Schutzengel für einen scharzen Vogel
Sie ist schwarz, stark und schnell, die Honda „Super Blackbird. Auch wenn sie schon zehn Jahre auf ihrem kräftigen Buckel hat, so ist sie trotzdem das Tier in meinen Träumen. Doch bei minus sechs Grad im Januar und Tempo zweihundertneunzig sitzt Gevatter Tod hinter dir auf der Maschine. Immer. Ich denke an sein hungriges Grinsen und daran, dass ich seiner Klinge vor sechs Jahren nur um Haaresbreite entgangen bin. Trotzdem habe ich mir meinen Traum wieder erfüllt und nun ist auch der Sensenmann wieder da. Jede Nacht bläst er mir seinen Atem in den Nacken.Die Mädels sind nach Hause gegangen, ich drehe die Anlage auf, wuchte unter Metallicas schmetternden Klängen von „Nothing Else matters“ die Ölmaschine nach vorn und begutachte die Kollateralschäden, die nach elf Stunden Völkerwanderung im Bowlingcenter unvermeidlich sind. Es ist ein Automatismus, der immer abläuft, wenn der letzte Gast gegangen ist und er lässt Raum in meinen Kopf für viel zu viele Gedanken. Sie werden noch stundenlang weiterbohren und dafür sorgen, dass ich nicht gleich nach dem Ende der Spätschicht ins Bett gehen kann. Selbst da werden sie mich dann noch eine Weile wach halten. Wie immer. Scheißnächte.
Es ist kurz vor halb drei, Deep Purple begleiten mich nach hinten zu den Maschinen, und während mir David Coverdale „Fools“ in die Ohren kreischt, wechsle ich die Lappen und zähle die Pins in den Maschinen. Es sind vierzehn zickige alte Damen, die gepflegt werden wollen und jede Menge Aufmerksamkeit brauchen. Die mit dem elektrischen Shark haben dreiundzwanzig Pins, die mit dem Mechanischen vierundzwanzig. Bekommen sie nicht, was sie wollen, kratzen, beißen und spucken sie am nächsten Tag, die Narben auf meinen Unterarmen erzählen einen ganzen Roman davon.
David Coverdale verstummt, nur noch dieser eine, unglaubliche Akkord des Synthesizers lässt die Gasbetonwände der Halle vibrieren und jagt mir Schauer über die Haut. Die Narren rufen aus einer anderen Welt.
Dann fluten die ersten Takte von „Swanheart“ und die göttliche Stimme Tarja Turunens das Bowlingcenter. Die Jungs von „Nightwish“ waren dämlich. Wie konnten sie diese Frau nur gehen lassen? Meine Gedanken sind nur noch zusammenhanglose Fetzen. Hose, Stiefel, Nierengurt, Jacke - das, was andere als Qual und Zeitverschwendung empfinden, ist für mich wie das Vorwärmen zu dem Rennen meines Lebens. Minus sechs Grad und Raureif auf der Straße. Na und? Der Countdown tickt.
Noch ein Blick in die leere und dunkle Halle, dann ziehe ich den Reißverschluss der Jacke zu und das Geräusch ist das Startsignal für meine Hirnanhangdrüse. Ein leichtes Kribbeln rinnt mein Rückgrat hinab und ich weiß, dass sie heiß darauf ist, mich mit Adrenalin vollzupumpen. Die letzten Klänge von „Faster“ von „Within Temptation“ höre ich nur noch in meinem Kopf, während ich abschließe.
Das Traumtier lauert neben der Treppe auf mich, tief geduckt versteckt es seine mächtigen Muskeln unter einer unscheinbaren Verkleidung. Sinnlos, ich weiß genau, was sie leisten können. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss, eine Drehung, der Dämon neben mir erwacht mit einem satten Blubbern und zerrt schon im Leelauf mit unbändiger Kraft an seinen Fesseln. Ein winziges Zucken in meiner rechten Hand würde genügen, aus dem Brummen des Untiers ein jubilierendes Kreischen werden zu lassen.
Doch ich bin ein Junkie, der den Moment der Erfüllung seiner Sucht hinauszögert, und zünde mir eine Zigarette an. Ein paar hastige Züge und wenn sie vorbei sind ...
Drei Rechtskurven, dann werde ich auf der Umgehungsstraße sein, nach drei Sekunden bei Tempo einhundert, neun Sekunden später bei zweihundert und dann bleibt noch knapp ein Kilometer, um auf zweihundertneunzig zu kommen. Die Welt wird auf einen dunklen Tunnel zusammenschrumpfen, in dem nur noch das Tier unter mir und ich, bis zur Halskrause zugedröhnt mit Adrenalin, existieren. Ich werde Falco in meinem Kopf mit seinem „Out of the Dark“ hören und wenn er bei seinem letzten „muss ich denn sterben, um zu leben“ angekommen ist, werde ich endlich schlafen können.
Es ist Zeit. Ich hole tief Luft, schnipse die Zigarette weg, schließe den Helm und steige auf. Der erste Gang ziert sich, als er schließlich doch einrastet, klingt es fast, als würde jemand lachen und für einen Moment scheint mir, als würde sich ein dunkler Schatten hinter mir auf die Maschine schwingen. Doch es ist keine Zeit mehr für Angst. Es ist Zeit für Träume ...
*
„Alles in Ordnung?“ Wie immer, wenn ich Spätschicht habe, hat Lena nicht fest geschlafen und darauf gewartet, dass ich nach Hause komme.
„Aber natürlich!“, antworte ich ruhig, als sei nichts geschehen und lege mich zu ihr. Ich komme immer gut nach Hause. Wohin sonst? Hier ist mein Herz. Etwas hatte auf der Rückfahrt jedes Zucken in meinem rechten Handgelenk, ja sogar den Gedanken daran unterbunden und so war ich nie schneller als siebzig nach Hause gefahren.
Sie kuschelt sich im Halbschlaf an meine Brust und murmelt: „Ich habe geträumt von dir.“
Obwohl es dunkel ist, weiß ich, dass sie jetzt lächelt, genauso, wie ich weiß, dass sie das nicht nur gesagt hat, um mir eine Freude zu machen. Lena lügt nicht, auch nicht aus Höflichkeit.
Und ich muss an den Schatten denken, der sich am Bowlingcenter hinter mich auf die Maschine geschwungen hat. Jede Sekunde der Rückfahrt habe ich seinen warmen Atem auf meiner Haut gespürt.
Wie jetzt auf meiner Brust.
(C) RHCSo 2016