Barfly - Teil lV
Penibel achtet er darauf, dass der schäumende, kalte Sekt nicht den Zuckerrand erreicht, dann steckt er eine Limettenscheibe an den Glasrand und in die saure Frucht hinein eine Cocktailkirsche.
„Et voilà!“, ruft er wieder aus, „‚Southern Sling‘, Madame!“ und platziert den Cocktail vor ihr auf einem sauberen Coaster.
Sich selbst schenkt er ein weiteres Glas Chianti ein und kommt um die Theke herum, setzt sich neben seinen Gast.
Sie trinkt vorsichtig, hebt den Daumen, haucht ihm ein „Perfekt!“ zu. „Genau mein Geschmack.“
Er ist zufrieden, sehr zufrieden sogar. Schweigend sitzen sie nebeneinander, dann aber fragt sie:
„Magst du mir nicht etwas erzählen? Egal was, irgendwas, ich finde es jetzt nur schön, einfach deine Stimme zu hören, ihr zu lauschen und ein wenig wegzuträumen. Du hast eine wunderbare Stimme. So wie ich sie mag. Sie erreicht mich. Bitte erzähle mir etwas. Wie kamst du zu der Bar?“
Ihr unverhohlenes Kompliment erfreut ihn, denn solch klare Worte hört man selten. Er überlegt kurz, nimmt noch einen Schluck Rotwein, dann räuspert er sich und beginnt zu erzählen.
„Unweit, im Stadtteil Eimsbüttel, in der Nähe des U-Bahnhofes Christuskirche, bin ich aufgewachsen. Und so komisch es auch klingen mag, seit ich Karten lesen konnte, orientierte ich mich an den Bahnhöfen des Nahverkehrsnetzes. Schon mit 10 Jahren kannte ich sie auswendig. Alle Streckennetze mit ihren Linien, Umsteigemöglichkeiten und eben auch den Bahnhöfen. Hamburg besitzt wunderschöne Bahnhöfe. Alte Bahnhöfe. Jedes Mal aufs Neue überkommt mich die Großartigkeit der alten Architektur und der Genialität des öffentlichen Nahverkehrssystems. Und das ist bis heute so geblieben.“
Er legt eine Pause ein, sieht die Zuhörerin fragend an. Statt einer Antwort zieht sie seinen Kopf zu sich heran, berührt mit den Lippen seinen Mund. Doch anstatt einen kleinen Kuss schenkt sie ihm einen langen Zungenkuss. Nicht nur Sympathie schwingt in ihm mit, sondern auch Begehren.
„Bitte“, sagt sie kurz darauf, etwas außer Atem, „erzähl weiter, ich bin inzwischen richtiggehend gierig nach deiner markanten Stimme. Erzähl mir von Hamburger U-Bahnhöfen.“ Sie lacht. „Das ist total verrückt und einfach einzigarrrrrrtig.“
„Kaiser Wilhelm liebte den Dammtorbahnhof“, fährt er angetan von ihrer Zuneigung fort, „und ohne dem alten Holland-Emigranten zu nahe treten zu wollen, empfinde auch ich dieselbe Faszination. Aber nicht nur für Dammtor, sondern auch für viele andere Bahnhöfe. Altona ebenso wie Kellinghusenstraße oder Barmbek. Das Besondere aber ist, dass seit ich denken kann, sich die Fahrpläne und Ankunftszeiten der Züge so gut wie nie geändert haben. An der Christuskirche fährt die rote Linie der U2 immer auf 8, alle zehn Minuten in Richtung Innenstadt. Über Schlump, Messehallen, Gänsemarkt … während da vorne am Klosterstern die blaue Linie der U1 Station macht. Eimsbüttel hatte im Krieg einiges an Totalschäden hinnehmen müssen, während hier in Harvesterhude die Leute deutlich mehr Glück gehabt hatten. So auch die U-Bahnhöfe in beiden Stadteilen. Wo bis heute am Klosterstern die U1 in Richtung Hauptbahnhof auf 7 fährt, ist der Bahnhof nicht im Krieg zerstört worden, und Christuskirche wurde erst lange nach dem Wiederaufbau eingerichtet, als Eimsbüttel fast ausschließlich aus Neubauten aus den Trümmern entstand.“
Der Barmann unterbricht und schmunzelt. Hamburg und seine U- und S-Bahn. Er liebt dieses Thema. „Lange musste ich warten, bis ich endlich das eine Lokal, das, wie du ja weißt, am Ende der Straße auf den Klosterstern mündet, übernehmen und umbauen konnte. Cocktailbars waren Mitte der 80er Jahre noch weitestgehend unbekannt, noch trauten sich nicht wirklich viele Gastronomen an die Spirituosenvielfalt und ihre Möglichkeiten heran. Wie auch? Kaum jemand verstand die Kunst des Mixens. Ich aber schon. Geschult war ich durch meine lange Fahrenszeit auf See, hatte in die Bars der Grand Hotels hinein geschnuppert und insbesondere in der Karibik, auf Puerto Rico, Kuba und Martinique, gar köstliche Erfahrungen mit den hierzulande noch unbekannten Geschmacksexplosionen von Kokosnuss, Ananas und gutem Rum machen können. War in Deutschland der wirklich schlechte und kaum zu genießende Rum-Verschnitt noch hoch im Kurs in den Kneipen und Nachtbars, allenthalben Heavy-Duty-Jamaica-Rum, wurde eben jener ausschließlich für Grog, Punsch oder Tee mit Rum genossen. Kein Wunder, dass für einen Großteil der deutschen Bevölkerung der Rum dieser Qualität sehr schnell für eine gewisse Übellaunigkeit sorgte und das Trinkvergnügen ruinierte. Der Longdrink Cola-Rum trug kräftig dazu bei, dass manche Partygesellschaft schnell die Segel strich. Das änderte sich erst, als viel Jahre später Bacardi den Light White Rum auf den Markt brachte und mit seinem „Bacardi Feeling" den Weltmarkt eroberte.“
Er legt eine weitere Pause ein, nur dass er es jetzt ist, der sie küsst.
„Langweile ich dich auch wirklich nicht, Verehrteste?“
„Nein, ganz und gar nicht. Bitte erzähle weiter, ist spannend. Was für eine Geschichte. Wusste ich gar nicht, dass das mit dem Rum so war. Doch jetzt, wo du es sagst … Ich kann mich auch noch gut an die Zeit erinnern, in der es weder Kokossirup noch Ananassaft gab. Die Bacardi-Insel kenne ich übrigens. Das Video entstand an einem Strand der Demokratischen Republik. Isla Cayo Levantado in Samana.“
„Ja, das stimmt. Super!", nickt er begeistert. „Es freut mich, dass dir meine Geschichte gefällt. Also … auf einer meiner Reisen nach Übersee hatte ich schnell entdeckt, welch hohes Potenzial sich in den Fancy Cocktails verbarg. Pina Colada war DIE Sensation für mich! Und so brachte ich ihn mit, mit nach Hamburg, den Pina Colada. Und mit ihm eine Kiste besten Rum aus Venezuela, eine Kiste Kokossirup, sowie eine Kiste ungesüßten Ananassaft, beides in Dosen aus Puerto Rico. Mit dabei die Adressen der Hersteller. Ich wollte fortan direkt importieren. Und so kam es, dass meine Bar vom ersten Tag an gut lief. Es gab zwar schon im „Hotel Atlantik“ und anderswo Cocktails, aber waren es allesamt Classic Cocktails. Manhattan, Martini Cocktail, Bloody Mary, Black Russian, Negroni, Americano, Srewdriver, Harvey Wallbanger, New Yorker, Whiskey Sour, Gin Fizz, Tom Collins, Moskow Mule und Consorten. Ich habe eine Extraseite in meiner Cocktailkarte für all die alten Classics. Tolle Drinks, allemal, das auf jeden Fall. Doch der Pina Colada schlug ein wie eine Bombe. Etwas Ähnliches erlebte ich ein zweites Mal, viele Jahre später, als ich den brasilianischen Caipirinha auf den Markt brachte.“
„Und später wahrscheinlich mit dem Mojito auch noch mal“, nickt sie vergnügt und mit roten Wangen. Sie hat zwischenzeitlich ihren Drink ausgetrunken, leckt nun mit der Zunge lasziv den verbliebenen Zuckerrand ab, sieht ihm tief in die Augen. „Gehen wir jetzt nach oben? Ich bin wahnsinnig scharf auf dich, mein hinreißender Geschichtenerzähler.“
„Und ich auf dich, meine brillante Chansonnette. Komm … !“
© Walhorn, Juli 2017
ENDE