LebensWert
Dein Tod macht mich immer noch betroffen. Es ist schon Jahre her, aber vergessen kann ich Dich nicht. Die Spastik an Deinem linken Arm gab Dir etwas unnachahmlich damenhaftes. Um Deine Behinderung hast Du Dich ebenso wenig geschert wie um Deine Mitbewohner. Beinahe stolz hast Du Deine Defizite nach Außen getragen und damit jedem blöden Kommentar den Wind aus den Segeln genommen.
„Zum Teufel mit der Inklusion! Ich inkludiere mich selber. Ihr machts des eh net g´scheit.“
Nur die Betreuer, die es angeblich so gut meinten und Dich in ein Kostüm zwängen wollten, ja denen konntest Du oft nichts entgegen setzen. Du seist „schwierig“, sagte man mir an meinem ersten Arbeitstag.
Ach was. Wir waren ein Dreamteam.
Du konntest mit meinem Humor und ich habe Dich, mit unendlich vielen Buntstiften versorgt damit Du kilometerlange Papierbahnen mit Blümchen zeichnen konntest.
Ich bin Dir nicht von der Seite gewichen als Du am Boden lagst und gezittert hast wie Espenlaub. In der Notaufnahme warteten wir stundenlang und sangen „Skandal um Rosi“ gegen Deine Angst.
Die Angst wieder zurück ins Heim zu müssen, denn auf Station war es viel schöner. Schöne Ärzte, hübsche Krankenschwestern – ich weiß. Du warst, wie ich – um keinen Flirt verlegen.
Eine Frau mittleren Alters in einem Heim ohne Zärtlichkeit, geschweige denn Sex.
Wenn es nach den pädagogischen Kollegen ging, solltest Du in der Lage sein Dich selber zu waschen und selber einzucremen. Ich habe es für Dich übernommen, denn ich wusste genau – ein Mensch braucht Berührung. Es muss nicht gleich Erotik sein. Aber Berührung. Wenigstens das und wenn es nur der verdammte Waschlappen auf dem Rücken ist, der seine Bahnen zieht.
Dann kam der Krebs. Er fraß Dich und Deine Lebensgeister auf.
Alles versagte nach und nach und niemand, auch nicht Deine Schwester, kam, um nach Dir zu sehen.
Ich sah immer nach Dir, wann es mir möglich war.
An diesem einen Tag kam ich zu Dir ans Bett. Dein Atem war schwer. Ich legte mich zu Dir und flüsterte Dir ins Ohr: „Wenn Du magst, kannst Du jetzt einschlafen. Wenn nicht, dann sehen wir uns morgen wieder. Hab keine Angst.“
Du bist eingeschlafen, für immer.
Der Zufall wollte es, dass ich Dich auf Deinen letzten Weg aus dem Heim begleitete. Ich lief hinter den zwei jungen Herren im Anzug, als sie Dich auf der Bahre zum Aufzug schoben. Es war, als würdest Du neben mir gehen: mit Deinem gesunden Arm hast Du Dich bei mir eingehängt und ich sah genau Deinen Geist. „Mei. Die schönen Männer, Spotzal, schau wie i schau.“