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Gegen die Fahrtrichtung

****na Frau
1.228 Beiträge
Themenersteller 
Gegen die Fahrtrichtung
.
Manchen Menschen wird schlecht, wenn sie nicht sehen, was auf sie zukommt. Mir wird nur in Fahrtrichtung übel, schon seit Kindertagen.

Im Sommer 1969 erbrach ich in einem VW-Käfer den eben verspeisten Kinderteller auf den jungen Hund, der in meinem Schoß lag und dem die Fahrerei auch nicht bekam, weswegen er im selben Moment sein Essen auf mein bereits besudeltes Kleid würgte, bevor der Fahrer des Wagens einen Parkplatz ansteuern konnte. Ich weiß nicht, was meinem Hund durch den Kopf ging, ich dachte nur an das Soft-Eis, das uns die Dame, die auf dem Beifahrersitz saß, heute sicher nicht mehr spendieren würde.
Den Namen des Sees, in den man den Hund und mich tauchte, habe ich vergessen, nicht aber, dass die Tante „einen Bedarf“ an neuen Unterhosen für „das Kind“ feststellte. Unterhosen waren mir damals wumpe. Neue zu bekommen, bedeutete, unter Aufsicht der Nähschwester meine Initialen auf der Innenseite einsticken zu müssen. Würde ich endlich adoptiert werden, müsste ich nie wieder sticken, aber nach dieser Ausfahrt war klar, der Hund und ich bleiben im Waisenhaus.
„Klärchen“, fragte die Küchenschwester am Abend, „wie war dein Ausflug?“
„Nicht schön! Mir wurde schlecht. Und Hund auch. Dann haben wir gekotzt. Die Tante hat zum Onkel gesagt: 'Wir fahren sofort zurück!' Es gab kein Eis.“
Die Küchenschwester mochte mich gern und war stets in Sorge, ich könnte verhungern. Oft klagte sie, dass egal, was man mir in den Mund steckte, es mich weder in die Höhe noch in die Breite wachsen ließ. Sie verdächtigte mich einer Wachstumsverweigerungshaltung und hatte Recht. Großsein war bestimmt noch schwieriger als Kleinsein.

An dem Tag, als die Sechsjährigen zur Einschulungsuntersuchung gingen, wurde ich nicht zum Schularzt mitgenommen. Dabei wollte ich unbedingt in die Schule gehen, weil es dort richtigen Kakao gab, nicht die wässrige Brühe, die uns die Nonnen als heiße Schokolade andrehten.
„Will auch zum Schuldoktor“, weinte ich in die Schürze der Pfortenschwester, sie aber meinte, meine Arme seien zu kurz. "Zum Gehen brauche ich die nicht", entgegnete ich. „Nein, zum Gehen brauchst sie nicht, aber für die Schule.“ Ich verstand nicht, bis sie erklärte, ich dürfe erst in die Schule, wenn ich mit der rechten Hand über den Kopf zum linken Ohr hinüberlangen könne. Mit deutlicher Schieflage des Kopfes schaffte ich es, aber die Kindergartenschwester meinte, das zähle nicht, ich müsse den Kopf geradehalten. Ich fand diese Ohrengeschichte voll gemein.

Ich sitze gern entgegen der Fahrtrichtung und schaue mir die vorbeisausende Landschaft von hinten an. Was auf mich zukommt, erfahre ich im Zug über die Lautsprecheransage. Glaubt man dem Servicepersonal, erreicht man einen Bahnhof stets „in Kürze“. Damals sagte keiner: „In Kürze erreichst du mit deiner rechten Hand dein linkes Ohr.“ Sie meinten, ich müsse ein Jahr warten. Dann vielleicht. Lange Zeit dachte ich, sie erlauben sich einen Spaß mit mir. Jeder, der eingeschult und Besitzer eines Lederranzens geworden war, musste beweisen, dass er mit der Hand ans Ohr kam. Bei ein paar Kindern war es knapp, „aber Fingerspitzen“, meinten sie, „reicht“.

Die Schule liegt hinter mir, Stuttgart hinter meinen Mitreisenden und vor ihnen Frankfurt. 1986 geriet ich dort in einen Banküberfall. Überfälle auf Banken sind selten in Frankfurt, auch wenn man die Häufigkeit der Ereignisse ins korrekte Verhältnis zu den vielen Filialen setzt. Ich weiß das so genau, weil ich 1983 Stochastik als Prüfungsschwerpunkt für das Mathe-Abi wählte. Mittels Stochastik lässt sich präzise berechnen, wie viele Kinder sich auf die Kommastelle genau ein ganzes Jahr langweilen müssen, weil man sie wegen eines banalen Arm-Ohr-Reichweite-Verhältnisses nicht eingeschult hat.

Ich stand gerade am Schreibtisch des Filialleiters, als mehrere Kunden plötzlich laut schrien. Vier maskierte Männer waren die Treppe nach oben gestürmt und brüllten in der Marmorhalle Unverständliches. Sie gestikulierten ausufernd mit ihren mitgebrachten Maschinengewehren. Leider war die Akustik des Schalterraums wegen des Marmors derart schlecht, dass man keine dreistellige Kontonummer verstand, selbst wenn sie einem der Kollege deutlich ansagte. Das konnten die Räuber nicht wissen. Da nichts Planvolles geschah und keine Ruhe eintrat, brüllten sie weiter, bis einer von ihnen endlich einen Schuss abfeuerte. Ich war nicht die Einzige, die die Stille nach dem Schuss sehr genoss.
Einer der Maskierten kam auf mich zu und meinte, er wolle sich den Kassenraum ansehen. Wie im Film, dachte ich, als ich eine große Nylontasche in die Hand gedrückt und einen Stups mit dem Gewehr bekam. Dass mich der Räuber trotz meiner kleinen Statur und meines kindlichen Aussehens für eine Angestellte mit Zugang zum Kassenraum hielt, machte ihn mir sympathisch. Gemessenen Schrittes und mit majestätisch geradem Rücken schritt ich vor den Augen der Kollegen und Kunden mit ihm durch die Halle bis zur Tür, die zum Kassenraum führte.
Während ich den Beutel mit zwei Millionen markierten Scheinen vollmachte, fragte mich der Maskierte nach Namen und Alter. Dann meinte er: „Bist ziemlich klein, Klara“, was ich mit: „Gemessen am Mittel einer Pygmäen-Population, bin ich die Größte!“, parierte. „Gut, dann nehmen wir dich mit“, beschloss er.
Wie alle Waisenkinder habe auch ich jahrelang auf diesen Satz gewartet. Sofort kippte ich die Tasche wieder aus und packte anstelle der markierten die unmarkierten Scheine ein.

Im Fluchtauto musste ich hinten einsteigen. Kaum waren die Türen zugeschlagen, startete der Fahrer mit quietschenden Reifen. Schon nach der ersten Kurve war mir speiübel. Ich löste den Sicherheitsgurt und kniete mich gegen die Fahrtrichtung auf den Sitz der Rückbank. Der Gangster neben mir packte mich grob und riss mich herum.
„Ich muss kotzen, wenn ich in Fahrtrichtung sitze!“
„Lass sie“, meinte der Adoptionsräuber. Ich drehte mich wieder um und begann, den Abstand der Polizeiwagen durchzugeben.
„Gas, gib Gas!“, brüllte ich, weil uns das erste Bullenauto fast erreicht hatte. Für den Polizisten, der den Wagen steuerte, muss ich wie Jackie Kennedy ausgesehen haben, die versucht, nach hinten aus einem Wagen mit geschlossenem Verdeck zu flüchten.
Bis Wiesbaden lief es gut, wenn man davon absieht, dass über uns Hubschrauber kreisten und wir von etwa der gleichen Anzahl Polizeiwagen verfolgt wurden wie die Blues Brothers. Wir waren nicht im Auftrag des Herrn unterwegs, wenngleich uns die Betschwestern im Heim immer erzählt hatten, Waisenkinder stünden lebenslang unter Seiner besonderen Obhut. Dann war der Tank leer.
Sie erschossen alle Bankräuber, angeblich, um die Geißel zu retten. Man habe den Wagen stürmen müssen, weil ich mit einer Schusswaffe bedroht worden sei.
„Alles nicht wahr“, habe ich vor Gericht ausgesagt, aber man glaubte mir nicht mehr, nachdem man die Aufzeichnungen aus dem Kassenraum gesichtet hatte.

„Sehr verehrte Fahrgäste, in Kürze erreichen wir Frankfurt. Dort hatten Sie Anschluss...“
.

© Ozeana (2007)
*********enTe Frau
1.424 Beiträge
Die Nummer mit dem Ohr kenne ich nur zu gut *lach*
Adoptionsräuber… auch sehr schön. Deine warme Geschichte geht ins Herz.

Vielen Dank für diesen feinen Humor!
********lara Frau
5.946 Beiträge
Wunderschöne Geschichte! Danke sehr, schlaues Mädchen!
*******ant Frau
27.396 Beiträge
Ich liebe diese Mischung aus trocken, skurril
und melancholisch (in meiner Wahrnehmung).
In meinem ersten Kindergarten gab es nur eine Nonne, die mir wohl gesonnen war.
Über das Ding mit meiner
Hand- Ohr- Reichweite haben später andere entschieden. Wir haben das damals alle heimlich "geübt", *lach*.
*******nic Mann
388 Beiträge
Wie gellend stumme Hilfeschreie in den Ohren hallen können.
Humor als Schafspelz für Sarkasmus ist die sozialverträgliche Igelhaut derjenigen, die das Glück haben, auf die ihnen zugefügten Schäden nicht mit Selbstverletzung oder einem finalen Sprung zu antworten.

Deine Geschichte macht mich betroffen und traurig.
Mit einem sprachlichen Sog, dem ich mich entziehen will.
Und dann wieder nicht.

Thomas
*********enTe Frau
1.424 Beiträge
@*******nic

Sicherlich kommt es immer auch auf das eigene Befinden, aber auch werter Thomas, auf den Blick auf und das Wohlwollen für die Person an, die da vermeintlich oder tatsächlich
Zitat von *******nic:
gellend stumme Hilfeschreie
aussendet, wie etwas wahrgenommen wird und dann traurig macht.

Die Kenntnis über Elemente, die der tatsächlichen Biografie entsprechen, hilft natürlich etwaige Hilfeschreie wahrzunehmen, so man denn will.
Hier nimmst du sie wahr, das finde ich sehr interessant. Ich hätte hier humoristische Resilienz wahrgenommen, allerdings bin ich von hauptsächlicher Fiktion ausgegangen.
*******nic Mann
388 Beiträge
@*********en_Te:
Ich lese ausschließlich den Text, nicht die Biografie.
So groß ist die dauerhaft unerfüllte Sehnsucht nach Geliebtwerden, daß die Protagonistin sogar den "regulären" Platz in der Gesellschaft abwählt und im Fluchtauto bleiben will: „Gas, gib Gas!“
Und nur in Frankfurt hätte es Anschluß an diese Sehnsucht gegeben.
*********enTe Frau
1.424 Beiträge
Autsch, du hast Recht. So habe ich es nicht gesehen…
*******ant Frau
27.396 Beiträge
Gegen die Fahrtrichtung ist der Blick rückwärtsgewandt.
Ein mir sehr bekanntes Lebensgefühl, unterbrochen von kurzen, angekommenen, "zutraulichen" Phasen.
*******ant Frau
27.396 Beiträge
Zitat von *******nic:

Humor als Schafspelz für Sarkasmus ist die sozialverträgliche Igelhaut derjenigen, die das Glück haben, auf die ihnen zugefügten Schäden nicht mit Selbstverletzung oder einem finalen Sprung zu antworten.

Wann immer ich zaghafte Versuche gemacht habe oder es geschafft hatte, mich wegen Depressionen in Behandlung zu begeben... Bei jedem Vorgespräch wurde mir quasi vorgeworfen, dass ich (noch) lachen kann. Über mich selbst.
Das wurde immer (!) als Selbstverletzendes Verhalten ausgelegt.
Masterfrage:
Warum eigentlich?
*nachdenk*

Selbstironie ist etwas, was mir ab einem bestimmten Alter immer zu eigen war,
und das ist auch gut so.
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