Hi @ll !
Aus meiner psychoanalytischen Sicht heißt Assexualität das nachhaltige Ausbleiben jedweder sexueller Betätigung - auch der Autoerotik, die für die Psychoanalyse zur Sexualität dazugehört. Dieses Ausbleiben jedweder Sexualität ist auch m.E. pathologisch und behandlungsbedürftig.
Warum ?
Der primäre Zweck der Sexualität ist für die Psychoanalyse die "Abfuhr von Libido", wie Freud es nennt. (Die sekundären Sexualfunktionen wie "Ausdruck der Liebe", Fortpflanzung usw. auf der sozialen und biologischen Ebene lasse ich hier bewußt aussen vor.) Libido ist eben nicht nur ein vornehmer Ausdruck für Geilheit, sondern bezeichnet im Begriffsystem der Psychoanalyse auch Energiepotential. Normalerweise wird dieses Energiepotential in der "Libidoökonomie" einerseits gespeist, andererseits auch an unterschiedlichen Stellen "abgeführt". Diese Stellen nennt man "Objekte". Das können andere Menschen sein, Menschengruppen bis hin zur gesamten Menschheit, Tiere und Pflanzen, Dinge wie Häuser, Fahr- und Flugzeuge, Abstrakta wie Ideologien und Religionen, Betätigungen vom "höheren Beruf" über Hobbys bis hin zu banalen Spielen, für die man "Leidenschaft" empfindet. Nur ein relativ geringer Teil von Libidio wird normalerweise beim "Kulturmenschen" in der Sexualität abgeführt - die anderen Anteile verteilen sich auf die "parasexuellen Reize" (wie ich das nenne) von körperlicher und geistiger Anstrengung, starken Temperaturreizen und schneller Bewegung. Noch viel bedeutsamer sind aber meistens die "Sublimationen" der Libido, dh Hebungen auf ein höheres Kulturniveau, wie eben ein leidenschaftlich ausgeübter Beruf, ein Hobby, an dem das Herz hängt. Die inbrünstige Liebe zu Gott, die ein Gläubiger empfinden kann, ist psychoanalytisch gesehen: sublimierte, ursprünglich sexuelle Libido. Hinzu kommt noch ein Zusammenhang zwischen Libido und Aggression - Energieanteile können zwischen diesen beiden Systemen verschoben werden. Das will ich aber hier nicht weiter ausführen, um die Darstellung nicht noch länger zu machen.
In dieser Libidoökonomie, die bei jedem Menschen individuell ausgestaltet ist, und sich auch im Laufe des Lebens verändert, kommt der Sexualität die Aufgabe zu, den stets in unterschiedlichem Maße anfallenden Überschuß an Libido, die in diesem System nicht abgeführt werden kann, zu "entsorgen". Sie hat also die Funktion eines Überdruckventils oder der Kühlung eines Verbrennungsmotors. Bei diesem letzteren Bild möchte ich verbleiben: Wenn beim Auto die Motorkühlung ausfällt, dann muß man nicht unbedingt sofort anhalten - geschickte Automobilisten schaffen es, noch eine mitunter beträchtlich weite Strecke zu fahren, je nach den aktuellen Bedingungen von Verkehr, Landschaft und Aussentemperatur, so daß sie eine Werkstatt noch aus eigener Kraft erreichen können. Gelingt dies aber nicht, und der Motor überhitzt stark, kommt es zu schwerwiegendem Schaden.
Dieser Schaden entsteht nun bei einer Libidoökonomie, deren "Überdruckventil" ausser Funktion gesetzt ist, dadurch, daß dieser Überschuß an Libido, man spricht von "freier Libido", die nicht nur "Objektbesetzungen" gebunden ist, sich immer weiter aufstaut und irgendwann, da der "Hauptkanal der Sexualität" verlegt ist, sich in "pathogene Kollateralkanäle" ergießt und auf diese Weise Symptome psychischer und psychosomatischer Erkrankungen erzeugt, wie Freud in den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" so plastisch dargestellt hat.
Das bedeutet: ein nachhaltig assexueller Mensch kann unter Umständen eine gewisse Zeit, sicherlich in einigen Fällen mehrere Jahre lang, in seltenen Fällen vielleicht sogar Lebenslang ohne dieses "Überdruckventil" der Sexualität auskommen - aber in den allermeisten Fällen wird sich die "freie Libido" alsbald in "pathogene Kollateralkanäle" ergießen und Schaden stiften.
Deswegen habe ich für Initiativen und Gruppen von Asexuellen, die sich gegen ihre Pathologisierung wehren wollen, Antidiskriminierungsschutz begehren mit dem Ziel, mit ihrer Assexualität "anerkannt" und in Ruhe gelassen zu werden, wie auch für die Translesbischwulen Politruks, die diese Verstärkung ihrer Hilfstruppen gerne willkommen heißen wollen, nicht das geringste Verständnis. Denn diese Initiativen verstellen geradezu den Weg in die Krankheitseinsicht, die für die Aufnahme einer entsprechenden Therapie nötig ist - und das wird, wenn körperliche Ursachen ausgeschlossen sind, idR eine sexualwissenschaftlich fundierte Psychotherapie sein.
Wer sich in seiner Assexualität "behaglich einrichten" will, lebt mit dem verdammt hohen Risiko, in kürzerer oder längerer Zeit ernsthaft zu erkranken - psychosomatisch oder an einer massiven psychischen Störung.
Es gibt m.E. nur eine einzige Lebenssituation, in der Assexualität als normal bezeichnet werden könnte, nämlich im allerletzten Lebensabschnitt, der senilen Phase, die dem Tod vorangeht. In dieser Phase scheint auch die Libido bei vielen, aber durchaus nicht allen Menschen zu versiegen.
Das sind harte Worte - aber ich wüsste nicht, wie ich es lieblicher sagen könnte.
LG
Niki