Die Mutter im Sudan
Wir sind am Ende.
Das Auseinanderbrechen der Gesellschaften ist die Folge eines Kapitalismus’ ohne menschliches Antlitz im Allgemeinen. Im Besonderen ist es die Folge mangelnder Wahrhaftigkeit, mithin eine Folge der Lüge.
Die Lüge ist ihrerseits ein wesentlicher Aspekt der Sprache; als wir in grauer Vorzeit zu sprechen begannen, war sie als unvermeidbarer Nebeneffekt in die Welt gesetzt. Man musste der Rede des Anderen trauen und konnte sich nicht mehr auf sie verlassen wie auf die unmittelbaren Dinge des Kontinuums der natürlichen Dinge. Sprache ist ein Kunstgriff, und wir sind, seit wir sie haben, keine natürlichen Wesen mehr. Wir sind seither gezwungen, diese künstliche Lebensweise zu renaturalisieren.
Das bedeutet, daß wir Wege zu finden hatten, um die für die Gemeinschaft schädlichen Folgen der Lüge zu mindern. Einer dieser Wege ist die Moral bzw. die Ethik, und er krankt wie alle diese Wege daran, daß er sprachlich, also mit derselben Falltür kodiert ist. Somit ist nicht alles ethisch oder moralisch koscher, was ethisch oder moralisch daherkommt. Es kann eine verlogene Behauptung sein, deren Durchschaubarkeit leider jenen vorbehalten ist, die durchsehen können.
Dieses Durchsehenkönnen ist eine Fähigkeit, die den Gebildeten vorbehalten ist. Den Ungebildeten bleibt das Wissen, daß das Tischtuch zwischen ihnen und den Gebildeten irgendwann zerrissen war, und seither ahnen sie, daß sie über diesen nackten Tisch gezogen werden.
Elite ist immer die Elite der besser Gebildeten, und Ethik ist das Etikett des moralischen Adels der Besseren. Die Aufklärung war auch ein Versuch, die Unmündigkeit der Ungebildeten in deren Freiheit zu verwandeln, und zwar durch Aufklärung, durch Wissen. Denn wer weiß, ist frei. Nicht, um zu tun und zu lassen, was er will, sondern um zu wissen, was er tun soll und zu unterlassen hat (Kant: „Was soll ich tun?“, Hegel: „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit.“).
Nun war der Kapitalismus, der sich spätestens am 11. September 2001 totgesiegt hatte, nicht die beste Interpretation der Freiheit, was er zuvor und hernach täglich dokumentierte. Wir sind jenseits der Aufklärung und diesseits der Verdummung. Das Zeichen der Verdummung ist das Verlachen. Das Lachen etwa der Gebildeten und Halbgebildeten über Dummenwitze spricht Bände. „Im Opernhaus wird Aida aufgeführt.“ „Echt? Wie kriegen die denn das Schiff da rein?“
Wir sind am Ende, weil der Widerstand kein Wider mehr hat, gegen das er stehen könnte. Das politische Kabarett feiert sich selbst, indem es das Erbe von Hildebrandt verbrennt. Das Verbrennen ist das Signum unserer Zeit. Kommende Generationen werden die Hände über den Kopf zusammenschlagen und ausrufen: „Wie konntet ihr nur?“
Wir haben nicht zu verdienen, wir haben zu dienen. Es geht nicht um den Verdienst, es geht um das Verdienst. Am Ende des Lebens bleibt, was der Gemeinschaft bleibt, und der Gemeinschaft bleibt ihr Gewinn oder ihr Verlust der Leistung des Einzelnen. Die Mutter, die im Sudan zusehen muss, wie ihr Kind verhungert und verdurstet, hat uns ihr Schicksal zu verdanken. Wir, die Gewinner des Imperialismus, tragen die Verantwortung für den Tod dieses Kindes. Wir sitzen in einer Sänfte, die von den Verlierern des Imperialismus getragen wird. Im globalen Vergleich sind wir die Elite. Wir, die wir das Geld haben, um Premiumfood für das Haustier zu kaufen. Wir, die wir Zeit haben, >Germanys Next Top Model< oder >The Biggest Loser< zu verfolgen. Wir, die wir für Zigaretten das Zehnfache dessen ausgeben, was die Mutter im Sudan braucht, um ihr Kind zu retten.