Mein Plädoyer für die Liebe
Ich nehme das Wort Plädoyer einmal in seinem ursprünglichen Sinne, als Gegenrede des Verteidigers in einem Strafprozess, um das Gericht von der Unschuld des Angeklagten zu überzeugen. Dabei stelle ich mir vor, die Liebe wäre angeklagt.
Wer mag ihr Ankläger sein? Vielleicht der Hass, unterstützt von den Nebenklägern Neid und Eifersucht. Die drei haben bereits plädiert vor dem hohen Gericht. Sie haben der Liebe von Hochverrat über Körper- und Seelenverletzung bis hin zu Mord alle nur erdenklichen Verfehlungen vorgeworfen.
Das Gericht steht unter dem Vorsitz der Weisheit zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern, Mitgefühl und Vernunft. Es hat bereits Beweis erhoben durch Vernehmung zahlloser Menschen, die alle in irgendeiner Form mit der Liebe zu tun hatten, darunter enttäuschte Ehefrauen, gehörnte Ehemänner, Kleinkrämer, Großmäuler, Spießer und Spießgesellen, aber auch frisch Verliebte, langjährig Verheiratete, schwule und lesbische Menschen und sogar Mehrfachliebende, die zu zwei oder mehreren Partnern gleichzeitig intensive Liebesbeziehungen pflegten und pflegen.
Die Stimmung ist aufgeheizt im Gerichtssaal, nachdem der Hass soeben mit wutverzerrtem Gesicht und beifälligem Nicken von Neid und Eifersucht noch einmal die angeblichen Gräueltaten der Liebe zusammengefasst und deren Tod, zumindest ihre ewige Verbannung gefordert hat.
Die Liebe weint bittere Tränen.
Jetzt erst erhält die Verteidigung das Wort. Eine gespannte Stille macht sich breit und man hört nichts, außer das leise Schluchzen der verzweifelten Liebe, welche erst nach und nach durch die bedachten Worte der Verteidigung langsam zur Ruhe kommt:
„Hohes Gericht, Vertreter und Vertreterinnen von Anklage und Nebenklage und diejenigen, die gekommen sind, diesem Prozess beizuwohnen!
Es kommt nicht häufig vor, dass die Liebe vor Gericht steht. Deswegen appelliere ich an Sie, Weisheit, Mitgefühl und Vernunft, nicht blind den Vorwürfen von Hass, Neid und Eifersucht zu folgen, sondern sich ein eigenes Bild von der Liebe zu machen, so wie sie sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme für uns alle hier darstellt!
Die Liebe soll schuldig sein an Verrat, Körperverletzung, Verletzung der Seele oder gar Mord!??? Sie ist es nicht, wie wir unschwer den Bekundungen sämtlicher Zeugen entnehmen können:
Was ist Liebe? Wir haben übereinstimmende Antworten aller Zeugen hierzu erhalten und danach stellt sie sich dar als
ein Gefühl höchster Zuneigung, eine innere Haltung und Lebenseinstellung, die auf das Wohl anderer gerichtet ist, verbunden mit Offenheit, Vertrauen, Zuversicht und Lebensbejahung.
Wie also sollte die Liebe da für Dinge verantwortlich sein, die von Abneigung, bewusster Schadensstiftung, Hinterhältigkeit, Boshaftigkeit etc. zeugen!?
Man wirft der Liebe Verrat vor, weil sie sich einem anderen, einem weiteren zugewandt hat und nicht exklusiv sein wollte, doch ist es nicht ein Ausdruck ihrer (vielgerühmten) Universalität, ihrer Unbeschränktheit und ihrer umfassenden Verbundenheit mit allen Menschen, allen Tieren und allem, was ist?
Kann Liebe überhaupt verletzen, kann sie gar morden? Ist es wirklich die Liebe, die verletzt, die seelisches oder körperliches Leid zufügt, die mordet aus niederen Beweggründen, oder ist es nicht vielmehr – und hier richtet sich mein Blick unmittelbar gegen die Ankläger – der Hass selbst, die aus ihm geborene blinde Wut, der Neid und die Eifersucht, die für dieses Unrecht, von welchem uns die vielen Zeugen der Anklage berichtet haben, verantwortlich sind?
Doch ich bin kein Ankläger. Mögen daher die eigentlich Verantwortlichen für Leid und Unrecht in der Welt mit sich selbst ins Gericht gehen.
Die Liebe jedenfalls ist unschuldig. Sie ist vielmehr, wie wir in diesem Prozess gelernt haben, dafür verantwortlich, dass wir überhaupt sind und nicht nur existieren, dass wir fähig sind, zu erkennen, was gut ist und danach zu handeln. Sie ist diejenige, die uns ein Lächeln auf die Lippen zaubert, die uns nährt und beschützt, uns begleitet ein Leben lang und darüber hinaus.
Wir haben jederzeit die Wahl, uns für oder gegen die Liebe zu entscheiden, ihrem Weg zu folgen oder davon abzuweichen.
Meine Entscheidung, hohes Gericht, ist eindeutig
für die Liebe, so wie auch Sie, Weisheit, Mitgefühl und Vernunft sich bei Würdigung sämtlicher Umstände, die in diesem Prozess zu Tage getreten sind, sich nur
für die Liebe werden entscheiden können.
Ich beantrage daher, die Liebe frei zu sprechen, sie auf der Stelle aus ihren Jahrtausende alten Fesseln zu entlassen, damit sie sich fortan frei entfalten kann, wie es ihrer Natur und ihrem ureigenen Sinn entspricht!