Das Luzide an dem Thema: es gewährt eine Perspektive darauf, wie "Sex" funktioniert.
Die traditionelle, christlich geprägte Sexualethik und die konventionelle, den Sprachgebrauch - und damit: die Debatte und unsere Vorstellungen - prägende biologische Humanantropologie gehen insofern völlig konform:
Sex ist die Funktion der Fortpflanzung, ihr Sinn und Zweck: 1 Spermium zu 1 Eizelle zu bringen, die Kombination der genetischen Kodes zu veranlassen, und sodann Wachstum und Entwicklung der nächsten Generation zu befördern.
Dementsprechend gilt als "normaler" oder "gesunder" Sex nur das, was diesem Zwecke zu nützen dienlich ist. Die Diskriminierung von homosexuellen Handlungen ergibt sich hieraus ebenso zwangsläufig, wie die der Masturbation - aber auch zB der Kontrazeption, die die Befruchtung ja gerade verhindern, den "Zweck" vereiteln soll, oder der Prostitution, bei der es ja gerade nicht zum Zeugen von Nachwuchs kommen soll. Nach orthodoxer christlicher Auffassung ist Sex schließlich nur dann keine Sünde, wenn man es zum Zwecke des Kindermachens tut.
Zentrum und Ziel sexuellen Verhaltens dieses tradierten Verständnisses von Sexualität ist die vaginale Insemination, der "Geschlechtsverkehr".
Auch dann, wenn wir die sozialethischen Grundlagen dieser Haltung nicht teilen, und uns zu gänzlich anderen, "liberalen" Vorstellungen "bekennen" - so zeigt doch auch die Terminologie der "offenen Szene" deutlich, wie mächtig die tradierten Vorstellungen trotz aller Lippenbekenntnisse doch sind: "offene" Menschen, die jede Nähe zu sozialkonservativen oder konservativ christlichen Ethiken strickt von sich weisen, sich mitunter große Mühe geben, den Habitus eines "(post)modernen Menschen" anzunehmen, stigmatisieren Teile ihrer gelebten Sexualität als "versaut, verdorben, pervers". Und, wie man mühelos zu jeder Stunde des Tages und der Nacht zB durch einen Blick in die Chatroom-Liste des JC feststellen kann: nur das "versaute", das "perverse" gilt als "richtig geil".
Zumindest im Lichte der Evolutionstheorie und einer hierrauf beruhenden ethologischen statt ethischen Betrachtung kommt man zu einem gänzlich anderen Bild von "Sex":
Unser Sexualverhalten mit all seinen "Perversionen" ist keineswegs von Gott, von "der Natur" (die ja für etliche gottähnliche Bedeutung gewonnen hat), der "Vorsehung" oder dem "Schicksal" und ähnlichen mythischen Mächten - kurz: irgendeinem imaginären Konstrukteur "sinnreich" so eingerichtet worden, wie es die traditionelle Anthropologie glauben macht - es "hat sich einfach so ergeben".
Unsere Verhaltensmuster und Eigenschaften haben wir nicht nur deswegen, weil sie gut oder sinnvoll sind, sondern auch weil sie evolutionär nicht von Nachteil sind - ein evolutionärer Optimierungsdruck nicht besteht. Wenn wir uns als Menschen begreifen wollen, wie wir sind, statt uns partout so sehen wollen, wie wir uns sehen sollen - dann müssen wir uns von Vorstellungen wie gut und schlecht, nützlich oder schädlich trennen, uns mit Nietzsche "jenseits von Gut und Böse" stellen.
Unsere Sexualität besteht ethologisch gesehen aus einem Zustand der "Erregung" - obschon ich diesen Ausdruck für denkbar unpassend halte: "Geilheit" trifft die Sache wohl besser. Dieser Zustand ist, was viele verblüffenderweise nicht zu Kenntnis nehmen, grundsätzlich anders als die Mangelerscheinungen wie Hunger, Durst - kein unangenehmer, sondern ein angenehmer, eben "lustvoller" Zustand.
Die Lust, die ausgelöst wird, ist eine spezifische Lust an Reizverhalten: Anblicke und Berührungen, chemische und mechanische Reize.
Die Reize, die auf unsere Geschlechtsteile (auch so ein Unwort), auf Schwanz und Eier, auf die Möse ausgeübt werden, sind stets dieselben.
Wenn ich mir meinen Schwanz reibe, ist das derselbe Reiz, der auch von einer anderen Hand ausgeübt werden kann, einem Mund, einem anderen Geschlechtsteil oder einem Geschlechtsteilersatzprodukt - die sogen. "toys". Natürlich haben sie alle ihre spezifischen Nuancen - aber die Grundprinzipien sind stets dieselben: Kompression, rhythmisches Reiben - und alle führen sie zum genau gleichem Ergebnis, bei Männern wie Frauen - mutatis mutandis.
Die in meinen Augen krass mißverständliche Vorstellung vom wichsen als "Ersatz-Befriedigung" beruht m.E. auf dem Verkennen dieser Umstände - aufgrund der bewußten oder unbewußten Verhaftung in tradierten und orthodoxen Vorstellungen von Sexualität.
Die Diskriminierung von wichsen und "Wichsern" ist in meinen Augen nichts anderes, als die Diskriminierung von homosexuellen Praktiken, Analen Praktiken, SM usw - aus der überheblichen Sicht einer orthodoxen Vorstellun von dem, was "normaler" und "richtiger" Sex sei.