„Wie weit versucht ihr, zu antizipieren, was euer Gegenüber braucht?
Ich bin seit Jahren dabei, mir abzugewöhnen, zu viel zu antizipieren. Vor allem in der Kommunikation. Das tut niemanden gut.
„Diese Bewusstheit entspannt ungemein. Projektion und Interpretation bringen mich einfach nicht weiter. Mir darf allerdings auch klar sein, dass selbst bei vertrauter Kommunikation nicht jeder Wunsch und jedes Bedürfnis meinerseits von meinem Gegenüber erfüllt werden muss. Denn das würde die Autonomie und Wahlfreiheit meines Gegenübers einschränken. Und wie frei würde ich mich wohl umgekehrt fühlen?
Wohl wahr. Gut gemeint ist oftmals schlecht.
Mit "Schau, ich habe für dich mitgedacht und bereits die Lösung parat.", kann man richtig liegen.
Man kann aber auch völlig daneben liegen.
Und obwohl man die Wahlfreiheit des Gegenübers eigentlich gar nicht einschränken wollte, so fühlt sich das für das Gegenüber in dem Moment so an. Es ist unmöglich, dort ohne ein "Nein, da hast du falsch gedacht.", heraus zu kommen. Und das hören die Menschen im Allgemeinen nicht so gerne. Gleichgültig wie man es formuliert.
Und sicherlich ist auch das eine Antizipation des potentiellen Verhaltens des oftmals noch unbekannten Gegenübers. Gespeist aus etlichen Erfahrungen mit anderen Menschen. Nicht mit der betreffenden Person.
An der Stelle mal eine kleine Annekdote aus einem anderen Bereich.
Eigentlich völlig harmlos: Wann legen wir die Coaching-Termine?
Ich bin zur Zeit Teilnehmerin in einem Bildungsinstitut mit integriertem Coaching.
Habe an manchen Wochentagen mehr, an anderen weniger Kurse und an manchen gar keinen.
Obendrein habe ich einen Coach und die Coaching-Termine sind je nach Vereinbarung.
Zum Vorgespräch bekam ich eine schriftliche Einladung. Da hatte ich zu erscheinen. OK.
Die erste Termin-Vereinbarung lief dann so ab:
Der Coach machte mir einen Vorschlag. Die Stunde vor einem meiner Kurse. Aus meiner Sicht nicht optimal. Aber ich stimmte zu und trug den Termin in meinem Kalender ein. Da liefert mein Coach den Satz nach: "Das ist optimal, da sie ja direkt danach zu ihrem Kursus gehen können."
An der Stelle war ich zu perplex, um überhaupt noch etwas zu erwidern.
Die zweite Termin-Vereinbarung:
Der Coach machte mir einen Vorschlag. Wieder direkt vor einem meiner Kurse. Diesmal direkt mit dem Nebensatz: "Das ist optimal, da Sie direkt im Anschluss zu ihrem Kursus können."
Ich: "Das ist nett von ihnen gemeint. Doch ginge es auch ein wenig früher? Dann wäre es nicht so dicht gepackt." - Nein. Ging nicht. Also nahm ich diesen Termin.
Die dritte Termin-Vereinbarung:
Der Coach machte mir einen Vorschlag. Wieder direkt vor einem meiner Kurse. Und wieder mit dem Nebensatz: "Das ist optimal, da Sie direkt im Anschluss zu ihrem Kursus können."
Ich: "Das ist nett von ihnen gemeint. Doch ginge es nicht auch an einem anderen Tag?" - Nein. Dienstag wäre er bereits voll und den Rest dieser Woche nicht im Haus. Also nahm ich diesen Termin.
Die vierte Termin-Vereinbarung:
Der Coach machte mir einen Vorschlag. Wieder direkt vor einem meiner Kurse. Wieder mit dem Nebensatz: "Das ist optimal, da Sie direkt im Anschluss zu ihrem Kursus können."
Ich: "Nein. Für mich ist das suboptimal."
Er:
(Da fiel ihm die Kinnlade runter.)
"Warum? Dann müssen Sie doch nicht extra anreisen."
Ich: "Das wäre für mich weniger stressig. Ich mag den Erfahrungsaustausch mit anderen Kursteilnehmern vor dem Kurs. So pi Mal Daumen 30 Minuten vorher fangen die ersten an einzutrudeln. Je nachdem woher sie anreisen. Ich würde lieber an einem ansonsten freien Tag extra anreisen als vom Coaching direkt in den Kursus zu hetzen. Dann hätte ich auch mehr Muße, über das, was im Coaching besprochen wurde, nachzudenken und könnte mich besser auf den Kursus konzentrieren."
Er: "Ah. Verstehe. Aber früher habe ich keinen Termin frei. Und danach die Woche..." - Also nahm ich den Termin.
Immerhin realisiert er so langsam, dass ich in Punkto Terminplanung ganz anders ticke als er sich gedacht oder gewünscht hat.
Im Coaching, Massagen, Training, Physiotherapie etc.pp. selbst tritt sowas selten auf.
Da fragt das Helferlein nach, ob dies oder jenes "mir gut tut" oder stellt offene Fragen.
Aber ich habe mit Helferlein schon sehr oft erlebt, dass bei dem organisatorischen Drum-Herum
angeblich für mich entschieden wird. Also mit entsprechender Erklärung. Dann steht da die Erwartung im Raum, dass ich bestätige, dass das so auch für mich optimal sei.
Ohne das, wäre es ja halb so wild. Also wenn das Helferlein dazu stünde: "So sieht meine Organisation aus. Pass dich bitte an."
Aber nein. Ich soll bestätigen, dass das für mich optimal oder besser sei. Und wenn nicht wird's schwierig.
Mit Heuchelei kommt man im Leben oftmals weiter. Ist leider so.
Und wenn meine Einschätzung meines neuen Coaches eine andere wäre, hätte ich ihm auch die Heuchelei - zwecks positiver Bestätigung seiner Vorgehensweise - geliefert.
Ob ich mit dieser Einschätzung richtig liege, wird aber auch erst die Zeit zeigen.
Manche der anderen Teilnehmer, die bei ihm im Coaching sind, finden seine Termine direkt vor einem Kurs auch doof. Haben sich aber noch nicht getraut, etwas gegen sein "Das ist
für SIE optimal."- Mantra zu sagen.
Die warten jetzt ab, wie das bei mir läuft...