Gebieter der Nacht (2)
Zuerst spürte Sidonie nur den Wind, der sacht mit ihrem Haar spielte. Sie fühlte sich schwerelos, sicher geborgen und blinzelte vorsichtig. Über ihr spannte sich ein unendlich weiter Sternenhimmel und in der Ferne über dem Meer deutete sich schwach die Morgenröte an. Ein erhebender, wunderschöner Anblick, doch sie begriff nicht. War sie im Wäldchen gestolpert, gefallen und bewusstlos geworden? Aber warum fühlte sie keinen Boden unter sich, nur diese leichte Brise, die sie vollständig umgab?
Sie blickte um sich und realisierte, dass sie getragen von starken Armen durch die Nacht flog. Deutlich vernahm sie nun über sich das leise Schwingen von Flügeln und sah tief unter sich die Straßenlichter der schlafenden Dörfer. Eine Panikwelle vertrieb die Lähmung ihres Körpers. Sie strampelte, versuchte sich irrigerweise aus dem schützenden Griff zu befreien, doch sie wurde noch stärker umklammert. In ihrer kopflosen Angst setzte sie zu einem Schrei an, jedoch drang nur ein ersticktes Gurgeln über ihre Lippen. Glühende Augen aus einem nachtschwarzen konturenlosen Gesicht starrten auf sie nieder.
Seltsamerweise las Sidonie in diesem Blick eher Sorge denn Gefahr für sich. Eine gnädige Ohnmacht umfing ihren Geist.
Mehr gefühlt als bebildert sah sie den obskuren Mann und sich in inniger Umarmung inmitten eines freien Platzes zwischen uralten Olivenbäumen. Brennende Fackeln. Umgeben von einer Mauer aus akkurat aufgeschichteten Natursteinen als Begrenzung des heiligen Hains. Zwei steinerne Säulen mit seltsamen Zeichen darauf und mittig zwischen ihnen ein steinernes Idol.
Eine Frau ganz in Weiß und mit kupferfarbenen Haar sowie ein weiterer Mann vollzogen ein archaisches Ritual, in deren Verlauf sich alle ihrer Kleidung entledigten. Ein tranceartiger Singsang lag über der Szenerie. Es roch nach Weihrauch.
Gebannt und außerkörperlich schaute Sidonie zu, wie ihr Geliebter die Person, die sie selbst in anderer Gestalt zu sein schien, bei der Hand nahm und mit ihr vor dem Idol auf einen Teppich aus duftenden Blütenblättern sank. Ihre Seele erinnerte sich voller Freude daran, auch an die Begierde und die grenzenlose Lust. Wie sie sich vereinigten zu etwas größerem als sie selbst und auch die beiden anderen schenkten ihre Körper nun der Gottheit und damit auch Sidonie und ihrem Geliebten.
Hände und Zungen, die sich bis fast in den Wahnsinn reizten, Sidonie sah ihren Geliebten und die rothaarige Frau vereint in wilder Begierde stöhnen, fühlte sich selbst ausgefüllt von dem weiteren Mann. Ihre Haut an die der Rothaarigen gepresst während er diese nahm und ihre Blicke sich zustimmend trafen. Zu viert tränkten sie den geweihten Boden mit ihren Opfergaben aus Lust, Öl und Wein. Doch bevor das Orgienritual vollständig vollzogen war, sahen sie sich umzingelt von glühenden Augen aus konturlosen Gesichtern, die sie wie auf ein geheimes Zeichen hin, anfielen. Sidonies Erinnerung endete mit dem Geschmack von Blut in ihrem Mund.
*
Sidonie erwachte stöhnend und verspannt, mit rasenden Kopfschmerzen. Nicht aus diesem seltsamen Albtraum in ihrem nüchternen Hotel- sondern in einem wahren Himmelbett mit einem Baldachin über sich, den ein aufwendig gestickter Sonnenaufgang über dem Meer zierte. Grandios, in einer Farbenpracht und so lebendig, dass es wie ein Postkartenfoto wirkte. Der Stoff war alt und brüchig, an einigen Stellen sorgsam geflickt.
Wo war sie?
In der Ferne hörte sie das Krähen von Hähnen und Glockengeläut. Sonnenstrahlen fielen wie tastende Finger durch einen grünlichen Fensterladen. Der Raum, in dem sie sich befand, war ein pompöses Schlafzimmer, das von der Einrichtung her eher an ein Museum, nur ohne Absperrband, erinnerte.
Die Erinnerung an die letzte Nacht kehrte langsam zurück: Die ungewöhnliche Gesellschaft auf dem Weingut, der schwarzgekleidete Mann mit Hut, ihr bizarres Begehren, sie allein in Dunkelheit und Olivenwäldchen, eine Bestie mit glühenden Augen, die sie aus dem Nichts ansprang und dann der Flug durch die Nacht auf den Armen eines anderen Ungeheuers. Letzteres hatte sie wohl gerettet, wenn sie die Situation richtig interpretierte.
Doch vor was? Oder hatte man sie auf dieser Party unter irgendwelche Drogen gesetzt und möglicherweise…?
Sie wagte nicht daran zu denken und fröstelte, spürte in sich. Beunruhigenderweise war sie unter ihrer Decke nackt und ihre Sachen nirgends zu sehen.
Allerdings lag eine Art Kimono über dem Fußende und der Duft von Espresso bahnte sich verlockend seinen Weg unter dem Türspalt hindurch bis zu ihrer Nase.
Zumindest befand sie sich noch in der Zivilisation, dachte sie mit einigem Sarkasmus und erhob sich, eilte zu dem antiquierten Spiegel, der an einigen Stellen bereits blind war und untersuchte sorgfältig ihren Körper.
Ein blasses Gesicht mit dunklen Augenringen schaute sie an, ihre Lippen wirkten unnatürlich rot obwohl ungeschminkt, verwischte Reste von Blutspuren waren zu sehen, doch sie schien äußerlich unverletzt – bis auf zwei kleine Schwellungen seitlich an ihrem Hals, die sich nach einer kurzen Schnappatmungsattacke aber als harmlose Schnakenstiche entpuppten.
Doch woher kamen die Blutreste? Fragte sie sich und wünschte sich dringend eine heiße Dusche und eine Erklärung.
Angespannt öffnete sie die Läden und blickte über einen mit Weinreben bewachsenen Hang in Richtung des azurblauen Meeres.
Was für ein atemberaubender Anblick! Zu ihrer Erleichterung erkannte sie, wo sie sich befand. In Castello, einer mittelalterlichen Bergfeste mit umgebenden Dörfchen, nicht so weit von ihrem Urlaubsort entfernt. Sie erinnerte sich gelesen zu haben, dass dies einst die Residenz der Markgrafen Clavesanta gewesen war.
Mit dem Seidenkimono bekleidet, eilte sie mit klopfendem Herzen die in Jahrhunderten ausgetretenen steinernen Stufen hinab, immer der Duftspur des Kaffees folgend, und erreichte im Untergeschoß eine Küche, die überraschenderweise dem modernen Stand der Technik entsprach.
Eine ältere Dame mit grauem Zopf lächelte sie an und stellte sich als Alma vor. Sie möge sich setzen, ein spätes Frühstück wäre für sie bereit. Il Principe und il Marcese seien aber erst am Abend zurück und sie möge bitte solange bleiben und deren Gastfreundschaft genießen. Ihre Kleidung sei bereits gereinigt und werde auf ihr Zimmer gebracht. In Sidonie kämpften Fluchtreflex und Neugierde um die Vorherrschaft.
Wer von beiden – der Fürst oder der Graf – war der geheimnisvolle Mann in schwarz? Und trotz der mehr als ungewöhnlichen Situation und ihrer Furcht prickelte es verlangend in ihr. In einer größeren Gefahr als der vergangenen Nacht konnte sie sich nicht befinden, also entschloss sie sich zu bleiben. Sie wollte Antworten und …ihren dunklen Retter wiedersehen.
So vertrieb sie sich den Tag, um das kleine Dörfchen mit seinen verwinkelten und alten Gassen zu erkunden. Kaum ein Mensch war auf der Straße, alles wirkte irgendwie wie ausgestorben. Interessiert las sie auf den mehrsprachigen Tafeln, dass der Ort bereits um 1000 n. Chr. gegründet worden war und, dass von dort aus, der Siegeszug der Ölbäume in der Region begonnen hatte.
Ebenso durchstreifte sie den Palazzo mit dem Turm und den kleinen Garten mit umgebenden hohen Mauern, in dem sie erwacht war. Sie war begeistert von der zur Meerseite gerichteten großen Dachloggia und dem Wintergarten aus farbigem Glas, welches das grelle Sonnenlicht angenehm dämpfte.
*
Für das Abendessen mit den beiden Blaublütern hatte man ihr entsprechende Kleidung gebracht. Ein langes Kleid in einem blutrotem Ton mit einem verführerischen weiten Rückenausschnitt bis knapp zu ihrem Po und dazu passende Heels in ihrer Größe, was nicht so einfach gewesen sein konnte, denn sie lebte – wie man so schön sagte – auf großem Fuß.
Alma hatte ihr das lange Haar kurz zuvor hochgesteckt und mit einem funkelnden Diadem geschmückt, so dass Sidonies ohnehin sinnliche Ausstrahlung um ein weiteres verstärkt wurde. Lächelnd betrachtete sie sich im Spiegel, dieses Schmuckstück schien nur für sie gemacht – so perfekt sah es an ihr aus.
Kurze Zeit später betrat sie mit klopfendem Herzen den Salon. Beide Herren, bis zu ihrem Erscheinen in ein ernstes Gespräch vertieft und mit sorgenvollen Mienen, erhoben sich galant und lächelten sie an, selbst der ihr wohlbekannte Herr - wieder in Schwarz - doch diesmal ohne gesichtsverdeckenden Hut. Von seinen Augen ging eine fesselnde Magie aus.
Sidonie schluckte schwer. Die Wucht seines Blickes traf sie voll. Ihr Leib schien unter diesem zu erzittern, zu erglühen und sich ihm voller Begierde entgegen werfen zu wollen. Alles in ihr schrie danach, sich ihm auf der Stelle hinzugeben.
Das wohlbekannte Ziehen in ihrer Scham und den Brüsten hatte sich potenziell verstärkt.
Verwirrende Bilder eines mit Fackeln schwach erleuchtenden Kerkers mit dicken Eisenringen in den Wänden sowie eines Andreaskreuzes und - unter knallenden Peitschenhieben lüstern stöhnende Personen beiderlei Geschlechts - entzündeten in ihr ein überwältigendes Feuer. Sie sah eine schlanke Gestalt unter einem dunklen Kapuzencape eine der schwarz-weiß geflochtenen Peitschen schwingen und das Aufklatschen des Riemens auf dem sich lustvoll windenden Leib vor ihr genießen. Verstörend vertraut war dieses Bild.
Atemlos schien sie zu erahnen, wer sich unter diesem Umhang verbarg. Fahles Mondlicht fiel für einen Moment auf jenes Gesicht, doch es war nicht das ihrige in seiner jetzigen Gestalt. Es schien konturenlos mit glühenden Augen wie bei dem Wesen, das sie gerettet hatte und denen aus ihrem Albtraum.
Sidonie schrak zusammen, schwankte kurz und so unvermittelt wie gekommen, verschwand das Bild in ihrem Kopf. Es hatte nur Bruchteile von Sekunden gedauert. Sie fragte sich ernsthaft, auf welchem Trip sie hier eigentlich war.
Nur mühsam gelang es ihr, sich dem Marcese Ambrogio Clavesanta zuzuwenden, welcher sich mit leicht süffisantem Unterton als Hausherr des Palazzos vorstellte. Sie erkannte in ihm nicht nur einen der Gäste vom Weingut, der sich sehr intensiv mit den Brüsten einer rothaarigen Dame beschäftigt hatte, sondern auch als den anderen Mann vor dem Idol aus ihrem Traum.
Ein wenig fassungslos stellte auch sie sich vor. Schließlich war die Reihe an ihm, dem schwarzgewandeten Herrn und Principe – Lorenzo d´Immortelles.
Sein klangvoller Name unterstrich seine Persönlichkeit und nur unter gewaltiger Willensanstrengung gelang es Sidonie, einigermaßen aufrecht stehen zu bleiben und seinem interessiert-amüsierten Blick mit Selbstbewusstsein zu begegnen.
Alma servierte einen Aperitif und Sidonie stürzte diesen in einem Schluck hinunter. Sie verstand die Wirkung dieses Mannes auf sich und die bizarren Visionen nicht. Bislang war sie stets diejenige gewesen, die bestimmt hatte, was wann und wie geschah. Doch in seiner Nähe fühlte sie den Kontrollverlust, was sie aber seltsamerweise nicht wirklich störte.
Sie setzte an, ihre drängendste Frage zu stellen, nämlich nachdem, was letzte Nacht dort im Olivenhain geschehen war. Der Schrecken hatte erneut Besitz von ihr ergriffen.
„Sie haben viele Fragen, Sidonie.“ Antwortete Lorenzo nun gleichermaßen ernst und zärtlich. „Doch ich möchte Ihnen zuerst etwas zeigen. Alles Weitere hängt davon ab! Wenn Sie danach gehen möchten, werden Sie sofort in ihr Hotel gebracht. Doch wenn Sie bleiben, dann wären der Marcese und ich sehr geehrt. Sie entscheiden!“
Sidonie fühlte einen dicken Kloß in ihrer Kehle. Sie spürte eine undefinierbare Furcht. Weniger vor den beiden Männern als dem, was sie nun erwartete. Ihre Knie wurden weich und dankbar ergriff sie Lorenzos freundlich ausgestreckte Hand.
Er führte sie zu einer Wand im Salon und wie durch Zauberhand schwang darin eine geheime Tür auf. Ein Geruch nach abgestandener Luft mit einer Brise Salz darin traf ihre Nase. Schwaches Licht erhellte den steinernen Gang.
Verstörend vertraut war das alles. Vor allem die uralte hölzerne Kasettentür, die in ihr Sichtfeld trat. Dahinter lagen die Antworten.
Sidonie zögerte leicht, war sich nicht mehr sicher, ob sie das alles wirklich wissen wollte. Sie schwankte und beide, der Marcese und Lorenzo, hakten sie entschlossen unter, führten sie die letzten Meter. Sie ließ es geschehen.
Erregung und Neugierde drängten die Furcht wieder in den Hintergrund. Lorenzo sah sie ernst an. Er setzte an, ihr eine Frage zu stellen und sie hatte das Gefühl, als befinde er sich mehr in ihrer Hand als sie in seiner.
„Sidonie, fürchten Sie mich oder vertrauen Sie mir uneingeschränkt?“
tbc
Nina de Wynter 01.9.17