakte. Sie blättert mit einer Hand darin, dann stellt sie ihr Tablett auf den Nachtschrank und zieht sich den Stuhl neben das Bett. Aus ihrer Kitteltasche holt sie ein Paar Operationshandschuhe, streift sie über, entnimmt ihm über den Port in seiner rechten Armbeuge eine Ampulle Blut und jeder Handgriff sitzt. Dann zieht sie die Handschuhe wieder aus, lässt sie zusammen mit der Ampulle in ihrer Kitteltasche verschwinden, nimmt das Tablett mit ihren Utensilien und geht zur Tür. Ein Ohr am Spalt zwischen Tür und Rahmen, greift sie nach der Türklinke.

Christian sagt etwas im Schlaf, nicht zu verstehen ist es und mitten in der Bewegung verhält sie, dann dreht sie sich um. Schweiß fließt von seiner Stirn, mehr als noch vor wenigen Minuten und etwas davon rinnt ihm in die Augenwinkel. Sie zögert, lauscht noch einmal an der Tür, dann geht sie zum Waschbecken, feuchtet ein Handtuch an und wischt ihm den Schweiß von der Stirn. Mehrmals tut sie das und jede Bewegung ist ein wenig langsamer als die vorhergehende. Plötzlich rutscht sein linker Arm von der Bettkante, fällt dabei gegen ihr nacktes Knie, nur eine winzige Berührung, wenige Quadratmillimeter Haut, unbewusst, niemals gewollt, im Tiefschlaf und doch geschieht etwas mit ihr. Halb über ihn gebeugt, hält sie den Atem an, jeder Muskel ist angespannt, als wollte sie weglaufen und könnte es doch nicht. Dann, wie in Trance, als sei es gar nicht ihr Wille, kommt ihre Hand hoch, streift mir dem Rücken seine Wange und bleibt mit der Fläche auf der Stirn liegen. Sie schließt die Augen.

Lange Sekunden steht sie in dieser unmöglich angespannten Position, dann schüttelt sie den Kopf wie ein angeschlagener Boxer, richtet sich auf und öffnet erst jetzt wieder die Augen, richtet sie auf Christians Gesicht und in ihrem Blick ist nichts als ungläubiges Staunen.

Auf dem Flur ertönt ein leises Geräusch. Sie springt zur Tür, lauscht, aber da ist niemand. Sie schleicht die zwei Schritte zurück an das Fußende von seinem Bett, greift nach der Akte und blättert sie durch, Blatt für Blatt – mehrmals wieder zurück und wieder vor. Dann lässt sie sich auf den Stuhl fallen, stützt die Ellenbogen auf ihre Oberschenkel und verbirgt den Kopf in ihren Handflächen.

Minuten müssen vergangen sein, bis sie sich wieder aufrichtet. Sie greift nach den Utensilien, die sie mitgebracht, aber nicht benötigt hat und nimmt sich selbst Blut ab. Fahrig wirkt das plötzlich, hektisch und der Gegensatz zu ihrer vorherigen Professionalität ist unverkennbar. Sie nimmt sich nicht einmal Zeit, den Gummischlauch an ihrem Oberarm zu lösen, als die Ampulle gefüllt ist, springt auf, stoppt den Zulauf des Schlafmittels in seiner linken Armbeuge, entfernt den Schlauch von seinem Port und injiziert ihm stattdessen - zweimal muss sie dabei ansetzen, so zittern ihre Hände – das Blut, das sie sich eben selbst abgenommen hat. Immer wieder gehen ihre Blicke dabei zur Tür. Die Ampulle wird leer, sie verbindet den Infusionsschlauch wieder mit dem Port, da verzerrt sich plötzlich Christians Gesicht. Er krampft die Hände in das Bettlaken, biegt den Rücken in einem unmöglichen Winkel durch, bis nur noch Fersen und Kopf den Körper stützen und reißt den Mund auf zu einem Schrei. Sie wirft sich auf ihn, mit ihrem ganzen Körpergewicht, presst ihm beide Hände auf den Mund, er wirft den Kopf hin und her, doch sie ist kräftig, er im Tiefschlaf und so dringt nur noch ersticktes Stöhnen unter ihren Händen hervor. Einmal noch bäumt er sich gegen sie auf, dann fällt er zurück und erschlafft.

Stimmen erklingen auf dem Flur, nicht nur ein einzelnes Geräusch wie vorhin, schwer atmend richtet sie sich auf und der Blick, den sie zur Tür wirft, wirkt gehetzt. Einmal noch schaut sie auf Christian, zerrt die Decke über seinem bewegungslosen Körper glatt und setzt eine OP-Maske auf, die nur ihre grünen Augen frei lässt. An der Tür atmet sie ein paar Mal deutlich hörbar aus und ein, dann tritt sie auf den Gang hinaus.

Wird fortgesetzt ...
Ende des ersten Teils
Tatsächlich ist mir aufgefallen, dass Weihnachten vor der Tür steht. Ich stelle dann mal Lesestoff für die Feiertage ein *liebguck* für die, die für ein paar Stunden in eine andere Welt entfleuchen möchten.
Frohes Fest Euch allen.
Rainer



„Noch einmal, Genosse Soldat: Das hier ist der Vater des Patienten hinter der Tür und jetzt lassen Sie ihn gefälligst zu ihm! Hier ist mein Ausweis, schauen Sie genau hin!“

Auch wenn Müller seine Stimme nicht hob, war die Schärfe darin unverkennbar. Der Posten rührte sich keinen Millimeter.
„Ohne Passierschein dürfen Sie nicht rein. Nicht mal, wenn der Stationsarzt hier wäre.“

„Warum steht dann die Tür sperrangelweit offen? Nehmen Sie so Ihre Dienstpflichten wahr?“

„Na weil da eine Ärztin rein ist und ich wenigstens doch hören muss, ob alles in Ordnung ist? Ja, und die hatte einen Schein. Aber Sie nicht und deshalb dürfen Sie da nicht rein. Dürfen Sie nicht. Wirklich.“

Die letzten Worte des Postens klangen schon nach Resignation. Egal, was er jetzt tat - in jedem Fall würde er sich vom Wachhabenden nach der Ablösung eine Standpauke anhören müssen, wenn es ihn nicht sogar seine Beförderung zum Gefreiten kosten würde. Dienstvorschriften und Befehle waren das eine, ein Major in Zivil mit einem Ausweis, für den es in den Unterlagen der Wache kein Muster gab, das andere. Schlimmer noch war, dass Müller dem Posten, wenn der ihn doch hineinließ, auch noch einen Verstoß gegen die Dienstvorschrift anhängen konnte, eben, weil er ihn hineingelassen hatte.

Sven wartete ein paar Schritte hinter den beiden. Er wusste, dass er zwölf Stunden früher als geplant eingetroffen war und und alles sah danach aus, dass Müller deshalb keine Zeit mehr gehabt hatte, sich um einen Passierschein zu kümmern. Dazu passte, dass man sie auch am Kontrolldurchlass des Lazaretts nicht hatte mit dem Wagen passieren lassen und Müller den Lada auf einem Parkplatz davor abstellen musste.
Der stand seitlich der offenen Tür zu den dahinterliegenden Räumen und hatte deshalb keinen freien Blick auf den Gang. Sven schon und so sah er als Erster die rothaarige Frau mit der OP-Maske aus einem der Krankenzimmer kommen. Sie eilte den Gang entlang und wollte offenbar an ihnen vorbei.

Sven trat einen Schritt zur Seite, hielt sie jedoch am Arm fest und fragte: „Muss ich auch eine tragen, wenn ich zu meinem Sohn dahinten will?“

Im Vorbeigehen erwiderte sie: „Ich habe Errkältung“, und als wäre das Erklärung genug, eilte sie mit schnellen Schritten und gesenktem Kopf weiter den Flur entlang.

Der Posten sagte gerade zu Müller: „Es geht wirklich nicht. Allerhöchstens mit ...“, unterbrach sich mitten im Satz und rief: „Hallo? Dr. Gneidsen! Sie müssen noch unterschreiben!“

Sie war bereits am Ausgang der Station, riss die Tür auf und verschwand, bevor er noch einmal rufen konnte.

Müller schaute ihr nach. „Wer soll das gewesen sein?“

„Na, Dr. Gneidsen. Sie hatte einen Passierschein.“

Wenn auch nur der geringste Ansatz von Schadenfreude in diesem Satz gelegen haben sollte, so kam der Posten nicht mehr dazu, sie zu gießen.

„Das war ni...“
Müller blickte den Gang entlang zur Stationstür, dann zu der Tür, hinter der Christians Krankenzimmer lag und für einen Sekundenbruchteil streifte sein Blick auch das Gesicht von Sven, dann zischte er: „Soldat, stellen Sie mir augenblicklich eine Verbindung zum Wachhabenden her!“

Etwas war in seiner Stimme, das jeden Widerspruch erstickte. Der Soldat griff zum Hörer des Telefons und reichte ihn Müller. Der wartete, bis sich der Wachhabende meldete und sagte dann: „Schlagen sie Ihre Wachanweisung auf. Auf der Seite drei unten finden sie Parolen. Meine lautet: Klassenfeind. Bestätigen Sie!“

Es dauerte ein paar Sekunden, dann kam die Antwort: „Klassenfeind, bestätigt.“

„Lösen Sie Alarm für die Wache aus, Kontrolldurchlass schließen, niemand verlässt oder betritt das Objekt, jeder Posten wird doppelt besetzt. Alarmieren Sie Oberstleutnant Witwer und halten Sie sich für weitere Maßnahmen bereit. Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen. Ende!“

„Und Sie, Genosse Soldat ...“ Er warf den Hörer auf die Gabel, „... stellen sich am besten schon einmal darauf ein, dass Ihr nächster Posten auf Cap Arkona sein wird. Vielleicht lernen Sie dann dort, dass zu einem Passierschein auch immer ein Dienstausweis mit dem gleichen Namen gehört. Und jetzt lassen Sie den Mann hier endlich zu seinem Sohn!“

„Was ist hier los?“

Sven trat näher und Müller flüsterte: „Der Posten hat Recht. Wir hätten einen Passierschein gebraucht, da Sie aber früher als geplant gekommen sind, konnte ich keinen mehr organisieren und wie Sie sehen, reicht nicht einmal mein Ausweis hier. Andererseits hat er eine Ärztin ohne Kontrolle ihres Dienstausweises passieren lassen, entgegen der Vorschrift und ich habe deswegen die Wache aus ihrem Luxustiefschlaf geweckt. Sie kommen ohne weitere Verzögerung zu Ihrem Sohn und ich habe den Lazarettkommandanten gerade daran erinnert, dass das hier immer noch eine militärische Einrichtung ist.“

„Er wird Sie lieben dafür.“

Müller lächelte kalt. „Liebe wird überbewertet. Jetzt gehen Sie zu ihrem Sohn. Ich komme morgen nachmittag bei Ihnen vorbei.“

Er ließ Sven stehen und ging mit energischen, aber nicht besonders schnellen Schritten zum Ausgang der Station. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, rannte er los.



Es war nicht Gefühlskälte, die Sven in der Tür stehenbleiben ließ, sondern seine Ausbildung. Er betrat nie einen Raum, ohne zu prüfen, was ihn dort erwartete. Außerdem wusste er, dass Christian nicht davonlaufen konnte, dass er es vielleicht nie mehr können würde und dass in den zwei oder drei Sekunden, die Sven brauchte, um die Situation einzuschätzen, kaum etwas geschehen würde, dass das änderte.

Er legte das Buch, das er die ganze Zeit in der Hand gehabt hatte, auf den Nachtschrank, hängte seine Lederjacke über den Stuhl, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf.

Viele Minuten ließ er so vergehen, dann drehte er den Stuhl um und griff nach Christians Hand. Sie zuckte, als hätte sie ein eigenes Leben und über Svens Gesicht huschte ein verlegenes Lächeln. Vorsichtig legte er sie wieder auf die Bettkante zurück. Christian hatte sich nur ungern anfassen lassen, selbst als kleines Kind nicht, manchmal hatte er sogar um sich geschlagen und etwas davon schien selbst noch im Tiefschlaf wach zu sein. Er hatte viel um sich geschlagen, wenn er nicht gerade gelesen hatte und es hatte Svens nahezu übermenschliche Geduld gekostet, ihn Stück für Stück davon abzubringen. Manchmal hatte Sven geglaubt, etwas aufblitzen zu sehen, ein Licht, so weit allen anderen voraus ... Christian hatte wortwörtlich ganze Buchseiten zitieren können ... Dinge miteinander verknüpft, die nicht zusammengehörten ... Aber es war immer nur ein kurzes Aufflackern gewesen von etwas, dass er selbst nicht erklären konnte oder wollte. Für Sven hatte Christian immer zwischen zu viel Wunsch und zu wenig Wirklichkeit gelebt, hatte sich in einer Welt vergraben, zu der Sven nie Zugang gefunden hatte, vielleicht, weil er nach dem frühen Tod seiner Frau und der Begegnung mit dem Ministerium für Staatssicherheit in Gestalt von Bernard Müller zu früh aufgehört hatte, zu träumen.

Nachdem Christian zu den Kampfschwimmern eingezogen worden war, hatte für ihn das normale Leben eines Wehrpflichtigen begonnen und das kannte keine freien Wochenenden. Nur Ausgang in Uniform und Urlaub in mehreren Varianten und Sven hatte seine Arbeit in Norwegen kaum dem Urlaub seines Sohnes anpassen können. Es war viele Monate her, dass er Christian das letzte Mal gesehen hatte, doch er erinnerte sich noch gut daran, wie bestialisch der Besucherraum, gleich hinter dem Wachgebäude der Kaserne in Kühlungsborn nach kaltem Zigarettenraum gestunken hatte, obwohl die Fenster geklappt gewesen waren. Der Mief hatte sich in die Wände gefressen, aus jedem Winkel hervorgedünstet und das Atmen schwer gemacht. Ganze Armeen von Müttern, Vätern, Ehefrauen und Geliebten hatten hier schon gewartet und vor Nervosität eine Kippe nach der anderen gequalmt. Sie hatten gewartet auf den Moment, in dem der Sohn, der Geliebte endlich in der Tür stand für eine Stunde Zweisamkeit, ein paar Umarmungen und viel zu wenig Küsse. Sven wusste, dass er auf nichts davon hoffen durfte, ja, dass es zwischen ihm und seinem Sohn nicht einmal das geben würde, was man ein Gespräch nennen konnte. Trotzdem war er gekommen. Weil Christian sein Sohn war und weil ein Wunder geschehen war: Christian hatte ihm einen Brief geschrieben und um etwas gebeten.

Draußen wurden Kommandos gebrüllt, Stiefel trampelten auf Pflastersteinen, dann war da ein nicht ganz synchrones, aber unverwechselbares metallisches Klicken: Magazine, die in Kalaschnikows eingesetzt wurden und einrasteten. Ein weiteres Kommando, diesmal laut genug, dass Sven es verstand: „Im Gleichschritt – Marsch!“ Wieder trampelten Stiefel, diesmal im Gleichschritt, das Geräusch wurde leiser, verklang schließlich und Sven war wieder allein mit seinen Gedanken und dem Gestank von Caro und F6.

Christian kam in seinem typischen, breitbeinigen Gang, der immer wirkte, als ginge er über die schwankenden Planken eines alten Segelschiffs, herein. Wortlos setzte er sich Sven gegenüber auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches und legte die Hände flach auf die Oberschenkel.

„Guten Tag“, sagte er, doch eine Emotion war ihm nicht anzusehen dabei. Seine Augen hatte er auf die Wand hinter Sven gerichtet und sein Blick wanderte auf ihr hin und her, als läse er dort einen nur für ihn sichtbaren Text.

„Hallo Christian.“

Mit einem Räuspern holte Sven die zusammengerollte Fotokopie einer Karte aus der Tasche und schob sie über den Tisch. „Hier. Die Karte des Piri Reis. War nicht einfach, sie zu besorgen. Es ist ein exakte Kopie des Originals aus dem Topkapi, dem Palast des Sultans in Istanbul. Da liegt das Original unter Glas. Panzerglas wahrscheinlich.“

Es dauerte, bis Christian reagierte. Dann jedoch studierte er sie minutenlang, hielt sie gegen das Licht, als suchte er nach verborgener Schrift darin, legte sie schließlich wieder auf die Tischplatte und fuhr mit dem Finger die Linien darauf nach. Sven schien für ihn nicht mehr zu existieren.

Der griff mit beiden Händen nach der Tischkante. „Danke, dass du mich an deinen Gedanken teilhaben lässt. Mir geht es übrigens gut. Und dir?“

„Mir ... geht ... es ... auch ... gut.“ Christian ließ sich nicht beim Studium der Karte stören.

„Rede nicht mit der Karte, rede mit MIR!“

Christian hob den Kopf und in seinem Gesicht war nichts weiter als Kälte. Er musterte Svens Gesicht mit der gleichen Intensität, mit der er auch die Karte studiert hatte. Nur in die Augen sah er Sven nicht.

„Verletzt und zornig.“

„Falsch!“

„Richtig. Menschen werden immer zornig, wenn sie sich nicht verstanden fühlen. Ballen die Fäuste, schlagen zu ... ich kenne das ...“

Sven wurde zornrot, atmete zwei, dreimal unüberhörbar, dann legte er die Hände ganz ruhig vor sich auf die Tischplatte. Jeder Wutausbruch hätte nur das Gegenteil von dem bewirkt, was er sich erhoffte. Christian wäre wortlos aufgestanden und gegangen. Diesen Teil der Diskussion hatten sie bereits hinter sich gebracht. Es war der Tag gewesen, an dem Christian erfahren hatte, dass Sven ein Spion war.

„Wofür brauchst du sie?“, fragte Sven schließlich.

„Ist das eine wichtige Information für dich?“

Sven hob die Hände, dann ließ er sie auf den Tisch fallen. Es war eine Geste voller Hilflosigkeit.

Christian stand auf. „Danke für deinen Besuch. Vater.“

Mit seinen schweren Schritten ging er zur Tür, öffnete sie, verhielt dann und sagte: „Ich will mein Gehirn mit etwas Schönem beschäftigen.“ Nachdenklich musterte er das Holz der Tür. „Hier wird es mit Methoden gefüllt, wie ich am effektivsten andere umbringen kann, wie ich verhindern kann, dass andere das gleiche mit mir machen, dazu noch Schiffe in die Luft jagen, Bomben bauen, welche Waffen ich dazu brauche und so ein Kleinkram. Ich bin gut darin. Ich glaube sogar, der Beste hier. War scheinbar eine gute Idee, mich hierherzuschicken. Von dir?“

Es knallte mörderisch, ein kindskopfgroßes Loch war plötzlich in der Tür und fast verächtlich zog Christian einen Splitter aus der Haut über seiner geballten Faust. Ohne Sven auch nur noch einmal anzublicken, war er hinausgegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen.



Als die Nachtschwester kam, um nach Christian zu sehen, saß Sven immer noch auf dem Stuhl, den Ellenbogen auf ein Knie gestützt und den Kopf auf die Hand gelegt. Sie ging noch einmal zurück, kehrte nach ein paar Minuten mit einer Decke wieder und legte sie ihm um die Schultern. Sie war eine kleine dralle Matrone mit einem gestärkten Häubchen auf den grauen Haaren, runden Apfelbäckchen und sanften Augen. Sie sah aus, wie immer eine Krankenschwester aussehen sollte.

„Danke“, murmelte er.

Sie wollte einen neuen Infusionsbeutel an den Ständer hängen, stoppte mitten in der Bewegung und runzelte die Stirn. Dann warf sie einen Blick auf Christian und schüttelte den Kopf.

Sven fragte: „Was ist?“

„Jemand hat den Zulauf verschlossen.“

„Jemand?“

Sie zuckte die Schultern. „Es kann nur Schwester Kathi gewesen sein. Sie hatte Dienst vor mir. Wahrscheinlich war sie in Gedanken mal wieder woanders. Ich rede morgen mit ihr. Ist aber nicht schlimm, Ihr Sohn schläft ja zum Glück noch.“

Ihr Gesichtsausdruck sagte allerdings deutlich, dass da jemand wohl ziemlichen Ärger bekommen würde. Sie wechselte den Beutel, stellte die korrekte Dosierung ein, dann kontrollierte sie Christians Puls und sagte: „Ist wirklich alles in Ordnung mit ihm.“

Er fragte: „Hat Schwester Kathi lange rote Haare?“

„I wo. Blond und kurz.“

„Gibt es jemanden bei Ihnen, ca. einen Meter achtzig groß, kräftige Figur, hüftlange, lockige rote Haare, grüne Augen?“

Die Schwester schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Vielleicht in einer anderen Station. Aber auch da hätte sie sie hochstecken müssen. Könnte höchstens eine Ärztin gewesen sein, die halten sich nicht immer dran. Warum wollen Sie das wissen?“

Sven winkte ab. „Hat mich nur interessiert. Seit wann bekommt mein Sohn denn das Schlafmittel?“

„Keine Ahnung. Ich bin erst vor einer halben Stunde zum Dienst gekommen. Gestern jedenfalls noch nicht. Aber warten Sie, das lässt sich herausbekommen.“

Sie griff nach Christians Patientenakte und blätterte darin. Schließlich sagte sie: „Seit um zwei heute Nachmittag. Die Unterschrift hier ist von Doktor Brost. Das ist der Stationsarzt.“

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Hören Sie. Ich kann Sie verstehen, aber es ist alles in Ordnung. Ihrem Sohn geht es nicht schlechter als vorher. Eigentlich ...“, sie warf einen Blick auf sein Gesicht, „... sogar besser als heute Morgen. Da hatte ich Dienstschluss und da war er totenblass wie die anderen Tage auch. Jetzt hat er fast schon richtig Farbe im Gesicht. Sieht aus, als würde er einfach nur schlafen. Doktor Brost weiß, was er tut, glauben Sie mir. Wenn jemand Ihren Sohn wieder auf die Beine stellen kann, dann er.“

Sven unterdrückte ein Gähnen. „Wann ist er morgen früh hier?“

„So zwischen halb acht und acht kommt er meistens.“

Mit einem Mutmach-Lächeln tätschelte sie seinen Arm, dann ging sie.

Kaum war sie verschwunden, stand Sven auf, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, kreuzte die Arme vor der Brust und warf einen langen Blick auf Christian. Der schlief tief und fest und tatsächlich deutete nichts darauf hin, dass er todkrank war. Sein Gesicht sah abgemagert aus, aber es hatte eine gesunde Farbe, die Blässe war verschwunden. Ihrem Sohn geht es nicht schlechter als vorher. Eigentlich sogar besser als heute Morgen, hatte die Schwester gesagt.

Sven streckte den Arm aus und stoppte den Zufluss des Schlafmittels. Dann ging er hinaus, schlenderte über den Gang und klopfte leise an der jetzt von außen verschlossenen Tür des geschlossenen Bereichs. Der Posten, der ihm jetzt öffnete, war ein Gefreiter.

Sven sagte: „Ich würde gerne wissen, ob meine Schwiegertochter schon bei meinem Sohn gewesen ist. Können Sie mir das sagen?“

Der Gefreite erwiderte: „Wenn, dann hätte sie einen Passierschein gehabt. Müsste im Buch stehen. Wie heißt sie?“

„Birgit Mildenstrey.“

Der Posten blätterte durch das Buch, dann zuckte er die Schulter. „Tut mir leid. Der Name ist hier nicht drin.“

„Darf ich einmal schauen?“ Sven trat neben den Posten.

„Eigentlich nicht.“

Aber Sven fuhr schon mit einem Finger die Einträge auf der aufgeschlagenen Seite entlang, der Posten hätte ihn zur Seite drängen müssen, hätte er das verhindern wollen. Er warf einen Blick in den Gang, doch der war leer und so zuckte er nur die Schultern.

Sven blätterte zurück, fuhr weiter die Namen mit dem Finger entlang. Dann stoppte sein Finger auf einem Eintrag des gestrigen Tages: B. Müller, 08:10. Darunter war noch ein Eintrag mit der gleichen Zeit: W. Brost.
Er blätterte wieder auf die aktuelle Seite und sagte: „Dann war sie wohl doch noch nicht hier. Danke. Ich schlafe bei meinem Sohn heute Nacht. Ruhigen Dienst.“

Der Posten lachte. „Danke. Was soll hier schon passieren?“

„Nichts mehr. Ist schon geschehen.“

Sven eilte zurück, schloss die Zimmertür hinter sich und zog sogar noch einmal am Türgriff, um sicher zu sein, dass sie auch tatsächlich zu war. Dann beugte er sich über Christian und rüttelte ihn heftig an der Schulter. Der murmelte etwas, aber seine Augen blieben geschlossen. Sven verpasste ihm links und rechts eine Ohrfeige und jetzt hatte er Erfolg, Christians Augenlider zuckten, dann öffnete er die Augen. Einen Moment irrte sein Blick über die Zimmerdecke, dann fokussierte er auf dem Gesicht von Sven.

„Kann ... kann ... mich die Stasi nicht mal in Ruhe krepieren lassen?“

„Nein, kann sie nicht. Wie geht es dir? Und keine Spielchen mehr!“

Ein Zucken lief über das Gesicht von Christian, setzte sich um die Mundwinkel fort und fast hätte man es für ein Lächeln halten können. „Besorgt.“

Sein Blick sagte noch etwas, es ließ Sven schlucken und sich mit der Hand über die Augen wischen.

„Bild dir bloß nichts ein. Erzähl, und zwar alles! Und halt die Augen offen, sonst hau ich dir eine rein.“

Christian benötigte nicht lange. Am Anfang kamen seine Worte noch stockend, doch dann wurde seine Rede zusehends flüssiger. Er sprach knapp, aber präzise und wie es aussah, konnte er sehr wohl zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden. Sven stellte ein paar Zwischenfragen und als Christian auch die beantwortet hatte, schwiegen sie. Es hatte schon früher viel Stille zwischen ihnen gegeben, doch das hier war etwas anderes. Etwas war plötzlich im Raum zwischen ihnen und es trennte nicht, es verband.

Sven war der Erste, der das Schweigen brach. Er drehte sein Gesicht von Christian weg, fuhr sich einmal kurz mit der Hand über die Augen, dann sagte er: „Ich muss am Morgen ein paar Dinge erledigen. Aber mach dir keine Hoffnungen, bis du gesund bist, wirst du mich nicht wieder los. Wenn ich wiederkomme, hole ich dich hier raus. Du gehst in die Charité, oder es gibt Tote.“

„Du bist zornig.“

„Wieder mal falsch. Ich bin rasend vor Wut.“

Sven streckte den Arm aus und öffnete den Dosierhahn für Christians Schlafmittel.




Als es am nächsten Nachmittag an seine Tür klopfte, hörte es sich nicht nach besonders guter Laune desjenigen an, der draußen stand. Sven machte den Wasserkocher an, und füllte Kaffeepulver in eine Edelstahlkanne, die er vorhin aus der Kantine mitgenommen hatte. Mit ein paar schnellen Bewegungen lockerte er seine Schultergelenke, wie er es auch gestern in Müllers Lada gemacht hatte, dann öffnete er die Tür.

Müller wirkte wie aus dem Ei gepellt: Dunkler Anzug, Binder in Dunkelblau und Erich-Honecker-Hut, allerdings aus grauem Filz und nicht aus Stroh. Seine Augen waren gerötet und die Tränensäcke darunter deutlich zu sehen.

Sven öffnete die Tür ganz. „Guten Morgen. Ein bisschen gefeiert heute Nacht?“

„Es gab keinen Grund zum Feiern. Das ist Genossen Bredenbach, mein Fahrer.“

Müller ging an ihm vorbei, sein breitschultriger Begleiter warf einen prüfenden Blick nach rechts und links über den Flur, dann folgte er. Sven ließ die beiden an sich vorbeigehen und schloss die Tür hinter ihnen. Müller setzte sich in den Sessel am Fernseher, sein Begleiter blieb neben Sven in einer Haltung stehen, die jeder, der jemals gedient hatte, als perfekte „Rührt-Euch-Stellung“ erkannt hätte: locker in den Gelenken, aber bereit, in jeder Sekunde zu handeln.

„Fahrer, Hm? Guten Ausbilder gehabt.“, sagte Sven launig zu ihm. „Kaffee?“

Müller knöpfte seinen Mantel auf. „Wir sind nicht hier, um Kaffee zu trinken, Genosse Oldenburg. Jemand in Berlin will Sie sehen. Heute noch.“

Sven goss mit betrübtem Gesicht das kochende Wasser in die Kanne, rührte ein paar Mal um und schraubte den Deckel zu. „Das passt jetzt aber ganz schlecht. Ich habe da ein krankes Familienmitglied und irgendwie das Gefühl, dass es besser ist, wenn ich in seiner Nähe bleibe.“

„Ich habe keine Zeit für Spielchen und Ihrem Sohn geht es wesentlich besser. Seine Prognose ist hervorragend.“

„Seit wann?“

„Seit gestern Abend offen...“ Müller unterbrach sich, dann fauchte er: „Es geht ihm besser und Schluss. Jetzt packen Sie Ihren Koffer!“

„Wie jetzt? Was ist mit meinem Sohn? Komme ich nicht wieder zurück? “

„Es reicht!“

„Das heisst dann wohl nein. Also das war ihr Plan.“

„Was für ein Plan?“ Müller Augen waren nur noch Schlitze.

„Wie ich das sehe, haben Sie organisiert, dass er schläft, wenn ich komme; jetzt wacht er auf und ich reise mit Koffer ab ... Halten Sie die Ausbildung wirklich für so schlecht, die Sie mir verpasst haben, dass ich nicht einmal eins und eins zusammenrechnen kann?“

Müller presste die Kiefer so fest aufeinander, dass sich die Kaumuskeln in seinem Gesicht abzeichneten. Er blickte seinen Begleiter an und der straffte sich wie eine Marionette, die erwacht, weil jemand an ihren Fäden zieht.

Sven lachte und hob beide Hände, als wäre eine Waffe auf ihn gerichtet. „Ist ja schon gut. War nur ein Scherz. Ich gehe meinen Koffer packen.“

Er griff nach der Edelstahlkanne und nach einer Tasse. „Wirklich keinen Kaffee? Ist ziemlich stark.“

Er hielt die Kanne auf Augenhöhe und Müller fauchte: „Nein!“

„Schade“, und einfach so aus dem Handgelenk knallte Sven Müllers Begleiter die Edelstahlkanne gegen die Schläfe.

Müller sprang auf. „Sind sie wahn...“

„Hinsetzen!“ Sven hob die Kanne über den Kopf. „Oder ich zertrümmere ihnen Ihren verdammten Schädel!“
Er schwang den Arm nach hinten und Müller ließ sich in den Sessel zurückfallen.

„Besser ist“, brummte Sven. „Wäre schade um den Hut gewesen.“

Er kniete sich neben den Bewusstlosen, klappte dessen Unterkiefer nach unten und prüfte, dass er frei atmen konnte. Dann drehte er ihn auf die Seite.

„Was machen Sie da?“ Müller hatte sich wieder unter Kontrolle gebracht.

„Dreckige Feldarbeit, will ihn ja nicht umbringen. Kennen Sie nicht. Passiert höchst selten hinter einem Schreibtisch.“

Sven zog dem Bewusstlosen den Gürtel aus der Hose und fesselte sorgfältig dessen Hände. Dann zog er sich einen Stuhl heran, setzte sich Müller so auf Armeslänge gegenüber, dass er auch den Bewusstlosen im Blick behielt und schwang die Thermoskanne mit zwei Fingern an ihrem Henkel hin und her.

„Wenn Sie eine Waffe unter ihrem Sakko hätten, wäre sie wahrscheinlich schon auf mich gerichtet. Wenn Sie’s verschlafen haben und es jetzt versuchen wollen, reicht das hier. Wollen Sie?“

Müller hob ein wenig die Arme, dann ließ er sie auf die Oberschenkel fallen.

„Schade eigentlich,“ sagte Sven. „Aber mein Sohn lässt ihnen schöne Grüße bestellen und dass er sich schon sehr darauf freut, Sie kennenzulernen. Doch wie Sie schon sagten – wir sind nicht hier, um Kaffee zu trinken, also machen Sie unserem Beruf Ehre und spitzen Sie die Ohren: Alle meine Instinkte sagen mir, dass gestern Abend etwas passiert ist, das nicht in ihre Pläne gepasst hat. Welche waren das doch gleich? Ich meine, Sie sind mein Führungsoffizier, bei mir in der Botschaft in Oslo laufen Ihre Fäden für Nordeuropa zusammen – da hätte ich doch ein wenig Vertrauen verdient, finde ich.“

Müller kniff die Lippen zusammen und Sven nickte. „Dachte ich mir. Machen wir es so – ich werfe ein paar Puzzlesteine auf den Tisch, Sie geben ein paar treffsichere Kommentare dazu und danach gehen wir – naja, nicht gerade als Freunde - auseinander und machen das, was notwendig ist. Ich kümmere mich um meinen Sohn, Sie sich um Ihre Arbeit und alles wird gut. Was halten Sie davon?“

„Wenn nicht, prügeln sie es aus mir heraus? Also bitte ... wir sind hier nicht bei der CIA.“ Verächtlich zog Müller die Mundwinkel nach unten.

„Nein, beim Ministerium für Staatssicherheit. Manchmal frage ich mich, ob wir uns noch sehr von denen unterscheiden.“

Sven zeigte die Zähne. Wenn es ein Lachen sein sollte, war es das eines Haifisches. „Aber ist egal. Die Prügel in unserer Familie verteilt übrigens Christian. Ich bin der mit dem Kopf zum Denken und in dem ist die Nummer eines gewissen Mischa Wolf gespeichert. Am Ausgang hängt ein Telefon. Ich glaube mich zu erinnern, dass er der Chef unserer Auslandsspionage ist, also mein und Ihr Boss sozusagen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Sie ihn noch nicht darüber informiert haben, was passiert ist. Haben Sie?“

Der Mann auf dem Boden stöhnte und drehte sich auf den Rücken. Sven meinte zu ihm: „Kopfschmerzen? Ich sagte doch: starker Kaffe. Tut mir leid, ich hatte Sie für einen Moment mit dem hier verwechselt.“ Er nickte mit dem Kopf zu Müller. „Wenn Sie still liegen bleiben, besteht keine Verwechslungsgefahr mehr.“
Er richtete seinen Blick wieder auf Müller. „Nun?“

Der zuckte die Schultern. „Natürlich nicht. Es gab offiziell keinen Grund. Es war nicht sein Bereich, in den das fiel.“

„Offiziell ... schönes Wort ...“

Sven zog ein Gesicht, als bisse er auf eine Zitrone. „Also kurz und knapp: Ich die Puzzleteile, Sie die Geschichte. Fehlt auch nur ein Stein, erzählen wir beide sie Mischa. Ich habe meine Zeit in der Normannenstraße nicht nur im Haus fünfzehn verbracht. Freunde braucht man immer, und mit denen habe ich heute Vormittag ein bisschen telefoniert. Also Stein eins: 1958 stürzt vor Warnemünde eine TU-95 ab. Doch selbst nachdem sie unsere Freunde aus dem Osten geborgen hatten, wurde noch monatelang weitergesucht. Wonach? Stein zwei: Nach dem Fischsterben vor Warnemünde vor ein paar Wochen war klar, dass irgendwo unter Wasser eine giftige Substanz ausgetreten ist. Trotzdem schickt man bei Nacht und wirklich miesem Wetter einen Trupp runter, nicht nur zur Aufklärung, sondern auch zur Entschärfung einer ominösen Waffe. Kampfschwimmer können das, sicher, aber es gibt Minentaucher dafür, die das fast täglich machen. Warum hat man nicht die genommen? Stein drei: Mitten im Einsatz läuft ihr Boot mit voller Kraft auf die Einsatzposition des Trupps außerhalb der Staatsgrenzen der DDR zu, was es nach meinem Kenntnisstand nicht gedurft hätte. Also ist etwas schief gelaufen, aber nicht unter, sondern über Wasser. Was? Wenn ich das jetzt alles so zusammenrechne, komme ich irgendwie auf die Idee, dass mein Sohn da unten etwas gesehen hat, was er nie hätte sehen sollen. Oder dass er hätte nie wieder aus der Ostsee auftauchen sollen und jemand jetzt versucht, diesen Fehler wieder gutzumachen.“

Müller fuhr sich über die Lippen, doch Sven hob die Hand. „Eins hätte ich fast noch vergessen: Ich hatte heute Morgen einen kleinen Schwatz mit dem Stationsarzt. Da meldete sich plötzlich ein Bürschchen namens Gneidsen bei ihm. Er guckte mich schon etwas bedeppert an, als ich ihn fragte, wie es seiner älteren Schwester geht, da wollte ich ihn dann nicht noch fragen, ob er in der Nacht eine Geschlechtsumwandlung hat machen lassen.“

„Das ist ja krank“, zischte Müller.

Sven nickte und wieder hatte er das Haifischlächeln im Gesicht. „Sehe ich auch so. Ich motiviere Sie mal ein bisschen, damit ihre nächsten Sätze ein wenig länger ausfallen: Wenn ich glauben müsste, dass jemand meinen Sohn umbringen wollte, würde ich demjenigen den Hals umdrehen, bevor er auch nur piep sagen kann.“

Scheinbar achtlos schwenkte er die Edelstahlkanne in seiner rechten Hand hin und her. „Und Scheiß drauf, was danach kommt. Wenn es sein müsste, sofort. Also sagen Sie lieber piep.“

Sven hatte fast freundlich gesprochen, doch sein Gesicht sagte etwas anderes. Es war bar jeden Ausdrucks, aber in seinen Augen lohte ein dunkles Feuer.

Müller warf mit bleichem Gesicht einen Blick auf den am Boden liegenden Mann und sagte: „Das darf er nicht erfahren.“

Sven drehte sich halb zur Seite. „Ah ja, das kann ich verstehen. Tut mir leid Kumpel.“ Er hob die Kanne. Müllers Pitbull riss die Augen auf, Sven zögerte, ließ die Kanne wieder sinken, sprang blitzschnell zur Toilette und kam mit einer Klopapierrolle zurück. Er drehte Stöpsel, stopfte sie dem Mann in die Ohren und wickelte ihm anschließend die ganze Rolle um den Kopf.

Ohne Müller aus den Augen zu lassen, nahm er eine Kaffeetasse vom Küchentisch und schenkte sich ein. „Sie wollten ja keinen“, sagte er zu ihm, setzte sich wieder auf seinen Stuhl und nahm, genussvoll schlürfend, einen tiefen Schluck. „Und jetzt: Ihr Auftritt, Genosse Major.“

Müller schlug ein Bein über das andere, lehnte sich zurück und spreizte die Fingerkuppen beider Hände übereinander. Obwohl er noch immer bleich war, klang seine Stimme sachlich: „Also gut. Aber sie zwingen mich, Ihnen etwas zu erzählen, was Ihre Lebenserwartung unter Umständen drastisch verkürzen könnte. Sind Sie sich im Klaren darüber?“

Sven schwenkte die Kanne und achselzuckend fuhr Müller fort: „1955 führte die Sowjetunion ihre erste Antarktisexpedition durch. Das Ziel war der Mount Kirkpatrick, der höchste Berg im antarktischen Gebirge. Sie erreichten ihn nie. Ihnen fehlten nur noch wenige Kilometer, doch jedes Mal, wenn sie die letzte Etappe in Angriff nehmen wollten, kam ein heftiger Sturm auf und zwang sie zur Umkehr. Ihre Vorräte gingen zur Neige und sie mussten aufgeben. Nach der Rückkehr begann der Expeditionsarzt Vitali Loginow an einem Medikament zu forschen, dass die körperliche Leistungsfähigkeit, Widerstandsfähigkeit gegen Krankheit, Selbsregeneration und die emotionale Intelligenz verbessern sollte. Er kam erstaunlich gut voran und als er erste Erfolge erzielte, übernahm das Militär auf Befehl des Zentralkommitees die weitere Entwicklung. Loginow wehrte sich dagegen, aber man nahm ihm einfach die Leitung weg und öffnete mit Hilfe seiner Grundlagenforschungen die Büchse der Pandora. Statt des Medikaments entwickelten sie eine bio-chemische Massenvernichtungswaffe. Noch während ein erster Prototyp unter einem strategischen Bomber TU-95 in der Luft war, sabotierte Loginow die Sicherheitssysteme des Labors. Es kam zu einem Ausbruch, er selbst, die meisten Wissenschaftler und die Bewohner der angrenzenden Siedlung starben. Auch das Flugzeug stürzte durch ein technisches Versagen über der Ostsee ab. Die Waffe wurde nie gefunden. Die sowjetische Regierung stellte das Projekt ein, ließ alle Forschungsunterlagen beseitigen nebst den die überlebenden Wissenschaftlern und ihren Familien. Nur dem Laborleiter Boris Orstchov gelang die Flucht nach Norwegen. Er kam in Oslo in einem Werftkrankenhaus des Ängström-Konzerns unter und so viel wir wissen, arbeitet er dort immer noch.“

„Den Rest kann ich mir fast denken“, knurrte Sven.

Müller rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Er sah plötzlich sehr müde aus. „Als ich es erfuhr, waren die Männer schon im Wasser. Alles, was ich noch tun konnte, war die Aktion abbrechen lassen und Ihren Sohn hier unterbringen. Er ist nicht in der geschlossenen Abteilung, um zu verhindern, dass er hinauskommt, sondern um zu verhindern, dass jemand hineinkommt und den letzten Zeugen beseitigt. Offenbar ist genau das versucht worden. Man hat Gneidsen gestern einen Passierschein gestohlen, sich damit Zugang verschafft und offenbar war es nur unser Erscheinen, dass den Mord verhindert hat. Wir haben die Frau nicht gefasst, sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Aber sie hatte einen Komplizen, Holger Weinberg, einen Arzt. Er ist gestern Abend nach Oslo zu einem Kongress geflogen. In seiner Wohnung fanden wir Skizzen des Geländes, der Zugänge und der Station für Inneres, auf der Ihr Sohn liegt. Ich habe heute Morgen mit Moskau telefoniert. Man hat mir versichert, dass diese Aktion von niemandem aus der Lubjanka initiiert worden ist. Aber die Ärztin, um die ich gebeten habe, Ermakowa, hat gestern Abend ihren Reisepass als vermisst gemeldet und befindet sich immer noch in Moskau. Als Letztes: Kurz nach dem Fischsterben vor Warnemünde meldete ein norwegischer Frachter nicht weit davon entfernt einen Maschinenschaden. Für die Reparatur musste ein Ersatzteil aus Norwegen beschafft werden. Es kam am Morgen nach der verunglückten Mission an und der Frachter nahm sofort Kurs Richtung Heimat. Er war nur knapp eine Seemeile von der Bergungsstelle entfernt. Dreimal Norwegen beziehungsweise Oslo – nur ein Blinder würde die Spur nichts sehen.“

Sven stellte die Kanne, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, auf den Boden und zog an seinen Fingerknöcheln, bis es knackte. „Ich sehe eine Spur, die mich viel mehr interessiert. Wer hat den Einsatz befohlen? Wer außer Ihnen wusste davon?“

„Die Antwort wird Ihnen nicht gefallen.“

„Hatten Sie bis jetzt den Eindruck, dass mir irgendetwas von der Scheiße gefallen hat?“

„Der Name, den Sie wollen ist: Major Kerstin Wendt.“
Wie ein Zucken lief es über Svens Gesicht, ein kurzes Aufreißen der Augen, Fingerknöchel, die weiß wurden unter dem Druck geballter Fäuste, dann hatte Sven sich wieder unter Kontrolle, doch seine Stimme klang flach wie aus einem Lautsprecher: „Major ist sie schon ... das ging aber schnell ...“

„Gerade Sie sollten doch wohl ihre Talente kennen und die Frauengeschichten von Markus Wolf sind Legende. Deswegen lief Ihre Drohung mit ihm übrigens auch ins Leere bei mir. Er hätte Sie einfach verschwinden lassen.“

Ächzend drückte sich Müller aus dem Sessel und plötzlich war er wieder der Vorgesetzte, zwar müde, aber Herr der Situation. „Wenn ich Ihnen trotzdem alles erzählt habe, dann deswegen, weil ich Sie für die Norwegensache noch brauche. Sie sind beurlaubt bis auf Weiteres. In ein paar Monaten komme ich auf Sie zu. Ich will wissen, was der norwegische Geheimdienst hier wollte und wenn einer sich da auskennt, dann Sie. Würden Sie jetzt bitte den Mann befreien?“

Sven erhob sich ebenfalls und es wirkte erschöpft. „Nein. Weil Sie meinen Sohn zum Killer ausbilden lassen haben und weil Sie gestern Abend annehmen mussten, dass ein Anschlag auf ihn verübt worden ist, aber Sie haben weder einen Arzt gerufen noch mir etwas gesagt. Vorbei.“

„Ach wissen Sie“, lächelnd bückte sich Müller und löste selbst seinem Mann den Gürtel von den Handgelenken, „alles im Leben hat seinen Preis. Ich kann Ihren Sohn in einer Stunde in die Charite verlegen lassen, kann ihm die Mordanklage vom Hals schaffen, kann verhindern, dass Kerstin die Sache zu Ende bringt und kann Ihrem Sohn das Geschichtsstudium verschaffen, von dem Sie nicht einmal wissen, dass er es will.“ Er richtete sich wieder auf. „Wie ich schon sagte: Alles im Leben hat seinen Preis.“

„Sie sind ein Teufel.“

„Nein. Ich rücke Dinge zurecht. Also?“

Sven wendete Müller den Rücken zu, öffnete die Fäuste, schloss sie wieder, öffnete sie, dann sagte er: „In Ordnung.“

Erst jetzt drehte er sich um und in seinem Gesicht war nichts als eisige Kälte. „Ich will Kerstin.“

Müller wiegte den Kopf hin und her. „Sie wird Ihnen in ein paar Monaten den Auftrag überbringen und die Informationen, die ich bis dahin noch zusammenbekomme. Danach ...“

Er ließ das Wort in der Schwebe und bugsierte seinen benommen torkelnden Mann zur Tür. Dort setzte er fort: „Sie mögen in vielem recht haben, aber in einem irren Sie sich, was Ihren Sohn betrifft. Wir - auch Sie – haben ihn nur in die richtige Richtung gelenkt, dem eine Basis gegeben, was seit seiner Geburt in ihm ist; was ihn als Kind hat um sich schlagen lassen und Angst vor jeder Berührung haben. Wut, Enttäuschung, Rache, eine darauf gerichtete Ausbildung – all das kann Menschen zu Mördern machen, zu Totschlägern oder Befehlsempfängern. Aber ihnen allen fehlt das, was einen wirklichen Killer ausmacht – der Instinkt.“

Er legte die Hand auf die Türklinke. „Als Killer wird man geboren und keine Erziehung, keine liebevolle Großmutter, kein schicker Anzug und kein Sozialarbeiter kann das ändern – man bleibt es bis ans Ende eines meist ziemlich kurzen Lebens. Meine besten Genesungswünsche an Ihren Sohn.“

Wird fortgesetzt nach Weihnachten
Klappentext, Vorwort und Triggerwarnung
So, Bescherung ist vorbei. Ich liefere das nach, was an den Anfang gehört hätte. Allerdings hatte ich gar nicht vor, so weit zu schreiben. Da mein Postfach allerdings volläuft, tue ich es doch. Bitte nehmt das Folgende ernst, denn ich meine es auch so. Ich schreibe eine phantastische Liebesgeschichte, in der es tatsächlich um Liebe geht, in der es deftig zur (sexuellen) Sache gehen wird bis hinzu BDSM. Doch ich schreibe kein Eiapopei, ich blende nicht aus, wenn der Held aufs Klo geht und tue es auch nicht, wenn der Mörder an die Tür klopft. Weil das Leben so nicht ist ...
Bitte nehmt die Triggerwarnung ernst ...
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Klappentext

„Die Nornen knüpfen das Netz des Schicksals aus vielen Fäden. Die Menschen verstehen nur die wenigsten davon. Leben nennen sie das und sie meinen, dass es für ihre Seelen eine Reise ohne Wiederkehr sei. Das zu glauben ist menschlich. Irren ist es auch.“
Johanna


In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts scheitert eine norwegische Antarktisexpedition, springt im Hafen von Algier ein Matrose der DDR-Handelsmarine über Bord, stirbt ein Osloer Großreeder durch einen Schuss ins Herz und erwacht in einem Armeelazarett ein Kampfschwimmer durch das Eingreifen einer mysteriösen Frau aus dem Schlaf. Es dauert dreißig Jahre, bis er versteht, dass sie der Schlüssel zu all diesen Ereignissen ist und welche Rolle sie ihm zugedacht hat in einem Kampf, in dem es nicht nur für ihn um viel mehr geht als nur um Leben und Tod.



Vorwort und Triggerwarnung

Lieber Mensch,

es gibt da einiges, was ich dir sagen möchte, bevor du die Entscheidung fällst, dieses Buch zu lesen oder auch nicht. Es war der sechzehnte Juli 1945, als auf dem Gelände der White Sands Missile Range in der Nähe der Stadt Alamogordo in New Mexico unter dem Namen Trinity-Test der erste Atombombenversuch stattfand. Die Detonation war so stark, dass selbst Seismographen in der Antarktis die Schockwellen registrierten. Die Menschheit hatte den ultimativen Knüppel gefunden, mit dem sie sich selbst und jedes bekannte Leben auf der Erde vernichten konnte. Daran, dass es noch unbekanntes Leben geben könnte, dachte damals niemand. Warum auch? Wer eine solche Waffe konstruiert, denkt - wenn man das überhaupt Denken nennen kann - über den Tod nach, nicht über das Leben.

Unter der Antarktis liegt auch der Lake Wostok, ein riesiger, unterirdischer Hohlraum, der größte von mehr als 370 bisher bekannten subglazialen Seen unter dem Eisschild Antarktikas. Er und die Karte des Piri Reis aus dem Jahre fünfzehnhundertdreizehn existieren tatsächlich auf unserer Erde. Alles andere in diesem Buch, auch die Tatsache, dass dieses Buch auf einer anderen, nur denkbaren Erde spielt, ist das, was uns Menschen von Tieren und auch den intelligentesten Maschinen unterscheidet: Fantasie.

Ist es eine gute Geschichte? Ich glaube nicht. Eine gute Geschichte startet mit einer Actionszene, jeder weiß sofort, wo es langgeht und da ist kein Vertun: Die Welt steht am Abgrund zur Nichtexistenz; der zwar nicht sonderlich helle, dafür um so brutalere Schurke zeigt sich; der unzweifelhafte Held besiegt ihn und das Böse und trägt schwerverletzt mit allerletzter Kraft auf seinen blutverkrusteten, aber erstaunlicherweise immer noch starken Armen die langbeinige, knapp bekleidete Schöne ins Licht. Also in seine Zwanzig-Millionen-Hightechvilla oder noch besser gleich auf die eigene Paradiesinsel in der Südsee. Praktischerweise hüpft da auch schon bei vierzig Grad im Schatten ein Priester mit fleckenlos weißem Kollar von einem Bein aufs andere – nicht, weil er dringend aufs Klo muss, sondern weil er sich die ganze Geschichte lang so ungeheuer darauf gefreut hat, endlich diesen einen Satz loszuwerden: „Ihr dürft euch jetzt küssen.“

Klappe, die Welt ist gerettet, das Gute siegt immer, wenn wir ihm nur hinreichend von der Couch aus zujubeln und mit Kartoffelchips werfen, und möge der Teufel alle Zweifler und Aluhüte holen. Sie sind Schuld an der Atombombe, dem Klimawandel und den Plastiktüten.

Die Geschichte ist voll von solchen Helden. Alexander von Makedonien nennen wir den „Großen“, weil er große Mengen Menschen umbringen ließ; die großen Denker Marx und Lenin befeuerten den Kampf nicht existierender Klassen, in dessen Folge ein paar Millionen starben; das Jahrtausendgenie Albert Einstein legte die theoretischen Grundlagen für die Atombombe; Pol Pot rottete die Intelligenz in seinem Land aus (was ihn um die Möglichkeit brachte, selbst Atombomben bauen zu lassen); Greta Thunberg will mit tanzen und Schulschwänzen die Pflanzen und Tiere vor dem Klimatod retten (die jetzt noch existierenden Menschen, denen sie ihr eigenes Leben verdankt, interessieren sie offenbar nicht) und in diesem Buch beweist Sergej Rachmantikow, dass die Erde nur eine von Millionen parallelen anderen in einem oszillierenden Universum ist und macht mit dem Größenwahn der Einzigartigkeit menschlichen Lebens Schluss. Das Märchen von der Intelligenz der Menschheit wird allerdings auch er nicht widerlegen können. Leider ...

Mit aller Hartnäckigkeit hält sich die Legende, dass immer dann, wenn die Menschheit am Scheideweg ihrer Existenz steht, diese Übermenschen erscheinen, um ihren gebeutelten Schafen den Weg ins Licht einer strahlenden Zukunft zu weisen. Dabei stand die Menschheit immer am Scheideweg und es waren niemals Außerirdische oder Superhelden, die für unser aller Überleben sorgten, sondern Menschen, deren Heldentum darin bestand, sich ihre Menschlichkeit auch unter den widrigsten Umständen gegen die grassierende Massenverdummung um sich herum bewahrt zu haben.

Weil ihr Menschsein unabhängig davon war, ob sie als solche geboren wurden oder in welcher Gestalt. Weil Menschsein bedeutet, wissen zu wollen, statt zu glauben; anderen zuzuhören, statt sie zu verdammen; ihren Schmerz zu spüren wie den eigenen; zu lieben, zu fühlen und zu hoffen - weit über jede Vernunft hinaus. Weil Mensch zu sein heißt, sich aufzulehnen und ein Zweifler zu sein ein Leben lang.

Darum ist das hier keine gute Geschichte. Nicht, weil es hier keine nur strahlenden Helden gibt, keine nur finsteren Bösewichter. Auch nicht, weil in diesem Buch Frauen nur Frauen sind und Männer nur Männer und nichts dazwischen. Nein, in einer guten Geschichte von heute ist kein Platz mehr für Zweifel.

Solltest du dich also nicht stark genug glauben für Glück und Unglück, Liebe und Lust, Leben und Tod, abgrundtiefe Verzweiflung und das schmerzvolle Hoffen auf ein scheinbar gegen jede Logik doch vielleicht noch glückliches Ende – also für das rohe, nicht durch die Brille der korrekten politischen Haltung gefilterte Leben - dann solltest du dieses Buch ungelesen beiseitelegen, weil sein Inhalt dir psychische Schmerzen zufügen könnte.

Oder natürlich, du glaubst an die Worte von Johanna: „Das zu glauben ist menschlich. Irren ist es auch.“

Deine Entscheidung ...

Rainer
********lara Frau
5.948 Beiträge
Zitat von *******jan:
dass die Erde nur eine von Millionen parallelen anderen in einem oszillierenden Universum ist und macht mit dem Größenwahn der Einzigartigkeit menschlichen Lebens Schluss. Das Märchen von der Intelligenz der Menschheit wird allerdings auch er nicht widerlegen können. Leider ...

Ich warte voller Ungeduld auf die Fortsetzung. Der bisherige Text hat mich ausnahmslos gefesselt und in seinen Bann gezogen.
Fortsetzung

Mehr als zweihundert Jahre lang war der Name Ängström ein Begriff für Schiffe gewesen, die vor keinem Sturm auf den Weltmeeren die Segel streichen mussten. Bis zum Frühjahr 1947, als Magnus Ängström verhaftet, sein Besitz konfisziert und seine Familie aus Oslo vertrieben wurde. Einen Monat später verurteilte man ihn in einem Schnellverfahren wegen seiner Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern während des Weltkrieges zu lebenslanger Haft. Er überlebte im Gefängnis nur drei Monate.

Sein Sohn Bengt schwor Rache. Mit kaltem Herzen, eisernem Willen und einem Maximum an Skrupellosigkeit holte er sich fünfzehn Jahre später zurück, was der Familie genommen worden war. Doch er hatte seine eigene Vorstellung davon, wie viele Generationen Rache dauern sollte. Für ihn liefen noch viel zu viele frei herum, die er schuld am Tod seines Vaters glaubte und die nach seiner Meinung längst unter die Erde gehört hätten. Überall sah er Feinde, die ihm wieder alles entreißen wollten und in diesem Geist erzog er auch seinen Sohn Ruud. So hatte der zwar eine finanziell sorglose und beschützte Kindheit, glücklich hätte er sie jedoch nie genannt und sie wurde richtig finster, als seine Mutter an einer nicht rechtzeitig diagnostizierten Blinddarmentzündung starb.

Am Abend von Ruuds fünfzehnten Geburtstag stieß Bengt Ängström die Edelprostituierte Marit Raikkaanen in das Leben seines Sohnes. Er musste artig neben dem Portal des Haupteingangs stehen und den Gästen mit ein paar freundlichen Worten die Hand reichen. Dass er es nicht wollte, weil er wusste, dass deren Söhne und Töchter spätestens morgen in der Schule wieder über ihn herziehen würden, interessierte seinen Vater nicht.

Als die Schlange der Gratulanten sich lichtete, klopfte Bengt seinem Sohn auf die Schulter, Ruud wurde rot und sofort verpasste Bengt ihm wieder einen Dämpfer: „Also doch noch ein Mädchen. Wird Zeit, dass du erwachsen wirst. Ich will, dass du Biss bekommst; dass du der Mann wirst, der unsere Firma weiterbringt.“

Er hob seine Hand und aus dem letzten Auto vor der Tür stieg eine Frau in einem langen Abendkleid aus roter Seide. Sie war groß und schlank und ihre nackten Schultern schimmerten im Mondlicht wie Elfenbein. Mit zierlichen, aber schnellen Schritten, die ihr langes schwarzes Haar im Nachtwind wehen ließ, nahm sie die Freitreppe.

Oben angekommen, nickte sie Bengt nur zu und reichte Ruud ihre schmale, ringlose Hand. „Guten Abend, junger Mann. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“

Er stotterte: „Gu ..., guten Abend.“

Sie lachte und zeigte zwei Reihen perfekter, perlweißer Zähne. „Ein junger Mann stottert nicht, wenn er eine schöne Frau sieht und er wird auch nicht rot, wenn sie ihm die Hand gibt. Er sagt etwas Charmantes, egal was er über sie denkt oder von ihr will. Vor allem aber vergisst er nicht, sich zu bedanken. Kann ich meine Hand wieder zurückbekommen?“

Die Röte in seinem Gesicht vertiefte sich noch mehr, er ließ ihre Hand los und Bengt sagte: „Das ist Marit. Sie wird ab jetzt hier wohnen und sich um dich kümmern. In zwei Tagen fliege ich nach Korea, dort wird die größte Werft der Welt gebaut, mit meinem Geld. Ihr werdet dann alleine mit dem Personal sein.“

Er ließ Ruud ein paar Atemzüge Zeit, auf die falschen Gedanken zu kommen, und fügte dann hinzu: „Neben einigen anderen Talenten hat sie auch eine hervorragende Bildung. In der Schule lernst du nichts weiter als Zahlen, aber nicht, wofür du sie brauchst. Marit wird dir beibringen, wie du sie als Waffe verwendest. Wie du die Faust zeigst, lernst du später von mir; sie zeigt dir die andere Seite - wie du Leute einwickelst, ohne dir selbst dabei in die Karten schauen zu lassen, denn in deinem Gesicht kann man lesen wie in einem offenen Buch. Das wird sie abstellen und einiges anderes, was mir nicht gefällt. Wenn Sie mit dir fertig ist, wirst du ein Mann sein, der sich von niemandem mehr etwas wegnehmen lässt.“

Marit lachte Ruud an. „Er sagt immer so nette Sachen über andere Leute. Aber das kennst du ja.“

Sie schob ihren Arm unter seinen. „Wir haben viel zu tun, du und ich und wenig Zeit dafür. Wir fangen sofort damit an. Warum stellst du mir deine Gäste nicht vor?“

Es war keine Frage und weder ihr Gesichtsausdruck noch der Druck auf seinem Arm ließen Ruud auch nur den geringsten Zweifel daran.


Sie bezog die Suite im obersten Stock des Herrenhauses der Ängströms und verließ in den folgenden Jahren nur einmal alle drei Wochen alleine für zwei Tage das Grundstück, um ihre einjährige Tochter Marianna zu besuchen. Das hatte sie sich von Bengt ausbedungen.

Sie war stets gleichmäßig freundlich zu Ruud; trug nie etwas anderes als Hosen und hochgeschlossene Blusen und erlaubte nicht, dass er sie anders als mit „Sie“ ansprach. Bis zu dem Abend nach drei Monaten, an dem sie mitten in der Analyse der Fehler, die seinen Großvater ins Gefängnis gebracht hatten, sagte: „Du träumst.“

Mit einer Hand fasste sie nach seinem Kinn, drückte es hoch und zwang ihn, ihr in die Augen zu schauen. „Davon, mit mir zu schlafen?“

Er wurde knallrot und wollte den Kopf senken, doch sie ließ es nicht zu. „Wenn du anderen deine Träume offenbarst, eröffnest du ihnen die Möglichkeit, dich damit zu verletzen und mit dem Eingeständnis dessen, was du willst, gibst du demjenigen, der es dir geben kann, Macht über dich. Genug Theorie für heute.“

Sie ließ sein Kinn los. Er sammelte seine Notizen vom Tisch, warf mit halbgesenktem Kopf noch einen Blick auf sie, dann stand er auf und ging zur Tür. Als er seine Hand nach der Klinke ausstreckte, fragte sie: „Wo willst du hin?“

„Ich dachte ...“

„Das ist nicht wahr. Du denkst nicht. Du fühlst nur. So weit bist du noch nicht, dass du in einer solchen Situation vernünftig denken kannst oder dich gar nicht erst in eine solche bringst.“

Ein Feuerzeug blitzte in ihrer Hand auf. Sie zündete sich eine Zigarette an, blickte einen Moment auf die Glut an der Spitze, dann fragte sie: „Wie härtet man Stahl, junger Mann?“

Eine Falte erschien auf seiner Stirn. Es dauerte einen Moment, bis er antwortete. „Ich denke, man muss ihn heiß machen und dann wieder schnell abkühlen.“

„Du denkst schon wieder. Schließ die Tür ab und komm her.“

Ganz leise drückte er die Tür zu, drehte den Schlüssel von innen um und blieb dann vor dem Schreibtisch, hinter dem sie saß, stehen.

„Hierher, direkt vor mich.“ Sie spreizte im Sitzen ihre Beine. „Dazwischen und mach deine Hose auf.“

Mit zitternden Händen versuchte er, die Knöpfe in seinem Hosenschlitz zu finden. Sie sah ihm zu, sog erregt Zug um Zug aus ihrer Zigarette, legte sie, nur halb aufgeraucht in den Aschenbecher und fasste selbst zu. Ungeschickt versuchte er, ihr einen Kuss zu geben. Sie drehte den Kopf zur Seite und seine Lippen trafen nur ihre Wange.

„Übertreib nicht“, sagte sie, riss den letzten Knopf an seiner Hose auf und in ihren Augen war nichts anderes als die gleiche eisblaue Professionalität der letzten Monate. „Oder glaubst du wirklich, dass du der erste Ängström zwischen meinen Beinen bist?“

Vielleicht wartete er darauf, dass sie sagte, dass es ein Scherz gewesen sei; oder auf die Berührung ihrer Hand statt hart an seinem Glied zärtlich an seiner Wange; auf irgendetwas, dass die Wucht des Schlages milderte. Er wartete vergeblich. Sie stand auf, stieß ihn zu Boden und nahm ihn sich auf dem Teppich vor ihrem Schreibtisch. Nicht wie die erfahrene Frau, die einen Jungen seine erste Liebe erleben lässt; die Geliebte, die mehr gibt, als sie nimmt. Ohne jede Zärtlichkeit setzte sie sich einfach auf ihn, trieb sich voran, bis ihr Unterleib auf ihm konvulsivisch zu zucken begann und ihre Lustschreie die Scheiben in den alten Holzrahmen vibrieren ließen.

Dann stand sie auf, warf einen Blick auf sein Glied, verzog die Lippen und sagte kühl: „Ins Bett und auf den Rücken.“

Er lag kaum, da saß sie bereits wieder auf ihm und kurz darauf hallten wieder ihre Schreie durch das Zimmer.

Sie ließ sich von ihm herab rollen, zündete sich, auf dem Rücken liegend, wieder eine Zigarette an, nahm ein paar Züge, stand auf und ging ins Bad. Als sie zurückkehrte, lag er noch immer in ihrem Bett.
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Ich bin es gewohnt, alleine zu schlafen.“

Ruud presste die Zähne aufeinander, raffte wortlos seine auf dem Boden verstreuten Sachen zusammen und rannte hinaus. Marit klopfte sich die Kissen zurecht, schloss die Augen und war kurz darauf eingeschlafen.

Bengt Ängström hatte ihr Absolution für jedes Verbrechen erteilt, dass sie an seinem Sohn begehen würde, wenn sie aus ihm nur den Mann machte, den er brauchte. Selbst wenn es nicht so gewesen wäre - Richter und Staatsanwälte hatten nur Zutritt zum Herrenhaus der Ängströms, wenn Bengt sie zum Essen oder zu einer Party einlud. Dann hatten sie allerdings die Gesetzestafeln draußen zu lassen, am besten vor der Tür, gleich neben dem Fußabtreter. Dass hier ein Kind missbraucht worden war, würde keinen von ihnen interessieren, solange es nicht der eigenen Karriere diente und sich mit Bengt Ängström anzulegen, bewirkte in der Regel das genaue Gegenteil. Es hatte ja auch niemanden von ihnen interessiert, als er das Gleiche mit Marit Raikkaanen getan hatte.

wird fortgesetzt ...
Zweieinhalb Jahre härtete Marit so den Stahl in Ruud. Am Morgen seines achtzehnten Geburtstages verbarg er in ihrem Bett seine Gefühle hinter einem professionellen Lächeln und einem noch nicht ganz vollständigen Henri-Quattre-Bart.

Nackt, die langen schwarzen Haare zu einem Dutt aufgesteckt, jeder Zoll eine ungekrönte Königin, schritt sie aus dem Badezimmer, griff nach einem Strumpf und ließ ihn nachdenklich durch die Hände gleiten.
„Du siehst zufrieden aus. Kein bisschen Abschiedsschmerz?“

Sie zog das Nylon über das linke Bein, klickte einen Halter ein und sein Blick glitt langsam über ihren Körper, blieb an ihrem blaugeschlagenen linken Auge kleben und das Lächeln auf seinem Gesicht wankte dabei keinen Millimeter. Er hatte sie durchgeprügelt, als er sein Glied in ihren Körper gerammt hatte in der Nacht und beides hatte ihm so viel Spaß gemacht, dass er es am Morgen noch einmal wiederholt hatte.

„Den hast du ausgebrannt“, erwiderte er. „Ich erinnere mich nicht einmal mehr daran, dass ich dich geliebt habe. Aber dein Körper hat mir Spaß gemacht. Genau das wolltest du doch, oder?“
„Dein Vater.“

Sie zog den zweiten Strumpf an, streckte das Bein und prüfte penibel den Sitz des Nylons. „Für jedes Jahr, das ich mit dir ausgehalten habe, habe ich fünfhunderttausend Kronen kassiert. Die meisten meiner Kunden waren weniger spendabel. Dafür hatte ich mit ihnen auch weniger Spaß. Wenigstens bis heute Nacht.“

Er lachte. „Jeder Taler hat immer zwei Seiten. Hast du mir beigebracht. Aber bis dein Schiff in New York anlegt, bist du wieder die strahlende Schönheit und kannst dir den Nächsten zum Ausnehmen suchen.“

Sie streifte Kleid und Mantel über. „Dann ist ja alles gesagt.“

Elastisch sprang er aus dem Bett und öffnete ihr, ganz Gentleman, zuvorkommend die Tür. „Bon voyage, meine nicht mehr Liebe.“

Ohne ihn eines Blicks zu würdigen, schritt sie an ihm vorbei. Ein paar Minuten später sahen Vater und Sohn vom Portal der Eingangshalle zu, wie sie in den Wagen stieg, der sie zu ihrem Schiff bringen sollte. Der Fahrer wartete, bis sie im Auto Platz genommen hatte, dann schloss er die Tür hinter ihr und warf einen kurzen Blick zu den beiden Männern.

Ruud fragte: „Warum fährt sie nicht Albert?“

Bengt erwiderte: „Hat sich heute morgen krank gemeldet.“

Fast unmerklich nickte er dem Mann zu und erst jetzt stieg der Fahrer ein. Das Auto fuhr an, umkurvte das Rondell mit dem Springbrunnen vor dem Haus und bog in die öffentliche Straße ein. Als es unter dem Blätterdach der Bäume verschwand, fragte Bengt: „Sie weiß ein bisschen zu viel über dich und mich. Hast du ein Problem damit?“

„Natürlich nicht.“

Ruud setzte eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern auf. „Was wird jetzt eigentlich aus ihrer Tochter, so ganz ohne irgendeinen Menschen, der ihr nahe steht? Sie müsste bald vier sein, und wenn sie nach ihrer schönen Mutter kommt ... Das arme Ding, so ganz allein in einer bösen Männerwelt ... oder war es eine Welt mit bösen Männern? Wir sollten uns um ihre Erziehung kümmern.“

Schrecklich falsch irgendeine Melodie pfeifend, spazierte er ins Haus zurück und machte sich mit bestem Appetit über das Frühstück her.


In den folgenden Jahren gab Bengt alles, was er sich über Wirtschaft, Geld und Macht beigebracht hatte, an Ruud weiter: Dass es für jede Aufgabe das richtige Werkzeug gab; dass Prostitution nichts mit Sex, sondern mit sich verkaufen zu tun hat, die wirklichen Huren nicht am Straßenrand standen, sondern in Redaktionsstuben von Zeitungen und in Regierungssälen herumlungerten und Männer waren; wie man sie bei den Eiern packte und wie man verhinderte, dass sie mit einem das gleiche machten. Alles packte er vor seinem Sohn aus, jedes schmutzige Geheimnis und jeden miesen Trick. Nur über ein Thema wurde niemals mehr im Hause Ängström gesprochen: Marit Raikkaanen.

Viel Zeit blieb dem alten Ängström nicht mehr. Ein paar Jahre später wollte er sich während einer dröhnenden Party seines Sohnes ein paar Minuten im Park erholen. Niemand hörte den Schuss, der ihn aus nächster Nähe ins Herz traf.

Es wurde der erste große Fall von Ryland Mikkelsen und Olaf Wielander, zwei Beamten der Osloer Kriminalpolizei. Schnell wurde der Alleinerbe Ruud Ängström ihr Hauptverdächtiger, doch der konnte mehr als zwanzig Zeugen aufbieten, die ihn zur Tatzeit betrunken in den Armen einer Wasserstoffblondine gesehen haben wollten und so intensiv die beiden Kriminalisten scheinbar auch jeden befragten, keiner fiel um oder verwickelte sich in Widersprüche. Die Tatwaffe wurde nie gefunden, andere Spuren gab es nicht, aber viel Druck von oben, den Fall so oder so abzuschließen und so legten Mikkelsen und Wielander den Mord nach einem halben Jahr ungeklärt zu den Akten.

Ruud erbte von seinem Vater nicht nur die Hochseeflotte und die Werften, sondern auch dessen politische Beziehungen und diejenigen, die nach dem Tod des alten Bengt auch seinem übermächtigen Druck entkommen zu sein glaubten, belehrte er schnell eines Besseren. Er war im Big Business angekommen.
Mikkelsen und Wielander kündigten ihren Dienst bei der Polizei und gründeten ein Sicherheitsunternehmen. Als diesem bereits nach ein paar Monaten der Konkurs drohte, schluckte es die Ängström Corporation und die beiden ehemaligen Kriminalisten kümmerten sich ab da nur noch um die persönliche Sicherheit von Ruud Ängström.



Ein paar Tage, nachdem Müller Christian Oldenburg aus Bad Saarow nach Berlin in die Charitee verlegen lassen hatte, wedelte Ängström ein paar Kilometer nördlich von Oslo imaginäre Staubfussel von der Sitzfläche des Sessels, den Thore Wejndahl ihm angeboten hatte und sagte mit einem dünnen Lächeln: „Sie sollten Ihrer Haushälterin kündigen. Wenn sie möchten, kann ich Ihnen gerne eine neue empfehlen.“

Deutlich sichtbar begannen die Adern an Thores Hals zu pulsieren. Er war ein Hüne mit breiten Schultern, einem grauen Vollbart und weit auseinanderstehenden, braunen Augen, die so dunkel waren, dass sie schon fast schwarz wirkten. Wie jetzt auch kniff er sie, wenn er im ewigen Eis unterwegs war, meistens halb zusammen, um sie vor der Lichtreflexion auf dem gleißenden Schnee zu schützen. Da es in seinem Kaminzimmer eher selten schneite, konnte es auch gut an seinen Besuchern liegen. Natürlich kannte er den Industriemagnaten Ruud Ängström, wenn auch nur aus den Medien und Johannes Hakonsen hatte sich einen Namen gemacht mit seinen Veröffentlichungen über die tektonischen Plattenbewegungen unter der Antarktis. Beide waren in einem schneeweißen Bentley vorgefahren und hatten sich vom ersten Schritt an in Thores kleinem Haus benommen, als gehörte es ihnen.

Thores Bass füllte den Raum: „Sie sind von der Arbeitsvermittlung?“

Ängström Lächeln wurde breiter. „Sagen wir - ich stelle Kontakte her. Sie sind in den letzten Jahren ein bisschen ...“ Er schlug ein Bein über das andere, zog den Stoff der mitternachtsblauen Anzughose aus Cashmere über dem Knie ein Stück hoch und sprach dann weiter: „... unter die Räder gekommen. Nicht jedem liegt das Leben in einer so großen Stadt. Es ist eine Wolfshöhle für Raubtiere auf zwei Beinen und Sie werden hier untergehen, wenn Sie nicht bald wieder in Ihre Gefilde zurückkehren. Ihr Revier ist die große unberührte Weite, dort sind Sie zu Hause, dort kennen Sie sich aus. Das ist es, was Ihnen fehlt und natürlich keine Haushälterin. Ich bezahle das Ticket dorthin für Sie.“

„Ein Arbeitsvermittler von der Heilsarmee“, sagte Thore.

Die schmalen Lippen Ängströms zitterten einen Moment, doch seine Stimme verlor nichts von ihrer Freundlichkeit. „Sehen Sie, die Antarktis ist eine der letzten Herausforderungen der Menschheit, ein wildes, ein weites Land. Wer es einmal gesehen hat, den lässt es nie mehr los, sagt man. Sie wissen, wovon ich spreche. Doch sie gibt sich nicht so einfach geschlagen. Millionen Tonnen Edelmetalle und Milliarden Barrel Rohöl warten nur darauf, von mutigen Leuten wie Sie entdeckt und für die Zukunft der Menschheit nutzbar gemacht zu werden. Dazu braucht es neben einer gewissen Skrupellosigkeit gegenüber Politikern, falschen Weltrettern und was es noch alles von dem Gesocks gibt, vor allem Geld, und zwar jede Menge; motivierte und gute Leute; ausreichend Zeit für ihr Training; mindestens ein Schiff; eine perfekte Logistik und eine exakte Planung für jede Etappe. Das alles habe ich oder kann es organisieren, aber ich weiß auch, dass es zum Schluss immer nur auf einen Mann ankommt – den, der die Expedition ans Ziel und vor allem wieder zurückbringt. Den Mann, der diese Investitionen erst lohnenswert macht, jemanden wie Sie. Fünfhunderttausend Dollar ist mir das wert. Immerhin kennen Sie den Weg und sind ihn schon für weniger gegangen. Für viel weniger. Und was hat es ihnen eingebracht?“

„Offenbar den Besuch eines Arbeitsvermittler von der Heilsarmee, der sich gerne reden hört.“

Das Lächeln auf Ängströms Gesicht trocknete aus. „Vorsichtig, ja? Ihr Ruhm wischt keinen Dreck ab, Wejndahl. Wenn man nur genug Mist draufpackt, bleibt er auch kleben. Wie den von ihrer letzten Expedition zum Beispiel.“

„Sie marschieren gerade in ein Minenfeld.“ Thore beugte sich vor, nicht weit, aber weit genug, die Drohung mit seinem massigen Körper zu unterstreichen.

Ängström hob seine Hand und auch sein Lächeln kehrte zurück. „Mein lieber Freund, ich weiß, dass Sie nicht schuld waren an dem Desaster. Ich weiß es und alle anderen auch. Olsbue hat mit viel Geld Ihren Ruf unter einem Haufen Lügen begraben und wir drei hier wissen, warum er das gemacht hat, oder? Ich kann das regeln, ist nicht so schwierig, wie Sie vielleicht denken. Als Erfolgsprämie.“

Thore lehnte sich wieder zurück. „Den Mann können Sie nicht kaufen.“

„Man kann jeden zum Schweigen bringen. Auch Marten Olsbue. Auf die eine oder die andere Art. Unter der Voraussetzung, dass Sie eine Expedition zum Mount Kirkpatrick führen und sie auch wieder zurückbringen. Können Sie das?“ Ängström legte eine Luftbildaufnahme auf den Tisch.

„Vermutlich schon.“

„So fangen alle Katastrophen an. Mit einer Vermutung. Sie haben sich das Bild noch nicht einmal angesehen.“

„Und Sie mir nicht gesagt, was Sie da wollen.“

Ängström warf Hakonsen einen kurzen Blick. Sein Aussehen erinnerte an einen Windhund – lang und dünn, eine hohe, ein wenig nach hinten geneigte Stirn und eine zu große Nase, die sie fast in einer Linie verlängerte. Schon während Ängström gesprochen hatte, war der Blick aus seinen wässrigblauen Augen ständig hin- und hergehuscht und seine Hände und Füße keine Sekunde bewegungslos gewesen. Jetzt legte ein mit einer hastigen Bewegung ein silberweißes, unregelmäßig geformtes Stück Metall neben das Foto. Es war nicht größer als eine Zigarettenschachtel.

„Elementares Titan, Rohstoff der Zukunft. Überall auf der Erde sucht man danach, ohne es in abbauwürdiger Größenordnung zu finden.“ Er sprach schnell, als hätte er Angst, dass jemand ihm ins Wort fiel. „Das sucht man. So etwas existiert nur in der Theorie. Wir sind einem solchen Vorkommen auf der Spur. Diese Probe hat mein Vater vor zwanzig Jahren von einer Expedition mitgebracht. Seiner Expedition.“

„Er hatte auch ein paar Leichensäcke dabeigehabt, als er zurückkam“, dröhnte Thore.

„Sie kannten ihn?“

„Ich kenne die Antarktis.“

Mit einem leisen Knall zersprang eines der Holzscheite im Kamin. Eine rote Flamme züngelte aus den Bruchstücken empor und der Metallklumpen aus der Kältehölle warf Lichtreflexe an die Wand, genau auf einen Stahlstich über dem Kamin. Ein alter Dampfsegler kämpfte sich darauf durch eine bleigraue, hoch wogende See. Das Schiff war angeschlagen und es sah so aus, als würde es seine letzte Reise sein.

Mit schlanken Fingern trommelte Ängström auf die Tischplatte. „Sehr gesprächig sind Sie nicht.“

„Schlechte Angewohnheit. Wo Sie mich hinschicken wollen, herrschen um die minus vierzig Grad. Wenn es warm ist. Bei jedem Wort saugt die Kälte das aus, was einen da draußen am Leben erhält: Energie und Wärme.“

„Wir sind in Oslo.“

„Ist manchmal auch eine Frage der Gesellschaft.“

„Sie sind sehr direkt.“

„Sagte die Titanic zum Eisberg.“

Eine steile Falte erschien zwischen den Augenbrauen des Reeders und Thore stieß ein polterndes Lachen aus. „Dumm aber auch, dass mir die Kälte nicht die grauen Zellen eingefroren hat, was? Ich will Ihnen mal was sagen, Mister Ängström. Der Antarktissperrvertrag verbietet jede kommerzielle Suche und den Abbau von Bodenschätzen. Selbst wenn es ihn nicht gäbe, kann keiner tausende Tonnen Technik für ihre Titanmine durch das Transantarktische Gebirge transportieren und das gewonnene Erz wieder zurück; Ihre Bergbaumaschinen funktionieren bei Minus sechzig Grad nicht, weil jedes Schmiermittel zu Eisklumpen wird und es gibt auch kein Wasser am Mount Kirkpatrick, das Sie für Ihre Mine Ihre Arbeiter brauchen. Da, wo sie hinwollen, ist es trockener als in der Atacama. Verdammt, da ist wahrscheinlich noch nie eine Schneeflocke vom Himmel gefallen!“

Thore lehnte sich vor und seine Stimme wurde dunkel und rau. „Haben Sie schon mal etwas von katabatischen Stürmen gehört? Es gibt sie nur da, im Gebirge. Niemand sieht sie kommen, nichts kündigt sie an. Fallwinde, mehr als dreihundert Kilometer pro Stunde schnell; unaufhaltsam und sie vernichten alles, was ihnen im Weg ist und es ist wurscht, ob Sie sich auf freier Fläche hinlegen oder in einem Felsspalt verstecken. Sie werden angesaugt und als Fleischklumpen wieder ausgespuckt. Ihre Expeditionszelte und Bergbaumaschinen sind für so ein Monster nicht mehr als was für den hohlen Zahn. Keiner kann da arbeiten, Mister. Sie lügen mir die Hucke voll. Sie sind ein paar Millionen schwer und unterhalten sich persönlich mit so nem abgehalfterten Expeditionsleiter wie mir anstatt dass Sie mir einen von Ihren Lakaien auf den Hals hetzen. Warum?“

„Vielleicht, weil ich mich selbst davon überzeugen wollte, dass Sie genau der Richtige sind für das, was wir wollen?“

„Dann rücken sie gefälligst raus damit!“

Ängström zupfte wieder mit spitzen Fingern einen imaginären Staubfussel von seiner Hose. Scheinbar hatte Thores Tirade ihn eher amüsiert als erbost. Er griff nach dem Titanklumpen und drehte ihn im Licht vor seinen Augen. „Er stammt tatsächlich von da. Vielleicht ein Nebenprodukt. Wer weiß?“

Nach einem kurzen Blick auf Hakonsen und dessen fast unmerklichem Nicken sagte er: „Ich hätte es mir denken können. Also die Wahrheit. Sie werden verzeihen, dass ich dazu ein wenig ausholen muss. Die Energieversorgung der Erde hängt am Öl; Atomspaltung ist dreckig und hat deswegen einen schlechten Ruf; alle anderen Energiequellen reichen weder für die jetzige Mobilität und schon gar nicht für die in zwanzig Jahren. Elektroflugzeuge wird es niemals geben; Hunderttausendtonnenschiffe mit Solarzellen erst recht nicht und Panzer, ohne die keine moderne Armee auskommt, sehen hässlich aus mit einem Windrad auf dem Geschützturm. Also werden in spätestens dreißig Jahren die Lichter ausgehen und zwar endgültig. Wenn nicht schon viel früher, weil der jetzt noch verdeckte Kampf ums Öl dann offen ausgetragen werden wird. Um das vorauszusehen, muss man kein Prophet sein, nur ein funktionierendes Gehirn haben und darf sich das natürlich nicht von Zeitungen und Politikern verkleistern lassen. Alternativen sind nicht in Sicht und die Beherrschung der Kernfusion braucht mindestens noch hundert Jahre. Also werden wir sie nie haben, weil wir in spätestens fünfzig Jahren schon wieder in der Steinzeit leben. Entweder, weil uns ein zweiter Weltkrieg um das letzte Öl dahin gebracht hat - was sehr wahrscheinlich ist - oder wir keine Energie mehr haben und die Erde ein Müllhaufen ist. Deshalb wird jeder, der eine zündende Idee in dieser Richtung hat, erst in Gold aufgewogen und dann umgebracht oder gleich weggeschlossen. Es sei denn, er bleibt unter dem Radar wie Johannes Hakonsen hier neben mir. Er hört es nicht gerne, aber er ist ein Genie und einem Phänomen unter der Antarktis auf der Spur, das alle diese Probleme lösen könnte. Er sagt, dass sich dort Energien verstecken, die, wenn wir sie beherrschen lernen, einen Sprung ins nächste technologische Jahrhundert ermöglichen könnten und ich glaube ihm. Vier Jahre habe ich unter absoluter Geheimhaltung in seine Forschungsarbeit investiert und ich will nicht, dass andere die Lorbeeren ernten, die ich bezahlt habe. Deshalb werden wir auch keine schwere Transporttechnik einsetzen, die man orten kann, sondern den Weg ab dem Basislager zu Fuß machen.“

Er stand auf. Lässig legte er sich seinen Mantel über die Schulter und warf seine Visitenkarte auf den Tisch. „Ich verstehe, dass Sie Bedenkzeit brauchen. Die Expedition wird kein Zuckerschlecken. Erst recht nicht, weil alle Vorbereitungen unter Ausschluss nicht nur der Öffentlichkeit, sondern aller Leute stattfinden müssen. Aber lassen Sie mich nicht zu lange warten, auf meiner Liste stehen noch andere, nicht viel schlechter, als Sie es einmal waren und ich habe nur ein Ticket zu vergeben. Und bevor ich es vergesse – sollten Sie ablehnen, hat dieses Gespräch natürlich nie stattgefunden. Reden Sie nicht darüber. Ich würde es erfahren und es würde mich nicht zu einem freundlichen Menschen machen. Auf die eine oder die andere Art. Guten Tag, Herr Wejndahl.“

Betont langsam zog er seine Handschuhe an. Thore rührte sich nicht. Tief in Gedanken versunken blickte er auf das Bild mit dem kämpfenden Schiff. Ängström zuckte die Schultern, eilte hinaus und auch Johannes Hakonsen erhob sich. „Sie sollten sein Angebot wirklich annehmen. Ein Besseres wird er nicht machen.“

Auch von ihm nahm Thore keine Notiz und kopfschüttelnd eilte der Geologe Ängström hinterher.



Thore zündete sich eine Pfeife an und sah auf das Foto, das Ängström liegengelassen hatte. Oben links in der Ecke waren Koordinaten und Höhenangaben in weißer Schrift aufgedruckt. Das Sattelitenfoto zeigte ein kleines Plateau am Mount Kirkpatrick in dreitausendfünfhundert Meter Höhe, weit über dem kilometerhohen Eispanzer, der den Rest der Antarktis in seinem Würgegriff hielt. Aber hier gab es keinen Schnee, die Luftfeuchte lag bei null Prozent, und es war mörderisch kalt.

Um dahin zu gelangen, musste man vom Ross Schelf zu Fuß durch das Transantarktische Gebirge marschieren; die letzten vielleicht einhundert Kilometer vom Basislager aus mit fünfzig Kilogramm Gepäck auf dem Rücken für jeden und am Ziel war nichts weiter als minus sechzig Grad kalter, nackter Stein; so hart, dass man nicht einmal ein Grab schaufeln konnte. Es war der innere Kreis der Hölle, zu dem schon der Weg eine Selbstmordpiste war. Niemand, der sich auch nur ein wenig in der Antarktis auskannte, würde sich das zutrauen. Niemand außer Thore Wejndahl.

Er ließ den Hinterkopf gegen die Rückenlehne des Sessels sinken. Mit geschlossenen Augen rauchte er, bis jeder Tabakkrümel verbrannt war. Sorgfältig klopfte er den Pfeifenkopf am Kamin aus, reinigte die Pfeife und verpackte sie wieder in ihrem Beutel. Dann suchte er in seinem abgegriffenen Notizbuch nach der Privatnummer von Marten Olsbue und langte nach dem Telefon.

Fünfmal klingelte es, bevor abgehoben wurde. „Es gibt nicht viele, die diese Nummer kennen.“
„Was wissen Sie über Ruud Ängström?“

Lange blieb es still in der Leitung und Thore hörte das Atmen am anderen Ende, heftig und schnell. Schließlich erwiderte der Medienzar: „Ich nehme an, Sie haben sich gut überlegt, ob Sie mich fragen oder nicht. Wir sind dann quitt. Sie wissen, was das für Sie heißt.“

Natürlich wusste Thore das. Olsbue würde die Samthandschuhe ausziehen. Aber er wusste auch, dass Olsbue alt geworden war über der Trauer um seinen Sohn und längst nicht mehr der Mann, der in der Antarktis auf Augenhöhe mit Thore und dem kalten Tod gewesen war.

Thore sagte: „Ja.“

„Also gut.“

Ein hartes Geräusch erklang, als wäre der Hörer auf eine Tischplatte gelegt worden, ein Schlüssel wurde in ein Schloss gesteckt, dann das Geräusch einer Schublade in einem Aktenschrank aus Stahl, die geöffnet wurde; kurz darauf heftiges Atmen und der Laut, der entsteht, wenn Seiten durch Finger rauschen, schließlich wieder die Stimme von Marten Olsbue: „Also passen Sie auf. Der Drecksack wollte auch meine Zeitung haben, deswegen habe ich ihn im Auge. Krankhaft ehrgeizig, pathologischer Frauenhasser, skrupellos und wenn er die Hand zwischen ihre Beine bekommt, können Sie davon ausgehen, dass er auch drückt, bis Blut kommt. Interessiert sich nicht für Partys, nichtmal für Geld, ist nur Mittel zum Zweck für ihn. Hat gute Leute, teilweise noch von seinem Vater, die sich um das Management kümmern, das macht ihm die Hände frei, da aufzutauchen, wo es brennt. Mit Papierkram und Verwaltung gibt er sich nicht ab. Hat in den letzten Jahren auf fremdem Terrain gewildert; Metallurgie, Medien, Medizin und Forschung. Beste Kontakte zum Militär, wahrscheinlich auch zum Geheimdienst, politischer Einfluss sowieso. Man munkelt, dass eines seiner Labore komplett vom Militär finanziert wird und dass sie da irgendwelche Schweinereien ausbrüten. Ebenso, wie man munkelt, dass er nicht ganz unbeteiligt am Tod seines Vaters war. Jedenfalls arbeiten die beiden Bullen, die den Mord untersucht haben, jetzt für ihn und das sind zwei ziemliche Höllenhunde. Mikkelsen bevorzugt Körperverletzung, Wielander hört seine Opfer gerne schreien, sagt man.“

„Der Mann sah aus, als wäre er noch nicht einmal dreißig...“

„Das macht ihn so schwierig. Er kennt keine Vorsicht, auch wenn er ziemlich weit vorausplant. Vor ein paar Jahren hat er sich mit Johannes Hakonsen zusammengetan, Geologe, leider wirklich gut in seinem Fach, Narzisst vom Feinsten, Geltungsbedürfnis vom Größten. In der Akademie haben sie sich vor zehn Jahren totgelacht, als er erklärt hat, unter der Antarktis gäbe es riesige Hohlräume. Das Lachen ist ihnen im Hals steckengeblieben, als die Russen unter ihrer Station Wostok eine Höhle lokalisiert haben, die über tausend Kilometer lang und mehr als vier Kilometer tief ist. Seit dem kriegt er die Nase gar nicht mehr aus den Wolken.“

„Deswegen ...“, murmelte Thore.

Offenbar hatte Olsbue gute Ohren. „Sie fragen doch nicht ohne Grund. Hat er Ihnen ein unmoralisches Angebot gemacht?“

„Kann man so sagen.“

„Also Antarktis, wenn er zu Ihnen gekommen ist?“

Thore schwieg und Olsbue brummte: „Lehnen Sie es ab.“

„Warum?“

„Ich drück es mal so aus: Wenn man zwei Uranteile, die für sich nicht allzu gefährlich sind, aufeinanderschiesst, gibt es eine Atomexplosion und danach ist nichts mehr, wie es mal war. Auf den beiden Teilen stehen Namen: Hakonsen und Ängström.“

„Was hat das mit mir zu tun?“

„Sie teilen nicht. Ängström nicht seine Macht und Hakonsen nicht seinen Ruhm. Wenn sie für die in der Antarktis die Drecksarbeit machen sollen, werden Sie der Dumme sein anschließend. Das wäre aber nur die Variante, in der es noch gut ausgeht für Sie. Die andere ... ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine.“

Thore schwieg und auch Olsbue atmete nur am Hörer. Schließlich sagte Thore: „Es tut mir leid, Marten.“

Olsbue knurrte: „Kommt ziemlich spät.“

Dann, nach ein paar weiteren Sekunden Schweigen: „Ach, zum Teufel. Ich bin ein alter Mann, einen Sohn hab ich noch, der führt eigentlich schon die Firma. Ich lass Sie erstmal in Ruhe. `S gibt nicht mehr so viele Dinosaurier wie uns, oder? Wir müssten eigentlich unter Artenschutz stehen. Wie ich Sie kenne, werden Sie doch machen, was Ängström will. Bis sie wiederkommen, kann ich mir immer noch überlegen, ob ich Ihnen den Hals umdrehe oder nicht.“

Ohne eine Antwort Thores abzuwarten, legte er auf und Thore blickte wieder auf den Stahlstich an der Wand. Noch immer brach eine Welle nach der anderen über das Schiff herein und noch immer wollte es nicht aufgeben. Vielleicht war es sogar in Oslo ausgelaufen, irgendwann, vor langer Zeit. Doch jetzt starb es, Planke für Planke, und es würde nie wieder nach Hause zurückkehren.


Kaum saß er im Fond des Bentley, fuhr der Wagen an. Schnell und geschickt fädelte der Fahrer ihn in den Freitagnachmittagsverkehr ein.

„Das ist nicht so gelaufen, wie wir es wollten“, sagte Hakonsen.

Ängström sah aus dem Fenster. „Es war perfekt.“

„Aber er hat abgelehnt.“

Der Reeder drehte sich zu Hakonsen und warf ihm eine weiße Aktenmappe auf den Schoß. „Du solltest dich ab und zu auch darum kümmern, was andere Menschen wollen. Wejndahl hat eine Rechnung offen mit der Antarktis und Männer wie er hassen so etwas. Ich gebe ihm die Chance, sie zu begleichen und die wird er nicht ausschlagen. Er ziert sich nur ein bisschen. Er hatte vier paar Schuhe im Flur stehen. Auf den Millimeter ausgerichtet und peinlichst sauber. Jeden Freitag verlässt er exakt um siebzehn Uhr sein Haus und kehrt, obwohl betrunken, immer gegen zweiundzwanzig Uhr zurück, plus minus eine Viertelstunde. Am Letzten jedes Monats befinden sich nie weniger als fünftausend Kronen auf seinem Konto, mit denen er, wenn er kein Geld überwiesen bekommt, einen weiteren Monat überleben könnte. Die Liste seiner Zwänge ist noch viel länger und er hält sich eisern an sie, weil ein Verstoß von ihm gegen seine eigenen Regeln auf seiner letzten Reise zwei Leute das Leben gekostet hat. Marten Olsbue stürzte in eine Eisspalte und Wejndahl hat sich von dessen Sohn gegen jede Logik überreden lassen, einen Rettungsversuch zu unternehmen. Wejndahl selbst kam knapp mit dem Leben davon und konnte Olsbue retten, aber der Sohn und ein Helfer starben dabei und dass hat Olsbue Wejndahl nie verziehen. Aber er steht in Wejndahls Schuld, schließlich hat der ihm das Leben gerettet. Also hat Olsbue nur einen Haufen Leute bezahlt, Wejndahls Ruf durch die Kloake zu ziehen, statt ihn umbringen zu lassen. Gut für uns, denn sollte Wejndahl unwahrscheinlicherweise zurückkehren, wird ihm niemand auch nur ein Wort glauben. Wie gesagt - es ist perfekt.“

„Ich mag ihn nicht.“

„Ah, das passt schon. Aber unterschätz ihn nicht. Auch wenn du ein Jahr mit deiner Frau in der Arktis trainiert hast und ihr die fittesten Wissenschaftler seid, die ich kenne - er ist ein Fuchs und hat sein ganzes Leben in der Kälte verbracht. Würde mich nicht wundern, wenn er von selbst darauf käme, dass du das Tor finden willst. Also pass auf, was du tust. Auch bei der Auswahl der Leute für Deine Expedition. Wir müssen sie ausschreiben, sonst bekomme ich keine Geld von der Regierung dafür. Mikkelsen und Wielander werden zwar jeden unter die Lupe nehmen, der sich meldet, aber trotzdem kann etwas schief gehen. Ich habe andere Probleme, um die ich mich kümmern muss. Orstchov sagt, dass die Blutprobe, die Johanna aus Ostdeutschland mitgebracht hat, ihm nicht weiterhilft.“

Pikiert erwiderte Hakonsen: „Also war das Risiko, dem ihr sie ausgesetzt habt, umsonst. Das habe ich doch gleich gesagt!“

Trotz der Sorgenfalten brachte Ängström ein Grinsen zustande. „Dein Schätzchen hat mehr Zutrauen zu ihren Fähigkeiten als du. Aber wir kommen mit dem Perverdrin nicht weiter. Wir haben Millionen kassiert und irgendwann müssen wir liefen, sonst drehen sie uns den Hahn ab. Ganz zu schweigen davon, dass ich meine eigenen Pläne damit hab.“

Hakonsen zuckte die Schultern und griff nach dem weißen Aktenordner, den ihm Ängström hingeworfen hatte. Dessen Probleme mit der Weiterentwicklung von X-44 interessierten ihn nicht. Er hatte seine Expedition, die ihm Weltruhm einbringen würde und das Ängström das Ziel geheim hielt, würde sich spätestens in dem Moment erledigt haben, in dem er, Johannes Hakonsen, durch das Tor schritt.

Ängström knurrte: „Dass ich dann deine Expedition auch nicht mehr finanzieren kann, ist dir hoffentlich klar!“
**********henke Mann
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Johanna ist Marits Tochter?
Nein.
Der erste Kreis schließt sich
Nirgendwo war es einfacher, andere ungestört zu beobachten und selbst nicht aufzufallen, als in einer möglichst großen Ansammlung von Menschen. Wenn du unerkannt bleiben willst, wenn du in Gefahr bist oder dich unsichtbar machen musst - geh da hin, wo viele Menschen auf engstem Raum sind. Selbst eine Tätlichkeit, sogar ein Mord war hier möglich, weil in der entstehenden Verwirrung niemand mehr wusste, wer ihn begangen hatte und der Täter sofort in der Masse untertauchen konnte. Dass zu wissen, war ein Bestandteil der Ausbildung von Sven. Müller wäre wahrscheinlich begeistert gewesen von dem um diese Nachmittagszeit hoch frequentierten Kaffee am Spreeufer gegenüber dem Berliner Dom und der Museumsinsel, das Sven für sein Treffen mit Major Kerstin Wendt gewählt hatte.

Sonntagsspaziergänger und Tagesbesucher drängelten sich auf den Fußgängerwegen der Liebknechtbrücke gegenüber, viele davon aus Westberlin. Die Fotoapparate schussbereit, zielten sie, als seien es Zielfernrohre von Waffen auf alles, was ein brauchbares Motiv für die Kinder und Enkel abgeben konnte. Sie wimmelten durcheinander wie Ameisen und niemand von ihnen dachte bei dem strahlenden Sonnenschein an eine Gefahr.

Die Nachmittagssonne brannte Sven direkt ins Gesicht. Er drehte den gelben Korbstuhl ein wenig mehr zur Seite und musterte unauffällig durch die dunklen Gläser seiner Brille die Gäste an den anderen Tischen. Niemand schien von ihm mehr als nötig Notiz zu nehmen und das er mit seinen breiten Schultern, der grauen Kurzhaarfrisur und seinem wie gemeißelt wirkenden Gesicht des Öfteren vor allem von Frauen mit Blicken gestreift wurde, war er gewohnt.

Auf schlanken, wunderbar braunen Beinen und mit schwingenden Hüften schlängelte sich die junge Bedienung zwischen den Tischen zu ihm hindurch, er bestellte einen Kaffee mit extra Zucker und lächelte ihr mit um eine Winzigkeit nach oben gezogenen Mundwinkeln zu. Sie hatte wirklich schöne Beine.
High Heels trippelten in seinem Rücken, das Geräusch näherte sich, ein Hauch von Kamille wehte ihm in die Nase, zwei Arme schlangen sich von hinten um seinen Hals und weiche Lippen flüsterten an seinem Ohr: „Du schaust also anderen Frauen auf den Hintern. Hast du meinen so schnell vergessen?“

Er zog ein wenig den Kopf ein. „Die Beine, meine Liebe; die Beine. Und warum nicht? Sie sind doch schön.“

Flüchtig küsste sie ihn auf die Wange und warf dabei einen verstohlenen Blick an seinem Kopf vorbei in die Runde, dann nahm sie ihm gegenüber Platz, öffnete ihren hellen Sommermantel und zupfte das Sommerkleid mit den karmesinroten Kamelien darunter über ihren schmalen Knien zurecht. Rabenschwarze Locken umrahmten ihr Gesicht und Major Kerstin Wendt wirkte trotz ihrer neununddreißig Jahre noch immer wie ein Mädchen, wog nur knappe fünfzig Kilogramm und war so feingliedrig wie eine Meißner Porzellanpuppe. Doch dort, wo ihre Haare aus der Kopfhaut wuchsen, zeigte sich Grau, und um ihren Mund wanden sich winzige Fältchen, gegen die auch Schminke machtlos war.

„Wie war deine Fahrt?“ Ein wenig Angespanntheit schwang in ihrer Stimme. Vielleicht war es die Nachmittagshitze.

Er erwiderte: „Wie immer. Von Schwerin nach Berlin ist ja nun keine Weltreise. Am Sonntag ist die Autobahn leer. Bei diesen Temperaturen erobern die Berliner die Ostsee, nicht andersherum.“

„Die, die es sich leisten können und ein Auto haben.“ Sie bestellte einen Schoppen Erlauer Stierblut.

„Schwerer Rotwein bei der Hitze? Kopfschmerzen kennst du wohl nicht, oder?“

„Es gibt wenig, was mir Kopfschmerzen macht. Rotwein gehört nicht dazu.“

Mit verkniffenen Lippen sah sie an ihm vorbei und auch er schwieg, bis die Kellnerin mit den schönen Beinen den Rotwein brachte.

Für eine Sekunde blendete ihn eine Sonnenspiegelung. Es konnte eine Autoscheibe gewesen sein oder ein Fenster, das geöffnet wurde. Er drehte ein wenig seinen Kopf, nicht so weit, dass er direkt in die Richtung blickte, hob dann entspannt die Kaffeetasse zum Mund und fixierte aus den Augenwinkeln den vielleicht zwanzig Meter entfernt stehenden Mann mit dem Tirolerhut. Er lehnte am Geländer, das das Spreeufer und den Anlegesteg von dem Bereich des Kaffees trennte und fotografierte mit einer Kamera mit einem auffallend großen Objektiv zur Museumsinsel hinüber. Vielleicht war es nur ein Tourist oder ein Fotograf, der hier nach Motiven für eine Postkartenserie suchte. Möglich, dass er sich gedreht hatte und die Linse des Teleobjektivs die Sonnenstrahlen in dem Sekundenbruchteil gespiegelt hatte, als sie auf Sven gerichtet gewesen war.

Er senkte die Stimme: „Hast du dich absichern lassen?“

„Dir entgeht auch nichts.“

„Nein, mir entgeht nichts. Ich sehe alles, außer dem, was hinter deiner Engelslarve vorgeht.“

Sie zog einen Schmollmund und es verlieh ihr den unschuldigen Charme eines kleinen Mädchens. „Du bist mir immer noch böse. Ich hatte dir gesagt, es ist nicht für die Ewigkeit.“

„Vielleicht hättest du sagen sollen: Es ist für die Katz.“

Ein Ausflugsdampfer tutete auf der Spree und legte an. Die Menschen gingen von Bord und winkten. Sie hatten den Sonntag und den Blick auf die Sehenswürdigkeiten der Museumsinsel genossen; strömten jetzt den Steg hinauf und stauten sich an dem schmalen Durchgang vor dem Kaffee.

Sie räusperte sich. „Aber du siehst Gespenster. Wenn, dann sind es nicht meine Leute. Du hast den Treffpunkt so kurzfristig geändert, dass ich nichts mehr hätte organisieren können. Nicht mal, wenn ich es gewollt hätte. Was macht dein Sohn?“

„Interessiert dich das wirklich?“

„Nein. Ich wollte es dir nur leichter machen. Aber wenn du nicht willst ... Hier sind deine Informationen.“ Sie legte ein zusammengefaltetes „Neues Deutschland“ auf den Tisch.

„Ich sage es dir trotzdem.“

Er ignorierte die Zeitung, nahm die Sonnenbrille ab und schaute ihr ins Gesicht. „Er ist zu Hause, hat sich für ein Fernstudium beworben, weil er ein bisschen schlecht zu Fuß ist seit ein paar Monaten und für den Rest seines Lebens eine Krücke brauchen wird. Es geht ihm gut, manchmal lacht er sogar, was er früher nie getan hat. Doch manchmal wünschte ich mir, er würde es lassen, weil es klingt wie das Echo aus einer Hölle, die nur er kennt.“

Flüchtig berührte sie ihn am Arm. „Es tut mir leid, wirklich.“

Sven setzte seine Brille wieder auf. „Ich danke dir. Ich werde es ihm ausrichten. Was hast du für mich?“

„Bist du noch kältefest?“

„Soweit ich mich erinnere, habe ich in einem anderen Leben, als ich noch Geologe war, meinen Fuß schon einmal auf den Nordpol gesetzt, zusammen mit der Besatzung eines sowjetischen Atom-U-Bootes. Außerdem habe ich dich überlebt. Kältefester geht ja wohl nicht.“

Indigniert verzog sie das Gesicht. Ihr Panzer aus kühler Überlegenheit bekam Risse. „Würdest du bitte dienstlich bleiben. Es ist deine Haut, die auf dem Spiel steht.“

Er nickte nur und scannte hinter seiner Sonnenbrille versteckt mit seinen Blicken weiter die Umgebung. Der Mann mit dem Tirolerhut wendete ihnen den Rücken zu und schien sich nicht mehr für sie zu interessieren.

Sie fuhr fort: „Du gehst nach Westberlin. Von da aus fliegst du nach Frankfurt und dann nach Reykjavik. Dort triffst du Joachim Detjen, einen westdeutschen Geologen. Er sieht dir gar nicht mal so unähnlich. Er hat eine Einladung zu einer norwegischen Antarktisexpedition bekommen. Alles, was wir dazu wissen, ist in deinen Unterlagen. Der Gute träumt von einer eigenen Rinderzucht in Argentinien. Wir verschaffen sie ihm.“

Unauffällig tippte sie auf die Zeitung. „Leiter ist Johannes Hakonsen, extrem ehrgeizig, verheiratet, seine Frau Johanna ist als Expeditionsärztin ebenfalls mit dabei. Sie arbeitet für „Ängström Medicline & Pharmaceuticals“ als Humangenetikerin. Nach unseren Informationen die gleiche Firma, in der auch ein Boris Orstchov arbeitet. Müller meint, der Name würde dir etwas sagen.“

Fragend blickte sie ihn an, er nickte und sie fuhr fort: „Wir haben deshalb Grund zu der Annahme, dass beides miteinander zu tun hat, denn einen Teil der Expeditionsfinanzierung stammt von Ängström selbst. Selbst wenn nicht, wollen wir, dass du nach der Rückkehr da bleibst und dir die Labore der Firma etwas genauer ansiehst. Auch hier meinte Müller, du könntest dir denken, warum. Also sei ein netter Junge und schleim dich bei den Hakonsens ein. Zu seinem Kernteam gehöhrt auch ein Spezialist für hochenergetische Strahlung und einer für Ultra- und Infraschall. Das ist alles, der Rest steht in dem Dossier.“

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Das ist alles ziemlich riskant und ich weiß nicht, warum gerade du dich darauf einlässt, wo dein Sohn dich doch braucht.“

Sie zuckte die schmalen Schultern, nahm die Sonnenbrille ab und schaute ihn an. „Ich bin nicht so kalt, wie du denkst und eigentlich weißt du das auch noch. Oder war ich so schlecht, dass du es vergessen hast?“

„Ich vergesse nie etwas.“

„Siehst du.“ Sie lächelte und es sah fast glücklich aus. „Deswegen sage ich dir noch etwas und das habe ich herausgefunden, Müller hat das nicht interessiert. Weil ich nicht will, dass du in etwas hineinläufst. Hakonsen hat nur zwei Wissenschaftler akzeptiert, die nicht zu seinem Kernteam gehören. Einen Engländer und Joachim Detjen. Sie kennen sich nicht, aber alle beide haben eines gemeinsam: Sie haben keine Familie, niemand, der darauf wartet, dass sie zurückkommen.“

„Und das hat nichts damit zu tun, dass du etwas wissen willst, was nur Müller und ich wissen?“

Er griff nach der Zeitung, rollte sie nachlässig zusammen und stopfte sie in die Innentasche seiner alten Lederjacke.

Leise lachend beugte sie sich näher zu ihm. „Vielleicht. Wäre das wirklich so schlimm? Du kommst frühestens in ein oder zwei Jahren wieder. So lange, in der Kälte, ohne Frau, ein Mann wie du ... Wie wäre es mit einem Abschiedsgeschenk? Ich für dich und du für mich?"

Lange schaute er sie an und sie wich seinem Blick nicht aus. Gerade legte wieder ein Schiff der Weißen Flotte an, die Ein- und Aussteigenden drängelten sich auf dem Weg vor dem Kaffee und plötzlich lächelte Sven. „Warum eigentlich nicht. Deiner Logik und deinem Körper hatte ich noch nie etwas entgegenzusetzen. Dann lass uns gehen. Wie lange haben wir Zeit?“

„So lange wir Spaß haben, mein Lieber“, gurrte sie und nahm seinen Arm. „Es weiß niemand, dass ich hier bin. Aber du denkst an meine Belohnung, ja?“

„Natürlich.“

Er warf einen Geldschein auf den Tisch und drängelte sich mit ihr in die Menschenmenge, die jetzt ins Stocken geriet, weil die Türen an der Anlegestelle geschlossen wurden und immer noch Leute dastanden, die denen, die ausgestiegen waren, den Weg blockierten. Eingekeilt in der Menge mussten sie warten, bis sie wieder in Bewegung geriet.

Sven stand ganz dicht vor ihr und sagte: „Nimmst du bitte deine Brille ab?“

Sie schmiegte sich an ihn. „Du willst mich doch nicht etwa küssen? Hier, vor allen Leuten.“

„Ich möchte deine Augen sehen.“

„Das sollst du, mein Lieber“, hauchte sie, nahm die Brille ab und öffnet leicht ihre Lippen, als erwartete sie seinen Kuss.

Sven musste sich nicht einmal anstrengen. Er musste nur das Tor zu dem dunklen, kalten Verlies öffnen, in dem die rasende Wut, die ihn am Krankenbett seines Sohnes gepackt hatte, darauf lauerte, dass er sie endlich herausließ. Sie und seine Ausbildung waren es, die ...

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Nachbemerkung: Hier fehlen noch drei Zeilen, die ich in Anbetracht des Namens "Joy"-Club hier nicht schreiben möchte. Damit ist der erste Kreis geschlossen. Diejenige, die mit einem simplen Befehl drei Männer in den sicheren Tod geschickt hat, hat ihre gerechte Strafe erhalten. Svens Reise führt in die Antarktis und was er da erlebt, wird vieles von dem sprengen, was ihr bisher gelesen habt. War der Roman bis hierhin eher ruhig, so erwartet Euch im nächsten Teil ein Actionfeuerwerk ...
....

„Das Unwetter tobt mit ungebrochener Kraft weiter und das Schneegestöber, in das sich jetzt auch Hagel mischt, ist dichter denn je. All die Eigenschaften, die ich bei einem Mann am höchsten schätze, treten bei dieser Gelegenheit klar zutage.“
Roald Amundsen (auf dem Weg zum Südpol)



Gary Winston war ein Antarktisneuling. Eine Chance, Erfahrungen zu sammeln, bekam er nicht mehr, er starb noch unter dem Eis des Ross-Schelfs. Nur ein paar Kilometer vom Schiff entfernt rutschte der Engländer zwischen zwei Eisblöcke. Eine plötzliche Welle darunter ließ sie zusammenprallen und das Sicherungsseil zerfetzen, das ihn mit Sörensen verband. Winston wurde zerquetscht und das Eis und die Fluten des hier fast schwarzen Südpolarmeeres erstickte seine Schreie.

Der menschliche Körper hat einen biologischen Tag- und Nachtrhythmus und der ist vierundzwanzig Stunden lang. Der der Antarktis beträgt sechs Monate und auch, wenn sie ihre Expedition auf die Zeit des antarktischen Sommers gelegt hatten, bedeutete die nie untergehende und sich vierundzwanzig Stunden am Tag knapp über den Horizont quälende Sonne ein zusätzliches Handicap für jeden von ihnen. Ein viertel Jahr am Rand der Antarktis in einer voll ausgerüsteten und klimatisierten Station hatte Thore gefordert, damit die Expeditionsmitglieder sich akklimatisieren konnten und für das Training. Bekommen hatte er einen Monat und Zelte, in denen es zwar an Brennstoff und damit an Wärme nicht mangelte, aber wer eine warme Dusche wollte, musste zum Schiff zurück auf dem Weg, auf dem Winston gestorben war.

Bergander und Wennigsen, Geologen wie Hakonsen, erwischte es nach fast achthundert Kilometern an einem Pass im transantarktischen Gebirge, nur einen Tag, bevor die Expedition den geplanten Standort des Basislagers erreichte. Ein Schneebrett geriet ins Rutschen, als sie unter ihm entlang marschierten, riss sie in die Tiefe und zusammen mit ihnen verschwand das einzige Funkgerät auf Nimmerwiedersehen im Abgrund. Damit waren drei der Wissenschaftler, die seit Jahren mit Hakonsen auf diese Expedition hingearbeitet hatten, tot und sein Forschungsteam bestand jetzt nur noch aus ihm selbst, seiner Frau Johanna, Björn Haggard und dem Deutschen Joachim Detjen. Eine Kommunikation mit dem Schiff war nicht mehr möglich, nicht einmal einen Notruf hätten sie noch absetzen Können und die Expedition war gescheitert.
Trotzdem wollte Hakonsen nicht aufgeben und selbst als Thore drohte, im Notfall alleine zurückzugehen und die Expedition ihrem Schicksal zu überlassen, gab Hakonsen nicht nach und so musste Thore sich zähneknirschend fügen.

Achtundvierzig Stunden später errichteten sie zehn Kilometer vor der Grenze, an der die Schnee- und Eislandschaft in die Trockenlandschaft überging, ihr Basislager. Drei Tage erholten sie sich noch einmal, dann ließen sie die Hunde zurück und fünf Träger und nahmen die letzten fünfzig Kilometer in Angriff. In dem schnee- und eisfreien Trockengebiet, das ihr Ziel war, nutzten ihnen die Schlittenhunde nichts mehr und jedes Kilogramm Hundefutter, dass sie hätten mitschleppen müssen, hätte die Last, die jeder hätte mitführen müssen, nur sinnlos erhöht.

Für Thore grenzte es fast an ein Wunder, dass sie sechs Tage später ohne weitere Verluste das Plateau unterhalb des Gipfels des Mount Kirkpatrick, das Ängström Thore auf dem Satellitenfoto gezeigt hatte, erreichten. Links und rechts des Plateaus reckten sich Felswände unersteigbar senkrecht in die Höhe, hinter ihnen lagen die zerklüfteten Grate, durch die sie sich einen Weg bis zu ihrem Ziel erkämpft hatten und knapp drei Kilometer Luftlinie entfernt ragte die nackte Spitze des Mount Kirkpatrick vor ihnen wie eine stumme Drohung in den Himmel. Das Plateau selbst war eben wie ein Fußballfeld, besaß die Form eines unregelmäßigen Siebenecks und maß ungefähr fünfhundert Meter im Durchmesser. Nichts gab es auf der freien Fläche außer dem von Bruchrissen und Versatzkanten durchzogenen Felsboden, nicht einmal Geröll oder Steine lagen herum. Leergefegt war wohl der treffende Ausdruck dafür.

Unbarmherzig hatte Thore sie die letzten Kilometer angetrieben und zu Tode erschöpft, ließ jeder seine Last fallen und setzte sich darauf, um endlich Atem zu schöpfen. Fünfzehn Männer und eine Frau waren sie noch, ausgelaugt und die meisten am Ende ihrer Kräfte. Einige hatten leichte Erfrierungen an den Gliedern und im Gesicht und jedem machte die strenge Wasserrationierung zu schaffen. Die Tatsache, dass sie vorher gewusst hatten, auf was sie sich einließen, mochte ihre Schmerzen nicht weniger schlimm machen. Thore war genau so müde wie sie. Niemanden hatte er nach den Unfällen mehr aus den Augen gelassen, war an jeder kritischen Stelle der Erste gewesen und hatte sie erst verlassen, wenn alle sie überwunden hatten; nur um dann wieder nach vorne zu marschieren und sich abermals an die Spitze zu setzen. Als Erster war er morgens aufgestanden und hatte sich abends erst in seinen Schlafsack verkrochen, wenn er sich sicher gewesen war, dass am nächsten Morgen keine bösen Überraschungen auf sie warteten. Alle hatte er zu eiserner Disziplin gezwungen und jedem, der sich nicht fügte, Feuer unter dem Hintern gemacht. Seine Erfahrung und sein kräftiger Körper hatten ihn durchhalten lassen, aber mit seinem Nervenkostüm sah es anders aus, denn Hakonsen hatte seine Geduld bis aufs Äußerste strapaziert. Immer wieder hatte der opponiert und keine Gelegenheit ausgelassen, Thores Führung in Frage zu stellen. Jetzt fühlte Thore sich wie ein Pulverfass, dem nur noch ein winziger Funke fehlte, um es zur Explosion zu bringen.

„Keine Pause, auch wenn wir alle eine brauchen“, befahl er. „Wir müssen in Bewegung bleiben, sonst kommen wir nicht mehr hoch. Noch eine Stunde und wir sind so müde, dass uns keine zehn Pferde mehr zum Aufstehen bringen. Wir bauen auf, zuerst das Forschungszelt. Wer dabei nicht gebraucht wird, kümmert sich um die Ausrüstung. Dann hat Johanna da Sprechstunde und sieht sich Eure Wehwehchen an und ich will keine Helden. Sie wir die Liste abarbeiten und wer fehlt, den hole ich persönlich. Danach besprechen wir, wie es weitergeht. Wasser, Brennstoffvorrat, Verpflegung und Gesundheitszustand von jedem, in dieser Reihenfolge, dann der Plan für morgen. Erst danach bauen wir die eigenen Zelte auf. Los jetzt!“

Die Stimmung wurde schlagartig besser, sogar Scherze flogen hin und her und es sah so aus, als verdrängte die Aussicht, ein paar Wochen lang nicht mehr marschieren zu müssen und sich regelmäßig wärmen zu können, die überstandenen Strapazen des Marsches. Thore wusste, dass der Schein trügte und dass es nichts weiter als nur eine kurzzeitige Euphorie war, die, je länger er ihr Anhalten zuließ, einen um so größeren Kräfteverfall zur Folge haben würde. Er fasste selbst mit zu, das große Zelt mit der Ausrüstung der Wissenschaftler aufzubauen und musste sich gleich ärgern, dass auch er nicht daran gedacht hatte, dass sie auf einer blanken Felsplatte kampieren würden. Sie mussten eine Weile suchen, bis sie einen Platz mit genügend Rissen fanden, in denen die Anker Halt hatten.

Als es geschafft war, gingen alle an ihre nächsten Aufgaben, nur Gunnar Sörensen neben Thore stehen. Der Hundeschlittenführer hatte sich nicht abhalten lassen, auch noch die letzte Etappe mit in Angriff zu nehmen, obwohl er hätte im Basislager bleiben können. Er war ein wortkarger Mann und wenn er einmal den Mund auftat, dann nur, um zu sagen: „Ach das bisschen. Das schaffen wir schon.“

Diesmal hatte er mehr zu sagen. „Will dich nicht kritisieren. Aber nicht besser in der Klamm da hinten?“ Er wies mit dem Arm in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Thore schnaufte. „Bullshit!“

Er drehte sich weg, doch Sörensen hielt ihn fest. „Hast du den letzten Sturm vergessen?“

Mit einem Ruck machte Thore sich frei. „Fängst du jetzt auch an, an mir rum zu meckern?“

„Ich meine nur ...“

„... dass mir das Hirn eingefroren ist oder was? Auf der freien Fläche hier nimmt der Sturm Fahrt auf, klar, aber zwischen den Felsen verdoppelt er seine Geschwindigkeit, dann kommen Steine von oben und du kannst dir aussuchen, ob du gegen die Wand geknallt oder von oben erschlagen werden willst. Noch was oder war es das?!“

„Ist ja schon gut. Wollte dir doch nicht auf die Zehen treten. Mann, Mann ...“ Sörensen stiefelte kopfschüttelnd davon.

Thore ließ die anderen alleine weitermachen und holte sich seinen Feldstecher. Einen Grund dafür hatte er nicht, aber etwas kribbelte in seinem Nacken und er kannte sich lange genug, um zu wissen, dass etwas die Aufmerksamkeit seines Unterbewusstseins geweckt hatte. Er richtete das Glas auf die Abhänge, schätzte ihre Neigungswinkel, suchte nach potentiellen Gefahrenquellen, dann schwenkte er weiter nach oben auf den Bereich knapp unter dem Berggipfel, in dem sich Licht und Schatten gerade berührten. Die Luft dort oben flimmerte wie die Augusthitze über schwarzem Asphalt und das gefiel ihm überhaupt nicht. Es gab weder Asphalt da oben noch Sommerhitze, sondern nur tödliche Kälte. Bereits hier, auf knapp dreitausendfünfhundert Meter Höhe biss die dünne, eisige Luft wie mit winzigen Glassplittern in die Lungen und machte jeden Atemzug zu einer Qual. Jeder, der sie über einen längeren Zeitraum ohne Schutz einatmete, konnte sich ganz fix eine Lungenblutung einfangen. Eintausend Meter höher, auf dem Gipfel bei viertausendfünfhundert Metern Höhe würde es ihnen vorkommen, als atmeten sie flüssiges Helium. Aber trotz dieser mörderischen Kälte existierten offenbar immer noch Temperaturunterschiede und dafür konnte es nur einen Grund geben: Die nicht ganz so kalte Luft über den tieferen Regionen, die dem Sonnenlicht ausgesetzt waren, floß um den Berg herum, stieg an seinen schattigen Flanken nach oben und die eisige Luft vom Gipfel sank herab. Die Luftschichten trafen aufeinander und verwirbelten. Diese Luftschlieren sah Thore durch sein Glas und er ahnte, was dabei herauskommen konnte.

„Das fehlt uns jetzt noch“, sagte er laut.

Joachim Detjen steckte seinen Kopf aus dem Forschungszelt. „Was?“

Thore wusste nicht viel über den Deutschen. Zehn Tage vor dem Auslaufen war er zum Team dazugestoßen und hatte sich während der Überfahrt auf dem Schiff ziemlich rar gemacht. Er war nicht viel kleiner als Thore, aber genau so breit und besaß eine Bärenkonstitution. Ständig waren seine Augen in Bewegung und nie ruhte sein Blick lange auf einem festen Punkt, es sei denn, es war das Gesicht eines seiner seltenen Gesprächspartner. Nie hatte er während des Marsches über die Strapazen gestöhnt und wo eine helfende Hand gebraucht worden war, war er meistens nicht weit gewesen; seine Kraftreserven schienen unerschöpflich. Vor allem aber hatte er sich von Hakonsen nicht herumschubsen lassen und war ihm aus dem Wege gegangen, wo er nur konnte. Etwas, dass Thore gewundert hatte, denn Detjen gehörte zum wissenschaftlichen Team, dessen Chef Hakonsen war.

Thore reichte ihm den Feldstecher. „Sieh selbst.“

Eine Weile blickte Detjen durch das Glas, dann sagte er: „Jetzt verstehe ich auch den Seismographen. Ist ja interessant. Vor ein paar Minuten war da noch alles ruhig. Hab da nämlich auch gesucht. Gefällt mir nicht. Ich schau besser nach, dass nichts zu Bruch gehen kann von unserer Ausrüstung. Wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller, wenn das ein Sturm wird. Hakonsen, fasst du mit zu?“

Seit Minuten starrte der wissenschaftliche Leiter durch seinen Feldstecher auf die Bergspitze und hatte das nur ab und zu unterbrochen, um hin und her zu hüpfen, damit er nicht vollständig auskühlte. Auf die Frage von Detjen reagierte er nicht einmal.

„Hatte ich mir schon gedacht“, murmelte Detjen, gab Thore das Fernglas zurück und verschwand im Zelt.
Thore atmete tief ein, verfluchte die eisige Luft, die ihm dabei in die Lungen biss und brüllte: „Aufhören! Alles festmachen. Was nicht aufgebaut ist, wieder einpacken und verschnüren. Wir warten erst ab, was sich da oben zusammenbraut.“

Sein Ruf bewirkte das Gegenteil. Die Männer hielten inne, bei dem, was sie taten und starrten ebenfalls zum Berg. Thore wollte sie gerade zusammenstauchen, da hob ein Säuseln wie von einem weit entfernt vorbeifahrenden Zug an und aus dem unsteten Flimmern an seiner Spitze formte sich eine Windhose. Anfangs noch gerade so zu erkennen, gewann sie an Kraft und Größe und nach wenigen Minuten hatte sich auf halber Höhe zwischen ihnen und dem Berggipfel das gebildet, was fünfzehntausend Kilometer weiter nördlich die Keimzelle eines tödlichen tropischen Wirbelsturms gewesen wäre: ein Tornado. Den Fuß wie einen Saugnapf am Boden, entwickelte sich darüber ein schmaler Schlauch, der sich nach oben zu einem riesigen Trichter erweiterte und irgendwo weit über der Bergspitze im wolkenlosen Himmel verschwand. Mit jeder Drehung wurde der Schlauch dicker, verlor er mehr von seiner Durchsichtigkeit und wuchs mit atemberaubendem Tempo immer höher in den Himmel. Der Tornado saugte Dreck auf und er färbte die Strahlen der kraftlos hindurchscheinenden Sonne wie dunkelrotes Blut. Aus dem entfernten Säuseln wurde ein tiefes Orgeln und Thore brüllte: „Beeilung.“

Es ging ihm durch Mark und Bein, sogar die Zähne schmerzten und trotzdem riss er noch einmal den Mund auf: „Alles festmachen und dann seht zu, dass ihr in Deckung geht.“

Die tosende Luft riss ihm die Worte vom Mund, aber offenbar hatten sie von alleine begriffen, was da auf sie zukommen konnte und packten endlich an; stopften ihre Ausrüstung wieder in die Rucksäcke und rissen die halb aufgebauten Zelte nieder oder machten sie ganz fest.

Nur Sörensen stand wie erstarrt. Er schaute zum Berg und dann in Richtung der Felsen am Rand des Plateaus. Eine gute halbe Meile war es bis dahin. Er rannte los. Mit Panthersätzen hetzte Thore ihm hinterher, riss ihn zu Boden und brüllte ihm ins Ohr: „Willst du draufgehen?“

Sörensen wehrte sich nicht und es war besser so, Thore hätte ihn niedergeschlagen. Noch rotierte die Windhose nur um sich selbst, pechschwarz mittlerweile und so riesig, dass sie ein Viertel des Himmels verdeckte. Wenn sie sich losriss und der Zufall es wollte, dass in ihre Richtung kam, hatten sie nur hier auf der freien Fläche eine Chance. Einmal hatte er erlebt, was ein katabatischer Sturm anrichten konnte, der in freiem Gelände Platz gehabt hatte, Energie aufzubauen und dann in ein Felslabyrinth gerast war. Zusammengequetscht wie Pulverdampf durch einen Gewehrlauf war die Luft durch jeden Spalt im Gestein geschossen und hatte alles niedergerissen, was ihr im Weg gewesen war.

Ein fast linearer Blitz krachte aus der Bergspitze in die Windhose und als wäre es ein Signal gewesen, wurde das Dröhnen so gewaltig, dass Thore die Knochen im Leib vibrierten. Der Tornado riss sich vom Berg los und raste so gerade, als sei er auf Schienen unterwegs, mit wahnsinniger Geschwindigkeit geradewegs auf das Lager zu. Erst jetzt rollte der Donner heran und wie die Welle eines Tsunamis über ihn hinweg. Die Felsplatte unter ihm bebte von der Wucht der Schallwellen und Thore ließ sich neben Sörensen fallen.

Die Windhose raste heran, lauter als ein startender Jumbojet und die Luft, die sie mitbrachte, war wie eine Faust so hart und tödlich kalt. Sie zerrte Thore vom Boden hoch, ließ ihn wieder herunterkrachen, wirbelte Ausrüstungsgegenstände in die Höhe; riss Zelte aus ihren Verankerungen und fegte die Männer, die sich nicht so schnell wie er hingeworfen hatten, von den Füßen. Doch so rasend schnell, wie sie über das Lager hereingebrochen war, verschwand sie auch wieder und heulte weiter in die Täler hinter ihnen hinab.

Thore lag auf dem Boden, die fürchterliche Kälte der Steine unter ihm biss sich durch seinen Parka, aber er war noch am Leben, ja, nicht einmal verletzt war er und er konnte es nicht begreifen. Gerade wollte er sich vom Boden hochdrücken, als der begann, unter seinen Fingern zu vibrieren, Sekunden später zitterte der ganze Untergrund wie Wackelpudding und ein ungeheueres Poltern setzte ein, ein Donnern, als stürzte der ganze Berg ein und Thore begriff, auch wenn er nichts sah in dem Staub, den der Tornado hinterlassen hatte. Eine Gerölllawine ging ab und seine Ohren sagten ihm, dass sie wie bereits die Windhose zuvor auch die Richtung zum Lager nahm. Mit brennenden Augen starrte er dahin, wo er den Berg vermutete, überlegte, wohin er rennen sollte, hob einen Fuß, setzte ihn wieder ab, weil es plötzlich von allen Seiten auf ihn zuzurasen schien und er wusste, dass das, was da auf ihn zukam, schneller war als jeder Expresszug. Dann schoß die Dreckwolke heran, Vorbote eines jeden Erdrutsches und der mit ihm einhergehenden Vernichtung, und nahm ihm die letzte Sicht. Es war Thores Stolz, der ihm verbot, sich hinzuwerfen, aber es war sein Unterbewusstsein, das ihn die Augen schließen und den Kopf mit den Armen schützen ließ.

Doch wieder ging der Tod an ihm vorbei. Das Grollen wurde weniger, erst kaum wahrnehmbar, dann immer deutlicher; wurde zu einem Poltern, aus dem das Rollen einzelner Brocken zu hören war und dann stoppte das Verderben irgendwo vor ihm. Ein paar der kleineren Steine rollten noch ein Stück, zumindest hörte es sich so an; etwas krachte gegen seinen Fuß, dann trat wieder Ruhe ein. Minuten vergingen, bis sich der aufgewirbelte Staub legte; Minuten, in denen er nicht wagte, sich zu bewegen, weil ihn noch immer die Todesangst in ihren Krallen hielt.

Schließlich öffnete er die Augen. Das, was ihn am Fuß getroffen hatte, war ein kopfgroßer Stein gewesen und dessen Genossen lagen zwischen ihm und dem Berg. Je weiter weg, umso mehr und größer waren sie, und wo eben noch eine sanfte Steigung den Anfang ihrer Route zum Gipfel gebildet hatte, hatte sich ein riesiges Geröllfeld aufgetürmt. Gesteinsbrocken und Schutthaufen häuften sich über eine Strecke von mehreren einhundert Metern zwischen dem Lager und dem Pass, an einigen Stellen hoch wie mehrstöckige Häuser und es war nahezu ein Wunder, dass sie nicht begraben worden waren.

Tief atmete er aus, dann wieder ein. Noch einmal, noch ein drittes Mal, dann richtete er sich zu voller Größe auf und brüllte: „Hat es einen erwischt?“

Eine Antwort bekam er nicht, aber überall erhoben sich die Männer. Einige von ihnen schüttelten die Köpfe und wahrscheinlich dachten sie das gleiche wie er: Es gab vier Himmelsrichtungen, aber sowohl der Tornado als auch die Lawine hatten sich ausgerechnet die ausgesucht, in der sich ihr Lager befand.

Auf den ersten Blick hatte die Windhose keinen großen Schaden angerichtet, selbst das Zelt der Wissenschaftler schien fast unversehrt zu sein. Allerdings war nicht sicher, ob sie eben das Minimum oder das Maximum erlebt hatten und ob sie bei einer Wiederholung wieder nur mit ein paar blauen Flecken davon kommen würden. Für einige Zeit hatten sie vielleicht Ruhe, die Luftschichten hatten sich vermischt und bis sie sich erneut aufluden und eine neue Windhose entstehen konnte, sollte eine Weile vergehen. Trotzdem musste er das Lager weiter nach unten in die Täler verlegen. Hakonsen würde wie ein Derwisch toben, aber das war nichts wirklich Neues.

„Ich habe gefragt, ob einer was abgekriegt hat!“, brüllte er noch einmal.

Niemand meldete sich und dann waren sie wohl noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.
Hakonsen kam herangeschlendert, als gäbe es nichts Wichtiges und stellte sich neben Thore. „Sie bluten übrigens im Gesicht.“

Thore fasste sich in seinen Vollbart. Verblüfft musterte er die rosa Eiskristalle auf seinem Handschuh und erst jetzt spürte er den Schmerz in seiner Wange. Mit jeder Sekunde tat es mehr weh.

Er knurrte: „Scheiße, das wird eine Narbe. Egal, wir müssen hier weg. Das nächste Mal wird es vielleicht nicht so gut abgehen. Wir sind alle hundemüde. Heißt, wir bauen heute nur provisorisch die Zelte auf. Morgen suchen wir uns einen Platz weiter unten in einer Gegend, in der wir besser geschützt ...“

„Wir können hier nicht weg!“, fiel ihm Hakonsen ins Wort.

„... sind und gut wäre, wenn so etwas wie eine Höhle in der Nähe wäre, in der wir unsere Vorräte lagern können und als Schutz für uns. Nicht weiter weg als fünf Minuten von dem neuen Lager. Solange hat der Sturm gebraucht, bis er seine volle Kraft hatte. Jetzt sorgt für Ordnung, dann geht schlafen. Wenn etwas zu Bruch gegangen ist, sagt mir Bescheid. Legt los.“

Sie ließen sich nicht zweimal bitten und machten sich an die Arbeit. Nur Hakonsen rührte sich nicht. Thore klappte seine Kapuze zurück und zog seinen Gesichtsschutz nach unten. „Überspann den Bogen nicht. Beim nächsten Mal knallt es.“

Hakonsen reckte Nase und Kinn vor. „Wir können hier nicht weg. Im Gegenteil, wir müssen noch näher heran. Unbedingt! Ruud Ängström hat Ihnen gesagt, dass Sie alle Entscheidungen, die unsere Arbeit betreffen, vorher mit mir zu besprechen haben. Diese fällt darunter. Wir sind am Berg, meinem Forschungsobjekt. Ich habe jetzt die Leitung. Habe ich!“

Noch einmal beherrschte Thore sich, aber er wusste, dass der Punkt, in dem Erschöpfung und Frustration in blanke Wut in ihm umschlagen würden, nicht mehr weit war. „Mach die Augen zu, dann siehst du, was du leitest. Wir verlegen das Lager oder ich ramm dich unangespitzt in die Felsplatte. Ende der Diskussion.“

Er drehte sich um und wäre fast gegen Joachim Detjen gelaufen.

„Darauf solltest du einen Blick werfen.“ Der deutsche Seismologe reichte Hakonsen ein langes Papierband.
„Das hat der Seismograph ausgespuckt.“

„Was ist das?“

Detjen hielt es ihm direkt vor die Augen und Hakonsen musste einen Blick darauf werfen, ob er wollte oder nicht. Er nahm sich ein paar Sekunden, dann fauchte er: „Mikroerdbeben. Na und? Hier ist eben eine Gerölllawine heruntergekommen.“

„Es begann davor. Als noch alles ruhig war, sogar ein paar Minuten vor dem Sturm, bevor wir die Schlieren am Berg entdeckt hatten. Ich wollte ihn überprüfen, da schlug er schon aus. Stärke zunehmend, ansteigende Intensitätskurve, ähnlich wie die ansteigende Rotationsgeschwindigkeit der Windhose. Als hätte sie die Energie nicht aus der Temperaturdifferenz, sondern aus den tiefen Bodenbewegungen gezogen. Kein Zusammenhang?“

„Kein signifikanter. Die Windhose hatte ihren Fuß am Boden und ein Teil ihrer Energie hat sich in den Felsuntergrund entladen. Das sind die Vibrationen, die der Seismograph gemessen hat. Hätte sie es nicht getan, wären wir jetzt wahrscheinlich tot. Richtig tot. Das sagen die Aufzeichnungen jemandem, der sie korrekt interpretieren kann. Was Sie daraus konstruieren, ist seismologische Metaphysik, Herr Kollege. Außerdem sind wir weder ausgerüstet für derartige Untersuchungen noch hier, um antarktische Phänomene aufzuklären.“

„Also ist es eins.“

„Drehen Sie mir die Worte nicht im Mund um! Nicht umdrehen!“

Fast tat der Deutsche Thore ein bisschen leid. Vor etlichen Jahren hatte Hakonsen zusammen mit Wennigsen und Bergander begonnen, alles an Material auszuwerten, was er über den sechsten Kontinent in die Hände bekommen hatte; jedes Satellitenfoto; jede Luftbildaufnahme; jeden Ausdruck eines Seismographen. Nach dem, was in der Akte stand, die Olsbue geschickt hatte, war Hakonsen ein absoluter Experte für die Geologie der Antarktis. Am Anfang hatte er darüber noch publiziert und was er über die Bewegungen der Erdkruste und die Plattentektonik unter dem sechsten Kontinent veröffentlicht hatte, gehörte zur Standardlektüre in Universitäten, obwohl er da erst dreißig gewesen war. Vor vier Jahren hatte er sich dann ganz plötzlich mit dem Geld von Ängström einen Forschungskomplex eingerichtet. Gary Winston war dazugekommen, er war Spezialist für hochenergetischen Schall gewesen und dann noch Sigurd Haggard, ein Geophysiker. Egal, wie gut Detjen auch war und wie viel Erfahrung er auch mitbringen mochte - Thore wusste, dass der Deutsche für Hakonsen ein Fremdkörper war.

„Er meint es nicht so, Joachim.“

Ein wenig schleppend und nicht so leichtfüßig wie sonst, kam Johanna Hakonsen aus dem Forschungszelt. Thore kannte sie als eine kräftige, etwas herbe Schönheit, die in den letzten Wochen so manche Auseinandersetzung durch ihre bloße Anwesenheit entschärft hatte. Jetzt lagen ihre Augen ohne Glanz tief in den Höhlen, ihr schmales Gesicht war eingefallen und der Wassermangel ließ ihre Wangenknochen spitz hervortreten. Thore hatte erst abgelehnt, sie mitzunehmen, aber mit einem Foto vom Gipfel des Mount Everest, mit dem Dach der Welt im Hintergrund, von ihr selbst aufgenommen, hatte sie ihm jedes Argument aus der Hand geschlagen. Was ihn mehr beeindruckt hatte – ihre Leistung oder das Strahlen aus ihren leicht schrägen, katzengrünen Augen - darüber wollte er nicht nachdenken.

Ihr Mann sah sie scharf an. „Es existiert keine wissenschaftliche Theorie, meine Liebe, nach der kaum messbare Erderschütterungen Stürme dieser Größenordnung auslösen oder auf eine anderweitig metaphysische Art befruchten können und das ist ja wohl die Hypothese meines geschätzten Kollegen hier. Noch dazu zeigt das Band exakte zeitliche Abstände der Ausschläge und nur Primärwellen, keine Sekundärwellen. Hätte Herr Detjen bei mir Geologie studiert, wüsste er, dass so etwas in der Natur nicht vorkommt. Wo sagten Sie doch gleich, haben Sie ihr Fachwissen erworben? Aber wie schlecht auch immer Ihre Ausbildung gewesen sein mag - auf die naheliegende Idee, die korrekte Funktion des Seismographen zu überprüfen, die offenbar nicht mehr gegeben ist, hätten Sie auch mit einem simplen Schulabschluss kommen können. Hätten Sie.“

Man sagte von ihm, dass er als Geologe ein Genie war. Das mochte sein. Als Mensch war er jedenfalls ein Arschloch, fand Thore. So bitterböse wie Hakonsen schaute man weder einen Kollegen noch seine Ehefrau an. Sie, Detjen und Haggard waren die Einzigen, die ihm noch geblieben waren. Die andere Hälfte seines Teams hatte der Teufel geholt. Er hätte sich besser Hakonsen schnappen sollen.

Plötzlich fiel Thore etwas ein und seine Nackenhaare stellten sich auf. „Wo ist Sigurd?“

Hakonsen zuckte die Schultern. „Was sehen Sie mich an?“

„Aber du …“, sagte Joanna und verstummte unter dem Blick ihres Mannes. Diesmal lag blanker Hass darin und Thore wiederholte: „Wo! Ist! Haggard!“

Hakonsen reckte das Kinn vor. „Er wollte ein paar Proben sammeln gehen. Wird schon wieder auftauchen.“

„Du hast ihn gehen lassen?“

„Er ist mein Mitarbeiter und wir haben keine Zeit. Jede Minute zählt. Was geht Sie das überhaupt an? Was?“

Thore packte zu. Es reichte ihm endgültig, das Fass war übergelaufen. Er zerrte Hakonsen an dessen Parka zu sich heran, bis sich fast ihre Gesichter berührten. Joanna bückte sich nach einem Stein, Joachim Detjen griff nach Thores Arm, aber wie ein lästiges Insekt schüttelte Thore die Hand des Seismologen ab. „Finger weg! So lange ich meine Handschuhe nicht ausziehe, braucht ihr euch nicht einmischen!“

Wütend schüttelte er Hakonsen, dann stieß er ihn von sich. Hakonsen ruderte mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und krachte auf den Boden. Einen Moment blieb er benommen liegen, dann stemmte er sich wieder auf die Füße.

„Drei Leute sind schon tot, aber du hast immer noch nichts begriffen, Hakonsen, was?“ Mit den Stiefeln trat Thore ihm die Beine weg und wieder landete der Geologe auf dem Rücken. „Habt ihr Wissenschaftler nur Grütze in der Rübe? Du lässt Haggard einfach so losgehen. Ohne mich zu fragen, ohne überhaupt jemandem etwas zu sagen, und ihr Schlafschafe haltet das auch noch für eine prima Idee. Nie geht einer allein, jeden Tag habe ich Euch das eingehämmert, immer wieder. Muss ich dir das auch noch auf die Stirn tätowieren, Doktor Johannes Hakonsen? Zum Mitmeißeln für dich Steinzeitmenschen: Keiner macht mehr was, ohne dass ich davon weiß. Niemand! Vor allem du nicht! Selbst wenn du scheißen gehst, will ich das wissen und wenn du auch nur einmal vergisst, vorher bitte zu sagen, tacker ich dir die Ritze zu! Das gilt für alle. Jetzt bewegt eure Ärsche. Sörensen, du stellst Suchtrupps zusammen!“

Drohend blickte Thore jeden einzelnen der Männer an, die um sie herumstanden. Er machte einen Schritt zurück und drehte sich zu Joachim Detjen um. „Und du prüfst den Seismographen.“

„Wozu, wenn er doch die Primärwellen gemessen hat?“ Thores Wut schien ihn nicht im Geringsten aus der Fassung zu bringen.

„Heißt?“

„Heißt, dass er in Ordnung ist. Dass die Werte unserem Verständnis der Vorgänge, die wir mit unseren Sinnen wahrgenommen haben, widersprechen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Nur weil man ein Problem nicht sehen will, bedeutet das noch lange nicht, dass es nicht existiert. So handeln vielleicht Politiker, aber ich bin Wissenschaftler. Unseres ist: In jeder bekannten Theorie und nach unserer Erfahrung bringt die Natur weder Erdbeben ohne Sekundärwellen hervor noch tiefe Erdbeben ohne Oberflächenwirkung einen Sturm. Doch genau das ist hier das Problem.“

„Metaphysiker“, zischte Hakonsen vom Boden aus.

Thore rotzte ihm einen grünen Fladen zwischen die Füße. „Halt dich raus. Bete lieber, dass Haggard nichts passiert ist.“

„Und noch etwas passt nicht zusammen.“ Joachim Detjen tat, als hätte er Hakonsens giftigen Kommentar nicht gehört. „Erstens: Was sich am Berg zusammengebraut hat, war ein Tornado, der hier nicht von alleine entstehen kann, die Temperaturunterschiede sind zu gering und damit stimmt die Energiebilanz nicht. Zweitens: Er marschiert exakt über uns hinweg, aber trotz seines immensen Zerstörungspotentials geht bei uns nicht mehr als Mutters gutes Geschirr zu Bruch. Drittens: Genau wie der Bergrutsch, der aus voller Geschwindigkeit heraus direkt vor uns stoppt, als sei er gegen eine Wand geknallt. Nein, nichts davon war das, was wir glauben, dass es das war.“

Alle starrten ihn an. Nur Johanna bückte sich, um ihrem Mann aufzuhelfen, aber der schlug ihre Hand beiseite und rappelte sich alleine auf. „Ach ja? Und was ist es Ihrer überaus kompetenten Schulmeinung nach gewesen, Herr Kollege Detjen? Was?“

Einen Moment schien es, als wollte der Deutsche keine Antwort geben. Er schaute erst Thore an, schwenkte dann seinen Blick zu Johanna und ließ ihn lange auf ihrem eingefallenen Gesicht ruhen. Schließlich antwortete er doch und obwohl er leise sprach, hörte es sich für Thore an, als würde er schreien: „Es war eine Warnung.“

Das vor Zorn rote Gesicht Hakonsens wurde schlagartig bleich und scharf atmete Thore aus. In der knochentrockenen Luft kondensierte sein Atem zu Raureif und stand als weiße Wolke vor seinem Gesicht. Er wedelte sie mit der Hand beiseite. „Das klären wir später. Erst müssen wir Haggard finden. Wehe, Ihr drei rührt Euch bis dahin aus dem Lager. Aber dann wird Tacheles geredet.“

Wird fortgesetzt ...
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