Vom Loslassen
Vom LoslassenVor vierundsiebzig Minuten habe ich losgelassen.
Ich habe es in mir gespürt. Es war ein ganz kleiner Moment, ein kaum spürbarer Gewichtsverlust. So, als würde eine Feder durch einen leichten Windhauch beginnen, zu schweben. Als würde der letzte Ton des letzten Liedes* verklingen, und man wacht auf und stellt fest, daß dort drüben über die Lichtung auf dem Birkenzweig ein Rotkehlchen sitzt und gleich zu zwitschern beginnen wird. Als würde man hoch auf einer Klippe stehen, zähneklappernd, aus der Brust kommt der letzte Atemstoß der Welt, und dann zieht eine absolute Stille durch die Adern, eine geheimnisvolle Kraft läßt einen die Arme ausbreiten, die Füße lösen sich vom Fels, und dann erfüllt Schwerelosigkeit den Raum.
Waren das Gründe, die mein Mund spuckte, den mein Verstand doch versuchte, so ruhig wie möglich zu halten, vernünftig zu argumentieren? Mein Herz war immer noch eingepreßt in panische Wut, in wildes Ausbrechenwollen, in schreiendes Bedürfnis nach einem Aber. Meine Brust war immer noch voll von Rechtfertigungen, Anschuldigungen. Ich habe es gespürt. War mein Herz kleinlich, egoistisch? Hätte ich meine Brust mit Größe öffnen müssen? Ich habe es gespürt! Ich hatte keine Argumente. Ich hatte nur Ängste. Und die waren nicht mal stellvertretende. Es waren meine. Und dann kam ein ganz kleiner Moment.
Vor vierundsiebzig Minuten habe ich losgelassen.
Um mich ist der Raum schwerelos.
Ein Rotkehlchen zwitschert.
Es zwitschert sehr schön.
*Secret Garden: Adagio (OST 2046)