Howard W. French: Afrika u. die Entstehung der modernen Welt
Howard Frenchs Buch "Afrika und die Entstehung der modernen Welt" ist die Globalgeschichte eines ausgebeuteten Kontinents. Ohne Afrika keine industrialisierte Welt, ist seine These.
Die englische Originalausgabe erschien 2021 in New York unter dem Titel: "Born in Blackness. Africa, Africans and the Making of the Modern World, 1471 to the Second World War".
Eine Kindheitserinnerung, Virginia, USA, Mitte der 60er Jahre: Howard W. French, 1957 geborener Afroamerikaner, wird an einem heißen Sommertag mit seinen Geschwistern aus einer öffentlichen Badeanstalt hinausgeworfen. Es ist ein Detail in dieser 530 Seiten starken Monographie, zu vernachlässigen – zeigte sich hier nicht das womöglich entscheidende Motiv, ein derart ambitioniertes Werk in Angriff zu nehmen. "Tatsächlich war es nicht zuletzt meine eigene Familiengeschichte", schreibt French, "die mich für die Geschichte der atlantischen Welt sensibilisiert und zum Schreiben dieses Buches angeregt hat, in dem ich versuche, Afrika endlich den Platz in der ersten Reihe einzuräumen, der dem Kontinent bei der Entstehung unserer Moderne gebührt."
French, der jahrzehntelang für die New York Times in West- und Zentralafrika, in der Karibik, in China und Japan als Korrespondent tätig war, baut sein Werk auf reicher journalistischer Erfahrung, profunder Quellenkenntnis, akribischer Lektüre der Forschungsliteratur (der Anmerkungsteil umfasst 45 Seiten!) und – dies lassen seine Fotos vermuten – großer Vertrautheit mit den Schauplätzen auf.
Sozial-, Wirtschafts-, Mentalitäts-, Bevölkerungs-, Kultur- und Politikgeschichte hat er zu einer "Globalgeschichte" verbunden, zum Aufriss eines mächtigen historischen Panoramas, das einen Zeitraum von etwa 1470 bis 1945 umfasst und historisches Geschehen auf vier Kontinenten synchronisiert. In fünf Teile und 38 kürzere Kapitel aufgefächert, ist das Buch klug, geradezu didaktisch raffiniert aufgebaut, die Kapitel mit ihren oft exzellenten Zusammenfassungen am Ende lesen sich wie ein Reigen konzentrierter Vorlesungen, die Kombination aus Deskription und Analyse hat etwas Bestechendes.
Noch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der große Philosoph des Deutschen Idealismus, bezeichnete Afrika als einen Kontinent ohne Geschichte. Das gängige Narrativ, gegen das French so vehement wie überzeugend anschreibt, beschwört eine ruhmreiche Epoche europäischer "Entdeckungen" und Eroberungen, eine Epoche der Missionierung und des gnädigen Kulturimports, legendärer Seefahrer und heldenhafter Kolonisatoren, die in Afrika auf wilde Eingeborene, barbarische Stammeskrieger, unterentwickelte politische Strukturen und bestenfalls auf eine verstörend fremde Welt in einem paradiesisch anmutenden Naturzustand trafen.
Dem hält French entgegen: "Wie dieses Buch klarmachen wird, war Afrika mehr als jeder andere Teil der Welt der Motor in der Maschinerie der Moderne." Eine kühne These, die der Autor freilich in souveräner Beweisführung untermauert, anhand der Quellen beglaubigt und am kenntnisreich präsentierten historischen Detail illustriert.
Der Untergang der großen westafrikanischen Ghana-, Mali- und Songhai-Königreiche; die Plünderung der Goldvorräte und die Monopolisierung der Goldexporte durch die Portugiesen ab dem späten 15. Jahrhundert; die Rivalitäten der europäischen Kolonialmächte – zunächst Portugal und Spanien, ab dem frühen 17. Jahrhundert Frankreich, die Niederlande und England; die Insel Sao Tomé im Golf von Guinea und die Karibikinsel Barbados als eine Art Labor für ein "Plantagenmodell", die Monokulturen der Plantagen – für Zuckerrohr, Tabak, Kaffee, Kakao, Reis oder Baumwolle – als frühe Formen "industrieller Arbeitsteilung, Reglementierung und Buchführung", die Plantagenwirtschaft als eine "rassebasierte Form der Sklaverei", ja als "Tötungsmaschinerie der Moderne"; die Haitianische Revolution 1791 – 1803/04, "der größte Sklavenaufstand in der Menschheitsgeschichte": Dies sind nur einige Etappen in einer jahrhundertelangen Geschichte von Ausbeutung, Plünderung, Enteignung, Unterwerfung und Entrechtung.
French warnt mit Recht vor einem historisch fahrlässigen Umgang mit den Begriffen "Kolonialismus" und "Imperialismus". Noch zum Zeitpunkt der berüchtigten Berliner Kongo-Konferenz 1884/85 waren nur etwa zehn Prozent des afrikanischen Kontinents im eigentlichen Sinne "kolonisiert". Reichtum und Wohlstand der europäischen Kolonialmächte basieren freilich seit dem 16. Jahrhundert immer mehr auf der Enteignung Schwarzer Arbeit, auf den märchenhaften Profiten des transatlantischen Sklavenhandels. Eben dieser Reichtum hat jene Prozesse der Industrialisierung beschleunigt, welche ihrerseits Formen demokratischer Öffentlichkeit und dem Aufbau einer effizienten Verwaltung und moderner Staatlichkeit zum Durchbruch verhalfen.
"Ein Großteil dessen, was ich hier aufgeschrieben habe, ist zwar nicht sehr bekannt, aber nicht neu, " schreibt French gleich im Einführungskapitel. Das ist entschieden zu viel an angelsächsischem Understatement. Seine gelungene Studie hat in meinen Augen das Zeug zum Standardwerk.