Beobachten ohne zu bewerten
Seit einigen Jahren begleitet mich der Satz von Marshall B. Rosenberg: „90% unseres psychischen Leides sind Interpretation.“
Wie wichtig es ist, die Beobachtung von unserer Bewertung, unserer Interpretation zu trennen, macht das folgende Gedicht deutlich, dass ich gern mit Euch teilen möchte.
Ich habe noch nie einen faulen Mann gesehen;
ich habe schon mal einen Mann gesehen,
der niemals rannte, während ich ihm zusah,
und ich habe schon mal einen Mann gesehen,
der zwischen Mittag- und Abendessen manchmal schlief
und der vielleicht mal zu Hause blieb an einem Regentag,
aber er war kein fauler Mann.
Bevor du sagst, ich wär‘ verrückt,
denk‘ mal nach, war er ein fauler Mann, oder hat er nur
Dinge getan, die wir als „faul “ abstempeln?
Ich habe noch nie ein dummes Kind gesehen;
ich habe schon mal ein Kind gesehen, das hin und wieder
etwas gemacht hat, was ich nicht verstand,
oder etwas anders gemacht hat, als ich geplant hatte;
ich habe schon mal ein Kind gesehen,
das nicht dieselben Orte kannte wie ich,
aber das war kein dummes Kind
Bevor du sagst, es wäre dumm,
denk' mal nach, war es ein dummes Kind, oder hat es einfach nur
andere Sachen gekannt als du?
Ich habe mich so intensiv wie nur möglich umgesehen,
habe aber nirgendwo eine Zicke entdecken können.
Ich habe eine Frau gesehen, die sich mit ihrem sauberen
Rock nicht auf die nasse Parkbank setzten wollte.
Ich habe auch zwei junge Mädchen gesehen,
die sich mit hoher Stimme über ihre neuen Handtaschen unterhielten.
Das alles habe ich gesehen, aber keine Zicke.
Sag' mir, wenn du hinschaust,
ist das ein Zicke, die du siehst, oder siehst du jemanden Dinge tun,
die wir zickig nennen?
Was die einen faul nennen, nennen die anderen müde oder gelassen,
was die einen dumm nennen,
ist für die anderen einfach ein anderes Wissen.
Ich hin also zu dem Schluss gekommen, "
dass es uns allen viel Wirrwarr erspart,
wenn wir das, was wir sehen,
nicht mit unserer Meinung darüber vermischen.
Damit es dir nicht passiert, möchte ich noch sagen:
Ich weiß, was ich hier sage, ist nur meine Meinung.
Vielleicht mag der ein oder andere das Gedicht zum Anlass nehmen Beobachtung und Interpretation im Verlauf des neuen Jahres öfter voneinander zu trennen. Er wird die Erfahrung machen, dass sein Gegenüber weniger Kritik hört und dass auch das eigene psychische Leid, dass durch die Interpretation einer Beobachtung entstehen kann, deutlich abnimmt.
Für das kommende Jahr wünsche ich uns allen, dass vieles von dem in Erfüllung geht, was jedem von uns wichtig ist und dass Beziehungen und Kommunikation so gelingen, dass wir mehr Zufriedenheit und Glück erleben.