Da musste ich prompt an die Wendepunkte meines Lebens und die motivierensten Arschtritte meiner Mitmenschen in Punkto "Aus der Opferrolle rauskommen..." denken.
Exemplarisch dieses aus meiner Schulzeit...
"Du bist ganz schön arrogant. Weißt du das? So wie du da auf deinem moralischen Sockel stehst und nichts tust außer über die ach so Bösen zu urteilen, die was mit dir tun. Aber du bist dir ja zu fein so gemein zu sein wie die. Sei doch auch mal so dreckig. Der Typ wird bestimmt auch irgendein körperliches Merkmal haben, was nicht so hübsch ist und wofür er sich schämt. Knall ihm da einen Spruch rein. So richtig schön unter der Gürtellinie. Und das vor dem ganzen Kurs. Damit auch alle was zu lachen haben.
Steig endlich mal von deinem moralischen Sockel runter und schlüpf in die Rolle der übelsten Dreck-Sau, die du dir ausmalen kannst. Zeig, dass du das auch drauf hast. Danach kannst du wieder lieb und brav sein. Meistens. Nicht immer. Zumindest werden es sich die Menschen dann zwei Mal überlegen. So bekommst du deine Ruhe und dein erbärmliches Dauer-Gejammer hat endlich ein Ende."
Zusammen gefasst waren das seine Aussagen.
Die Aussagen meines Psychotherapeuten.
Eigentlich war es ein Dialog - mit mir in der Rolle der völlig ungläubigen Teenagerin.
Sowas von meinem Therapeuten?!?
Ich dachte, ich sei im falschen Film.
Aber nach X Sitzungen hatte er den Arschtritt gefunden, den ich gebraucht habe.
Ich hab's getan.
Fakt war: Meine Zeit als Mobbing-Opfer wurde damit nach 8 Monaten beendet.
Der Lehrerin meines GL-Kurses fiel förmlich die Kinnlade runter. Alle hielten für einen Moment den Atem an. Verblüfft. Sprachlos. Völlig ungläubig. Auch mein Ziel war sprachlos. Mein Angriff war "wie aus dem Nichts" gekommen. Unprovoziert. Und dann auch noch Mitten im Unterricht. Und nicht mal beiläufig, schräg von der Seite sondern ziemlich frontal.
Als er die Sprache wiederfand und das erste Wort gesagt hatte, setzte ich nach. Vertiefte die ursprüngliche Beleidigung. Plötzlich lachten sich alle schlapp und sogar meine Lehrerin musst mitlachen... es machte sogar Spaß, die Beleidungen weiter auszuschmucken... die anderen kamen aus dem lachen nicht mehr raus und die haben mich dann mit ihrem Lachen angesteckt.
Das war die Art von Lachen, bei dem endlich mal all das Leid und all die Angst aus meinem Herzen heraus purzelte.
Und das von einem Kursus, der zuvor mehr oder weniger munter mitgemobbt, mich ausgelacht hatte oder sich bloß still und leise abwendete.
Diese Überraschung: "Ich bin nicht allein."
Die waren bloß alle so gelähmt wie ich. Oder die lachten aus Schadenfreude mit. Froh darüber, dass es sie nicht betraf. Oder die mobbten aus Vorsorge mit: Damit sie auch in Zukunft nicht trifft. Wie auch immer: So unbeliebt, wie ich gedacht hatte, war ich gar nicht. Bis zu jenem Tage wagte es bloß keiner, diesem Arschloch so etwas ins Gesicht zu sagen. Noch nicht einmal ansatzweise.
Doch welchen Spruch wollte der mir noch drücken, den er mir noch nicht gedrückt hatte?
Auf verbaler Ebene konnte nicht mehr viel mehr kommen. Und ich wollte nicht wissen, was kommt, wenn es auf die körperliche Ebene geht.
Gefühlt stand ich bereits mit dem Rücken an der Wand. Was hatte ich also noch zu verlieren?
Zu Beginn fühlte es sich Scheiße an. Bei meinen ersten Worten lag sicherlich noch Unsicherheit in meiner Stimme. Doch als ich erst mal in Fahrt gekommen war, genoß ich es, mit meiner Stimme und mit meinen Worten voll auf Angriff zu gehen. Seine merkwürdig geformte Unterlippe mit meinen Augen zu fixieren. Ich genoß meinen Frontalangriff. Ich genoss es, für mich selbst einzustehen. Ich fühlte seinen Schmerz. Das war ein geiler Ausgleich. Ich genoß es, teuflisch böse zu sein.
Dann das ansteckende Lachen der anderen.
Das sich nicht mehr allein fühlen und die Erleichterung.
Der Kursus lachte immernoch als er den Raum bereits verlassen hatte. Die Lehrerin besann sich auf ihren Job und machte weiter als ob nichts gewesen wäre. Bald darauf war der Unterricht vorbei und es hagelte Lob von allen Seiten. Auch von der Lehrerin. Unter vier Augen sagte sie mir, sie sei froh, dass ich mich endlich mal gewehrt habe. Für so eine miese Attacke gelobt zu werden und dann auch noch von einer Lehrerin - einer der Guten - , fühlte sich merkwürdig schräg an.
Muss ich diese Welt verstehen?
Was das mit mir gemacht hat? - Ich wollte nie jemanden aufgrund von einem körperlichen Merkmal dissen.
Dissen, für irgendwas Angeborenes, für dass der Mensch doch überhaupt nichts konnte? - Nie im Leben!
Ich fand das "unter aller Sau".
Für mich war das eine Grenze, die ich nie überschreiten wollte.
Ich wusste, wie mies das ist. Für mich gab es nichts auf der Welt, was dies rechtfertigen könnte.
Aber manchmal... nur manchmal... da tut es verdammt gut über seinen eigenen Schatten zu springen und Feuer mit Feuer zu bekämpfen.
Der moralische Sockel, der mich von allen anderen trennte, der war weg.
Nun war ich genauso bösartig wie er. Wenn auch nur für ein Momentum.
Ausgleich. Quitt sein. Respekt und Friedfertigkeit auf beiden Seiten.
Btw.: Ich war nicht die erste, die ihn mit seiner Unterlippe gedisst hat.
Das letzte Mal war lange her. In seiner Kindheit.
All die Jahre andere zu dissen, bevor es auch nur einer wagt, einen Spruch wegen seiner Unterlippe zu bringen, war seine Art des Selbstschutzes. - Bis er auf mich traf. Mich so fertig machte, dass ich zum Therapeuten ging. Und ich mit dessen Hilfe richtig geraten hatte, was sein wunder Punkt sein könne. Wo man ihn aushebeln kann.
Ich sag ja: Die Welt ist bescheuert.
Und ich glaube, mit einer Mischung aus Mal Opfer und Mal Täter fährt man am besten.
Unpraktisch ist, wenn man zu lange auf einer Seite verharrt.
Dann wird es so richtig heftig. - Zumindest war das bis dato in meinem Leben so.
Und fast immer, wenn ich mal wieder allzu lange in der Opferrolle verharrte und all das Gift runter schluckte, ging es darum, dass ich mir etwas selbst nicht erlaubte. Das Opfer (im Sinne von freiwillig gewählter Opferrolle) steht auf seinem moralischen Sockel.
Gegen überwertige Ideale hilft nur das Ausleben des Gegenteils.
Die Integration des persönlichen Tabus.