Der Killer, das Mädchen und die Finsternis
Vorbemerkung: Das ist eine Auskopplung aus dem erotischen Thriller "Svensson: Oxymoron", mit dessen finaler Überarbeitung ich hoffentlich irgendwann fertig werde.-------------
Oslo, Silvesternacht 2028
„... Niemand von Ihnen ist allein bei der Meisterung der grandiosen Herausforderungen des Jahres 2026. Unseres Jahres 2026. Die Welt dreht sich, das Eis der Antarktis schmilzt, Regierungen kommen und gehen, Kriege beginnen und enden – NordicSF bleibt. Wir bleiben. Nichts kann uns aufhalten, und wenn Sie ab morgen ein weiteres Kapitel der Erfolgsgeschichte unserer großen Firma schreiben, werde ich an Ihrer Seite sein. Immer an Ihrer Seite, wie ich das bereits in all den vergangenen Jahren getan habe. Jeder Tag wird harte Entscheidungen von Ihnen verlangen und ich weiß, dass Sie diese im Sinne unserer großartigen NordicSF fällen werden. Weil Sie mich hinter Ihnen wissen. So, wie in jedem der letzten dreißig Jahre. Was auch immer Sie planen, was auch immer Sie in Angriff nehmen - wenn Sie es für unsere Firma tun, so wird es mit meinem Segen geschehen.“
Stille folgte den Worten des alten Mannes mit den schlohweißen, bis auf die Schultern herabhängenden Haaren, einem von Runzeln gefurchten Gesicht und den stechend grünen Augen in dem überlebensgroßen Hologramm, nur hier und da durchbrochen von einem verhaltenen Hüsteln oder dem Rascheln eines seidenen Abendkleides. Selbst die kunstvollen Wasserspiele in den stillen Ecken zwischen den riesigen Gold- und Titansäulen schienen leiser zu plätschern.
Johannes Hakonsen hob beide Arme in Schulterhöhe, die offenen Handflächen den Anwesenden zugewandt. „Doch nun ist es an der Zeit, Ihre grandiosen Erfolge zu feiern. Genießen Sie das Glück des Erreichten, trinken Sie auf die Herausforderungen, die vor Ihnen liegen. NordicSF für immer!“
„NordicSF für immer!“
Die Antwort aus hunderten Kehlen ließ das Titaneum erbeben. Minutenlang brandeten die Ovationen durch die riesige Lobby. Sie klatschten, pfiffen und schrien, als gäbe es kein Morgen mehr: distinguierte Herren mit grauen Schläfen in Zehntausend-Euro-Schuhen und ihre juwelenbehangenen Ehefrauen; Top-Managerinnen mit ihren männlichen Anhängseln, pflichtschuldig selbst das Personal und keiner unter ihnen, der nicht etwas in den blau-orangenen Farben der Firma getragen hätte. Niemanden interessierte es, dass Klatschen politisch inkorrekt war und Grund für zart besaitete Gemüter, einen Safe Space aufzusuchen. Den es nirgendwo hier gab - ein Blasebalg für sein Ego und ein meterdicker Hornhautpanzer gegen jede Empfindsamkeit waren Grundvoraussetzungen, um zu den handverlesenen Gästen dieses Neujahrsempfangs zu gehören. Norweger waren sie und die, die es nicht waren, fühlten sich als solche. Sie beerbten die alten Wikinger, bei denen selbst die Weiber echte Kerle gewesen waren und wie ihre Vorfahren zogen sie aus, die Welt zu erobern. Ihr Safe Space lag in Walhalla, nirgendwo sonst und sie folgten dem, der sie dorthin führte - Johannes Hakonsen.
Der alte Mann hob noch einmal segnend die dürren Hände, dann erlosch sein Hologramm und die altertümliche Big Band, eine der letzten ihrer Art, intonierte die Firmenhymne.
Halbverdeckt hinter einer Säule aus Titan stand ein Mann über der Menge auf der obersten Stufe der breiten Freitreppe aus grau gemasertem italienischen Marmor. Er hatte ein schmales Gesicht mit eisgrauen, weit auseinanderliegenden Augen, einer nach unten gekrümmten Nase, war groß und schlank und eher sehnig als athletisch. Eine Hand auf das Titangeländer mit den Intarsien aus Gold und Lapislazuli gelegt und die andere in die Hosentasche seines stahlblauen Abendanzuges mit den messerscharf gebügelten Kanten gesteckt, blickte er mit unbewegtem Gesicht auf die sich in orgiastischer Begeisterung suhlende Führungselite des Konzerns im Festsaal hinunter. Jeder da unten hatte Leichen im Keller liegen, manche ganze Berge davon, und er kannte jede davon mit Vornamen.
Eigentlich hätte er nicht hier sein müssen. Für die Sicherheit dieser handverlesenen Führungselite aus aller Welt war Olaf Wielander verantwortlich, der Sicherheitschef der Firma. Aber der hatte eine zweite Analyse sämtlicher elektronischer Systeme verlangt und das fiel in den Bereich des Mannes mit den kalten Augen auf der Treppe.
Sein Name war Borg. Nur Borg. Sein Vater hatte ihm auch einen Vornamen gegeben, doch den mochte Borg nicht. Er mochte gar nichts, was ihn an den Mann erinnerte, der montags bis freitags immer mitten in der Nacht hatte aufstehen müssen, um im Hamburger Hafen bei Blohm & Voss zu schuften. Jeden Samstagabend hatte der seinen Jungen durchgeprügelt und danach seine Frau bestiegen - manchmal hatte er es auch umgekehrt gemacht, je nachdem, ob der Hamburger Sportverein gewonnen oder verloren hatte. Sonntags war er in die Kirche gegangen und hatte Gott um Vergebung für seine Samstagssünden angebettelt. Borg ging nie in die Kirche und er stand nie früh auf. Er hatte begriffen, wie die Welt funktionierte.
Die europäischen Länder, die ihre Grenzen vor den aus Afrika herandrängenden Menschen nicht rechtzeitig genug geschlossen hatten, erlebten ein sicherheitspolitisches Desaster. Parallelgesellschaften etablierten sich, die innere Sicherheit stand nur noch auf dem Papier, die Behörden waren überfordert und ausgedummt und die Polizei kastriert worden. Auf den Straßen herrschte das Gesetz des Dschungels, unverschleierte und unbegleitete Frauen waren Freiwild und Kinder armer Eltern Handels- und Sexobjekte. Hass war die herrschende Religion, Farbig kämpfte gegen Weiß, Links gegen Rechts, Zugewanderte gegen Einheimische, Jung gegen Alt, Arm gegen Reich. Keiner gönnte dem anderen auch nur noch das Schwarze unter dem Fingernagel. Religiös verbrämte Morde und Anschläge waren an der Tagesordnung, Bildung Mangelware und Klimarettung Staatsdoktrin. Abwechselnd verkündeten die Medien die Erreichung des goldenen Zeitalters oder den baldigen Weltuntergang und sorgten dafür, dass das Jeder-gegen-Jeden niemals endete. Gescheiterte Ehen, zerbrochene Familien, Geschlechterkampf, entwurzelte und haltlose Menschen waren die Realität und das Leben der meisten war heruntergedimmt auf ein Dasein als Opfer und auf Verantwortungslosigkeit.
Für Borg feierte die Dummheit des Mittelalters Wiederauferstehung und er betrachtete das leidenschaftslos. Die Menschen hatten sich schon immer gegenseitig bekämpft. Die Methoden mochten sich im Laufe der Jahrtausende geändert haben, aber das, was dahinter stand, nämlich Gier nach Macht, nach Beherrschung der anderen, hatte sich seit Jahrtausenden nicht geändert.
Besser hätte es für ihn gar nicht kommen können. In diesem Überlebenskampf hatten die Großkonzerne der Europäischen Union das Recht abgepresst, sich zu schützen. Sie schufen sich paramilitärische Einheiten nach dem Vorbild der amerikanischen Firma „Blackwater“ und ehemalige Militärs mit Führungserfahrung wie Borg konnten Gehälter fordern, die denen von Aufsichtsratsmitgliedern in nichts nachstanden.
Sein Smartphone meldete sich mit einem „pling“ und er warf einen Blick auf das Display. Ein herzförmiges Gesicht mit einer ein wenig nach oben gebogenen aristokratisch kleinen Nase und schwellenden roten Lippen, die wie für das Küssen geschaffen schienen – Sylvie. Doch ihre blassblauen Augen unter der hohen, faltenlosen Stirn leuchteten so kalt wie arktisches Eis. Das taten sie immer, selbst in den Momenten, in denen sie einen angeblichen Orgasmus hinausschrie, der jeden anderen Mann außer Borg getäuscht hätte.
Sie hatte ein Bild geschickt. Nichts weiter als den Hauch eines halbdurchsichtigen, schwarzen Négligés trug sie darauf und einen kurzen Text hatte sie hinzugefügt: „Glückwunsch zur Beförderung. Wenn du nach Hause kommst, darfst du mit mir machen, was Du willst. Kuss, Sylvie.“
Er massierte kurz die Muskelstränge in seinem Nacken, dann legte er die Hand wieder auf das Geländer. Sie hätte sich die Haare blond färben sollen, dachte er. Die brünette Pagenkopffrisur passte nicht zu ihren Augen. Andererseits passte sie wiederum sehr gut zu einer Frau, die glaubte, ihm sagen zu können, was er durfte und was nicht. So lange sie das nicht in der Öffentlichkeit tat und ihm ihre unterkühlte Lust Spaß machte, gedachte er, sie zu behalten. Schon allein deswegen, weil sie für Wielander arbeitete. Dem Mann über ihm, der als nächster auf seiner Liste stand.
„Es ist nach zwölf, da können sogar Sie die Jacke öffnen, auch wenn Sie nicht hierhergehören, Ragnar.“
Mikkelsen stellte sich neben Borg und schaute ebenfalls nach unten. Der Managing Director Deutschland war über die Sechzig hinaus, breit wie ein Felsblock und maß dabei nur knapp einen Meter sechzig. Er hatte noch nicht einen einzigen Knopf seines Abendanzuges geöffnet und selbst die Fliege saß so perfekt, als hätte er sie gerade eben binden lassen.
„Und was ist mit Ihnen, Ryland?“, fragte Borg, blickte dem zwei Köpfe Kleineren neben sich auf die Glatze und schluckte seinen Ärger hinunter. Mikkelsen wusste sehr genau, dass Borg seinen Vornamen hasste.
„Ihnen ist doch nicht etwa entgangen, dass ich hier Johannes Hakonsen vertrete, Ragnar?“
„Tatsächlich. Ich vergaß, dass Sie ja der Stellvertreter Gottes auf Erden und wir nur das Fußvolk sind. Nun ja, wenigstens hatte ER die Gnade, uns mit einer Neujahrsvideobotschaft zu beglücken.“
„Ihre Beförderung war ein Fehler.“
„Dann war es einer von Ihnen.“
Eine Weile schwieg Mikkelsen, dann erwiderte er: „Ich mag Sie, Ragnar. Sie sind so sauber, kompetent und effizient. Aber Sie sind mir auch zu schnell, und schnelle Leute haben immer einen Plan. Kommen Sie also nicht auf die falschen Ideen. Unter den Gästen, die da unten tanzen, werden Sie niemals sein. Setzen Sie Ihren Fuß nur eine Treppenstufe tiefer und ich nehme Sie aus dem Spiel.“
Er machte einen Schritt zur Seite. „Einen netten Abend noch und feiern Sie Ihre Beförderung. Mit Sylvie, vermute ich.“
Auf seinen kurzen Beinen ging er die Treppe hinunter und sein Lächeln dabei war so echt wie eine Fünf-Dollar-Rolex von einem Straßenhändler in Bangkok. Ich weiß alles über dich, bedeutete sein letzter Satz und Borg war nicht der Mann, das zu überhören, auch wenn Mikkelsen damit falsch. Denn Borg war auch der Mann, der genau darauf achtete, dass Hakonsens Stellvertreter eben nicht alles über ihn wusste.
Eine große, dürre Frau mit zu viel Schminke im Gesicht und einem grässlichen orange-blauen Abendkleid rempelte Mikkelsen auf der Treppe an, kicherte und schüttete ihm fast den Inhalt ihres Weinglases ins Gesicht. Sie schaute auf den kleinen Mann herab, der ihr nicht einmal bis zum Dekolletee reichte, tätschelte ihm mit einer vor Ringen strotzenden Hand die Glatze und lallte: „Uups, da hätte ich mir ja fast was eingetreten.“
Jede Bewegung um sie fror ein. Selbst das Personal, das sonst nicht schnell genug leere Gläser nachfüllen konnte, verhielt und starrte auf Mikkelsen. Der drückte den Rücken durch, stand mit zusammengepressten Lippen da und seine Augen schienen zu glühen.
Sie nahm es nicht wahr, ihr kreischendes Lachen schrillte durch die Lobby. Vielleicht hielt sie es für einen guten Witz, und auch wenn Borg der gleichen Meinung war, wusste er, dass sie morgen das nicht mehr denken würde. Ihr Ehemann drängelte sich rücksichtslos zwischen den Menschen auf der breiten Treppe hindurch, entschuldigte sich vielmals bei Mikkelsen, grapschte nach dem Ellenbogen seiner Frau und zerrte die immer noch Kichernde die Freitreppe hinunter.
Mikkelsen sagte kein Wort. Vor Wut bebend, stand er auf der Treppe, auch noch, als die Übeltäterin schon längst verschwunden war. Schließlich, das Leben um ihn herum hatte wieder seinen Partyrhythmus aufgenommen, schlenderte er, als sei nichts gewesen, die letzten Stufen hinunter. Er lächelte, doch jeder der ihm begegnete und ihm ins Gesicht sah, hatte urplötzlich etwas Wichtiges zu tun, etwas dass ihn möglichst weit wegbrachte von Ryland Mikkelsen, der jetzt zur Faust geballten rechten Hand Gottes.
Borg hatte genug gesehen. Er piepte seinen Fahrer an, holte den Mantel und ging zum Seitenausgang. Die acht Stufen bis zur Straße nahm er mit vier großen Schritten, riss die Tür des schwarzen Geländewagens davor auf, ließ sich auf den Rücksitz fallen und wischte sich die Schneeflocken von den Ärmeln.
„Nach Hause, Sir?“ Sergeant Meyers ließ den Wagen anrollen.
„Wohin sonst? Geben Sie Gas!“
Mit Daumen und Zeigefinger rieb sich Borg die schmerzende Nasenwurzel und ärgerte sich, dass er seine Datenbank wieder auf den neuesten Stand bringen musste. Er war sich sicher, dass noch in dieser Woche ein neuer PR-Chef für Südamerika ernannt werden würde. Einer, dessen Gattin nicht so dämlich war, Mikkelsen auf die Birne zu patschen.
Das Telefon in der Innentasche seines Sakkos summte. Er nahm das Gespräch an und knurrte: „Simmons, was zum Teufel fällt Ihnen ein, mich um diese Zeit anzurufen?“
„Tut mir leid, Sir, aber ich bin gerade durch einen Alarm geweckt worden. Im Polizeicomputer ist eine Vermisstenanzeige aufgetaucht mit einem der Suchbegriffe, die Ryland Mikkelsen vorgegeben hat. Und nicht irgendeiner. Ein Alphaselektor.“
„Captain, weder die Nachricht noch meine Laune werden besser, wenn sie mir den Mist scheibchenweise servieren. Also?“
„Ein Tom Breedlove aus Südafrika sucht hier in Oslo nach seiner verschwundenen Schwester. Der letzte bekannte Arbeitgeber von ihr war der Security Service, der für die Sicherheit des Hauptsitzes von South African Oil and Diamonds in Durban zuständig war. Die Firma hat sie vor einigen Jahren übernehmen wollen und dann wurde alles ziemlich hässlich. Sie erinnern sich vielleicht.“
„Halten Sie mir keine Predigt! Mein Gedächtnis funktioniert noch ganz gut. Schmeißen Sie Deckland aus dem Bett und tackern Sie ihn vor seinen Computern fest. Ich will alles über diesen Breedlove wissen. Und wenn er die Informationen hat, soll er sie anschließend aus dem Polizeinetzwerk löschen. Finden Sie das Hotel von dem Breedlove heraus, wir werden ihn besuchen. Ist Mikkelsen informiert?“
„Ich wollte Ihre Anweisung abwarten.“
„Also nein. Belassen Sie es dabei. Ich kümmere mich selbst darum. Borg Ende.“
Er ließ das Telefon wieder in seinem Sakko verschwinden und blickte durch das Seitenfenster, ohne die dicken Tropfen, die der Wind an die Scheibe des Wagens klatschte, auch nur wahrzunehmen. „Bringen Sie mich ins Hauptquartier“, sagte er zu Meyers.
„Ärger Sir?“ Der Fahrer blickte in den Rückspiegel.
„Wie lange sind sie jetzt in meinem Team gewesen, morgen schon nicht mehr mitgerechnet?“
Meyers setzte den Blinker, biss sich auf die Lippen und schaute konzentriert durch die Frontscheibe auf den nächtlichen Verkehr.
Drei Stunden später saß Borg dem aus dem Schlaf gerissenen Tom Breedlove in dessen winzigem Hotelzimmer gegenüber. Captain Axel Simmons lehnte mit dem Rücken und verschränkten Armen an der lindgrünen Wand und schaute mit einem Grinsen in seinem bartstoppeligen Gesicht auf den Mann, der mit seinem Hintern auf dem einzigen Stuhl im Zimmer hin und her rutschte.
Borg ließ sich auf einen wackligen Sessel vor dem Fenster fallen. Wortlos reichte der Captain ihm ein Tablet, doch Borg winkte ab. Er wollte sich erst ein Bild von dem Mann machen, bevor er sich die Daten ansah, die sie über ihn hatten.
Breedlove war mittelgroß, hatte breite Schultern und seine großen Hände waren sauber, aber ungepflegt. Die Gesichtshaut war stark gebräunt, von Falten durchzogen und ein wuchernder, rötlicher Vollbart verbarg seine Mundpartie.
Borg räusperte sich. „Ich bin Major Borg. Sie haben bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben und ich bearbeite den Fall. Sie sind Tom Breedlove aus Durban in Südafrika und Sie suchen nach ihrer Schwester Susan. Das ist korrekt?“
„Das habe ich gestern der Polizei gesagt. Und wer sind Sie?“
„Ich leite eine aus internationalen Spezialisten bestehende Einheit, die gegen die immer mehr ausufernde weltweite Firmenkriminalität vorgeht. Der Vorstand von South African Oil and Diamonds wurde Opfer eines Verbrechens, dessen Hintermänner bis heute nicht gefunden wurden. Zehn Jahre sind lang genug, um Gras darüber wachsen zu lassen. Doch jetzt sind Sie hier und stellen Fragen nach ihrer Schwester, die als ehemalige Angestellte des Sicherheitsdienstes dieser Firma etwas darüber wissen könnte, jedoch verschwunden ist, bevor man sie damals befragen konnte. Damit rücken Sie und auch ihre Schwester automatisch in den Fokus unserer Ermittlungen. Vielleicht liefern Sie uns ja den entscheidenden Hinweis, nach dem wir so lange gesucht haben.“
Die Mundwinkel von Captain Simmons zuckten und Borg schoss aus den Augenwinkeln einen scharfen Blick auf ihn ab. Sofort zeigte das Gesicht des Captains wieder dessen Standardlächeln.
Obwohl es kalt war im Raum, rannen Schweißtropfen über Breedloves Stirnglatze. Er holte aus seiner Jogginghose ein altmodisches Taschentuch und wischte sich über die Stirn. „Sie sind ein Major? Das hört sich nach Militär an und nicht nach Polizei. Ich ... ich suche doch nur meine Schwester!“
Borg ließ seine Gelenke knacken, zog seine Jacke aus, warf sie über die Rückenlehne seines Sessels und nickte dem Südafrikaner zu. „Warum, Mister Breedlove?“
Der presste das Taschentuch in seinen Händen. „Sie hat bestimmt etwas Schlimmes vor.“
„Das wäre?“
Breedlove blickte an Borg vorbei. „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“
„Ihre Schwester ist noch während der Ermittlungen zu einem Terroranschlag, der einundzwanzig Menschen das Leben gekostet hat, verschwunden. Das macht sie zu einer Verdächtigen und ich kann ganz Oslo auf den Kopf stellen, um sie zu finden. Und ich kann ‚das Finden‘ tot oder lebendig befehlen. Was davon ich tue, hängt von Ihren Antworten hier und jetzt ab. Also?“
Borg trommelte mit den Fingern auf die Sessellehne. Breedlove schaute zu Simmons hinüber, doch das Lächeln des Captains klebte unverrückbar in dessen Gesicht.
„Meine Schwester hatte damit nichts zu tun. Im Gegenteil, es war alles ganz anders!“, stöhnte Breedlove und knetete das Taschentuch in seinen Händen.
„Und wie?“
„Na ja, also an dem Tag damals hatte Susan frei und wollte einkaufen. Sie ist passt auf wichtige Leute auf und sie ist wirklich gut darin, wissen Sie? Sie hat sogar schon mal einen Kerl, der mit dem Messer auf ihren Boss losgegangen ist, erwischt. Hat ihm das Ding aus der Hand gewunden und es ihm dann in den Hals gesteckt. Einfach so. Bis zum Anschlag. Und der Kerl war groß, richtig groß. Sogar einen Orden hat sie dafür gekriegt. Sowas konnte sie, unsere Susan. Jedenfalls – sie fuhr mit Micky, das war ihr Sohn, der war erst sechs, und ihrem Mann, der die Videos gesteuert hat, morgens nach Durban. Micky fand das immer so toll, wenn er seinem Vater beim Arbeiten zusehen durfte. Er schlief dann nachts immer nicht, wenn er am nächsten Tag bei seinem Vater sein konnte, wissen Sie? Jedenfalls, als die Sitzung anfing, ließ Susan die beiden alleine und ging einkaufen. Sie hatte dafür immer so wenig Zeit sonst.“
Er stockte, sein Blick verlor sich irgendwo hinter Borg und der räusperte sich. Breedlove zuckte zusammen und sprach schneller. „Als sie nach ein paar Stunden wiederkam, waren alle tot. Zwei Tage später, gleich nach der Beerdigung, ist sie weg gewesen. Wir haben alles abgesucht, auch die Polizei, aber niemand wusste etwas und alle dachten, dass sie sich aus Gram das Leben genommen hat. Ja und dann kriegte ich vor einer Woche eine Internetnachricht, dass jemand sie gesehen hat. Hier. Mehr nicht. Ich habe einem Professionellen Geld gegeben, aber der konnte mir nur sagen, dass die Nachricht aus Oslo kam. Und nu bin ich hier. Ich will nicht, dass Susan was Falsches macht. Ich will nicht auch noch meine Schwester verlieren!“
„Was denken Sie, was sie vorhat?“
Breedlove rutschte wieder mit seinem Hintern auf der Sitzfläche des Plastikstuhls hin und her. Sein Blick huschte mal hier und mal dahin, wich aber immer dem von Borg aus. Der knallte die flache Hand auf die Armlehne. „Antworten Sie!“
„Ich weiß es doch nicht!“ Breedlove krümmte sich zusammen. „Sie ist nicht schlecht, wissen Sie? Aber sie ist anders als ich, so herrisch. Man kann nicht mit ihr reden, sie weiß immer alles besser. Und sie kann so böse werden. Wenn sie erfährt, dass ich nach ihr suche, und dass ich mit Ihnen geredet habe, macht sie mir bestimmt Ärger. Richtig Ärger!“
Simmons zuckte die Schultern, tippte sich mit einem Finger an die Stirn, aber Breedlove schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht verrückt. Die Welt ist es und daran ist Susan krank geworden. Aber sie hat sich nich umgebracht und untergegangen is sie auch nich. Nee, nich Susan. Nich bevor sie die Mörder ihrer Familie hat. Genau das will sie machen, sie kann das ja, hat das ja gelernt, nich?“
Mit dem zerknüllten Taschentuch wischte sich Breedlove über die Augen. Achtlos ließ er es neben den Stuhl fallen, beugte sich über den Tisch und auf einmal war ein ganz anderer. Ein Mann voller Zorn, ein Mann, der seine Familie und seine Schwester an eine Welt verloren hatte, die er nur noch hasste und der zischte Borg ins Gesicht: „Das wird sie machen. Umlegen wird sie ihn, eiskalt massakrieren und wenn ich könnte, würde ich ihr helfen dabei. Deswegen bin ich hier!“
Er fiel wieder zusammen und machte nicht den Eindruck, als wollte er noch mehr sagen. Das musste er auch nicht, für Borg hatte er schon genug erzählt. Irgendwo hier in Oslo lief eine tickende Zeitbombe herum, die es auf seine Firma abgesehen hatte. Eine Frau, die nichts mehr zu verlieren hatte und sich durch nichts und niemand mehr von ihrem Vorhaben abbringen lassen würde, es sei denn, er schaltete sie vorher aus. Was nicht einfach werden würde. Sie war darin ausgebildet, Menschen zu töten und hatte ihren Hass zehn Jahre lang am Leben erhalten. Borg seufzte unhörbar. Er hatte genug Erfahrung, um zu wissen, was da auf ihn zukam.
„Haben wir schon etwas von ihr?“ Er blickte Simmons fragend an.
Der Captain wischte über das Tablet und reichte es Borg. „Nur ein Foto von seinem Handy. Es ist zehn Jahre alt. Ich habe es durch den Computer geschickt und es auf ihr heutiges mögliches Aussehen prognostizieren lassen,“ sagte er.
Borg blickte auf das Tablet, das Simmons ihm hinhielt. Die Frau auf dem Bild hatte ein herzförmiges Gesicht mit einer ein wenig nach oben gebogenen aristokratisch kleinen Nase und schwellenden roten Lippen, die wie für das Küssen geschaffen schienen. Doch ihre blassblauen Augen unter der hohen, faltenlosen Stirn wirkten wie arktisches Eis und jetzt wusste er, was es war, was daraus leuchtete: Hass.
Sie hätte sich die Haare blond färben sollen, dachte er, dann würde sie umwerfend aussehen.
Er überlegte einen Moment, dann griff er zu seinem Smartphone. Mit Daumen und Zeigefinger vergrößerte er die Nachricht, die er im Titaneum von Sylvie erhalten hatte, bis nur noch ihr Bild ohne die Nachricht zu sehen war, streckte den Arm aus und hielt es dem Südafrikaner vors Gesicht.
„Ihre Schwester ist eine außergewöhnlich schöne Frau“, sagte er und seine Stimme klang rau dabei.
Breedlove blickte mit runden Augen auf das Foto der halbnackten Sylvie, schluckte mehrmals und nickte schließlich. „Ja, das ist Susan. Aber sie hat sich selbst immer für ihr Aussehen gehasst. ‚Männer reduzieren mich nur auf meinen Arsch und meine Titten‘, hat sie immer gesagt. Darum ist sie zum Sicherheitsdienst gegangen. Sie wollte es den Kerlen beweisen. Und bei Gott, ich kann ihnen sagen, sie hat so manchen von den Typen aufs Kreuz gelegt. Und sie ist so klug.“ Mit feuchten Augen schaute er auf das Bild seiner Schwester.
Borg steckte sein Smartphone wieder ein und wendete sich zu Simmons: „Weiß der Teufel, wie sie es geschafft hat, Wielander zu täuschen. Immerhin arbeitet sie seit Jahren für ihn. Ich muss wissen, was sie bis jetzt in Erfahrung gebracht hat und ich will die E-Mail sehen, mit der sie ihren Bruder hier informiert hat.“
„Ersteres wird wahrscheinlich schwierig.“
„Deswegen mache ich das auch selbst. Sie kümmern sich um ihre gesamte elektronische Kommunikation!“
Der Captain kniff sich ins Kinn. „Vielleicht können wir sie umdrehen? Sie ist eiskalt, intelligent, hat Wielanders Sicherheitsüberprüfung überstanden und ist an Waffen ausgebildet, wenn das stimmt, was ihr Bruder hier gesagt hat. Natürlich nur, falls Sie sich nicht emotional kompromittiert fühlen, Sir.“
Borgs Augenbrauen schossen in die Höhe. „Wie war das?“
Captain Simmons straffte sich. „Ich meinte, Sir, dass ...“
„Es interessiert mich einen Dreck, was Sie meinen, Captain. Sie mögen sich mit Waffen auskennen, aber Sie haben keine Ahnung, wie gefährlich eine intelligente Frau ist, die hasst. Man kann sie höchstens in die richtige Richtung drehen, aber dann geht man besser in Deckung und genau das werden die Südafrikaner gemacht haben. Sie benutzen sie, um an uns heranzukommen. Lassen Sie Breedlove in die Basisstation N22-B schaffen. Kein Kontakt, keine Kommunikation. Jede Aufzeichnung über den Vorgang wird gelöscht. Mikkelsen informiere ich persönlich.“
„Jawohl Sir!“
„Außerdem filzen Sie den Lebenslauf von Sylvie. Bis spätestens Nullachthundert will ich wissen, wer sie in was und wann ausgebildet hat. Wir haben das komplette Datacenter von denen übernommen und da müssen diese Informationen gespeichert sein. Und schmeißen Sie Dr. Tenner aus dem Bett. Ich brauche eine prognostische Persönlichkeitsstrukturanalyse von Sylvie. Auch bis um acht.“
Auf der Stirn von Captain Simmons erschien eine steile Falte. Demonstrativ blickte er auf seine Armbanduhr. Es war nach zwei Uhr in der Nacht.
Borgs blaue Augen unter den buschigen Brauen wurden dunkel und kalt. „Wollten Sie noch etwas bemerken?“
Der Captain knallte die Hacken zusammen, bog den Rücken durch und sagte laut: „Nein, Sir!“
Der Mann aus Südafrika hatte die Unterhaltung mit offenem Mund verfolgt. Jetzt mischte er sich ein: „Was ist mit Susan? Und wer ist Sylvie?“
Borg griff nach der P 228 in seinem linken Axelholster. „Gute Frage. Sie sucht nach dem Mann, der ihre Familie ausgelöscht hat?“
„Das hatte ich doch schon gesagt!“
So langsam, als wöge die Waffe Tonnen, schwenkte Borg den Lauf der Pistole, bis er auf die Stirn des Südafrikaners zeigte. „Er sitzt Ihnen gegenüber, Mr. Breedlove.“
Fortsetzung folgt ...