Die Voraussetzungen für Karmamudra/Maithuna
Ich bin es etwas müde, dass hier unter Tantra immer automatisch Tantramassage verstanden wird. Tantramassage ist eine neue Erfindung, die es erst seit ca. den 70erjahren überhaupt gibt. Sowas wie tantrische Massage gab es davor nicht. (Auch wenn Daniel Odier behauptet, von seiner Lehrerin Lalita Devi angeblich in die "kaschmirische Massage" eingeführt worden zu sein - wofür ich bisher keinen einzigen tantrischen Text gefunden habe, der auch nur annähernd von sowas spricht. Wer so einen Text kennt oder findet, der soll mir bitte eine persönliche Nachricht schreiben, da wäre ich schon sehr interessiert.)Im traditionellen Tantra macht die sexuelle Vereinigungspraxis (Karmamudra im buddhistischen Kontext, Maithuna im hinduistischen Kontext) lediglich einen kleinen - wenn auch relevanten - Teil der gesamten Praxis aus. Für diese Art von Praxis waren folgende Faktoren selbstverständlich:
1. Es handelt sich um eine Praxis, die nur erfahrene Praktizierende überhaupt in der Lage sind, korrekt auszuführen. Zu glauben, jedermann sei von sich aus dazu in der Lage, und zwar völlig ohne jegliche Vorbereitung, ist ein Zeichen von Unwissenheit.
2. Die nötigen Qualifikationen sind:
• Ethisches und moralisches Verhalten, Einhalten der (tantrischen) Gelübde wie z.B. Achtung vor Frauen (was im alten Indien oder Tibet z.B. keineswegs notwendigerweise garantiert war), Verschwiegenheit usw.
• Meisterschaft, meditative Zustände über einen längeren Zeitraum hinweg stabil zu halten, auch unter physischem Einsatz oder im Kontakt mit anderern
• Ein gewisses Körpergefühl, welches in der Lage ist, Energien wahrzunehmen und zu steuern. Dieses wird durch alle vorbereitenden Übungen hindurch geschult.
• Meditation über eine bestimmte Gottheit, oder ein Gottheitenpaar in Vereinigung. Meisterschaft dieser Art von Meditation ist eine notwendige (!) Voraussetzung, und im Kontext der Tantra-Massage unbekannt. Die bunten Bildchen irgendwelcher Yab-Yum Figuren hängen im besten Fall im Tantrastudio an der Wand, sie werden aber lediglich als Symbole verstanden, nicht als Übungspraxis. Ohne vorbereitendes Gottheitenyoga kann traditionelles sexuelles Tantra schlicht nicht ausgeführt werden, es ist unmöglich. Ich betone das deshalb so sehr, weil es ein sine-qua-non darstellt, aber wenn konfrontiert mit dieser Voraussetzung nur wenige Leute überhaupt Lust haben, irgendwelche Mantras über einen längeren Zeitraum zu rezitieren. Die Haltung ist: "Wozu all das langweilige Zeugs, können wir nicht gleich zum lustvollen Teil fortschreiten?" Diese Haltung ist ungefähr so, wie wenn jemand einen Abschluss in, sagen wir mal, BWL haben möchte, aber den Abschluss haben will, ohne vorher irgendwas über BWL gelesen oder gelernt zu haben. Was soll das überhaupt für ein Abschluss sein, wenn jemand nichts über das Thema gelernt hat? Genau so wird im Karmamudra die Qualität der Gottheiten überhaupt erst finalisiert, der Zweck der sexuellen Vereinigungspraxis besteht nicht drin, Spass zu haben (...geil ficken...), sondern diese Gottheit mit ihren Qualitäten zu realisieren. Ohne Gottheit gibt es folglich auch nichts, was realisiert werden könnte, und somit ist Karmamudra im traditionellen Kontext sinnlos, oder im besten Fall eine rein hedonistische Beschäftigung für post-moderne Menschen. (Im übrigen stellt diese Art Praxis eine höhere/tiefere Art von Spass dar, da sie im Gegensatz zur Tantra-Massage auch die kreative Fantasie mit einschliesst, was sich leider auch nicht vielen Menschen erschliesst.)
• Aus dem letzten Punkt ergibt sich automatisch, dass beide Partner eine gewisse Praxiserfahrung mit derselben Gottheit benötigen. Früher wurde das so ausgelegt, dass die Praktizierenden einer kleinen, meist eher eingeschworenen Gruppe, angehörten, die sich als "Praxisbrüder- und Schwestern" verstanden, im Kaula-Tantra auch "Kula" genannt, also ungefähr "Gruppe von Praktizierenden".
3. Es handelt sich beim sexuellen Tantra um eine Übungspraxis. Das heisst, sexuelles Tantra funktioniert nicht nach dem "Einmalprinzip", sondern muss über einen gewissen Zeitraum miteinander eingeübt werden. Erfahrungsgemäss müssen sich zwei Personen erst einmal aufeinander "einschwingen", bevor die Praxis beginnt, Früchte zu tragen.
4. Wie bei jeder tantrischen Praxis gibt es eindeutige Zeichen, ob jemand die Resultate der Praxis gemeistert hat oder eben nicht. Welche Zeichen das sind, wurde früher nur mündlich weitergegeben, und auch heute gibt es eigentlich so gut wie keine Praktizierende, die diese Zeichen entweder kennen oder verstehen. Das heisst konsequenterweise: Traditionelles sexuelles Tantra ist in keiner Weise "absichtslos". Es verfolgt nämlich ein ziemlich eindeutig festgelegtes Ziel, im tibetischen Buddhismus auch bisweilen als "Mahasukha" bezeichnet, also als die gleichzeitige Realisation von Leerheit-Glückseligkeit.
5. Es wird ausdrücklich davor gewarnt, derlei Praktiken auszuprobieren, ohne genügend Vorbereitung und eine klare Anleitung. Das finden heute natürlich die meisten Menschen völlig übertrieben und total unnötig. Wie könnte etwas, was ja Spass machen soll (Sex), irgendwie gefährlich sein?
Dass durch (systematisch) falsch ausgeführte Praxis energetische Disbalancen entstehen können, die zu sogenannten Wind-Krankheiten führen können, ist jedoch jedem ayurvedischen oder tibetischen Arzt völlig klar, solches Wissen ist ein Teil ihrer Ausbildung. Die Westler wissen davon kaum etwas, und meist lernen sie es erst, wenn das psycho-physische System nicht mehr in Balance ist.
6. Die traditionellen Schriften besagen i.a. über homosexuelle tantrische Praktiken nichts. (Sie besagen auch kaum etwas aus der Perspektive der Frauen.) Heute lässt sich jedoch mit grösster Sicherheit sagen, dass das Geschlecht der Beteiligten keine Rolle spielt. Es geht hier also viel weniger um anatomische Gegebenheiten, sondern um die Fähigkeit der Beteiligten, meditative Praxis mit Sexualität zu verbinden, und die dabei entstehenden Energien auf geordnete Weise zu lenken.
7. Es gibt fast keine indische oder tibetische Lehrer, die aus eigener Erfahrung sexuelles Tantra kennen. Die meisten im Westen tätigen tibetischen Meditationslehrer sind Mönche, welche per definitionem keine sexuellen Tätigkeiten ausführen dürfen. Und in Indien geniesst Tantra ungefähr den Ruf und Stellenwert, den "Satanismus" bei uns im Westen hat. Diese Meditationslehrer sind somit aufgrund ihres Lebenslaufes nicht in der Lage, aus Erfahrung jemanden anzuleiten. Interessierte Westler sind somit in einer schwierigen Situation, da es nun mal nur sehr wenige Personen gibt, die einem hier weiterhelfen können.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es heute - wie ich finde: leider - sehr, sehr wenige Menschen gibt, die für traditionelles Karmamudra/Maithuna ein Interesse haben. Dabei ist traditionelles Tantra keineswegs im Konflikt mit Tantramassage, im Gegenteil ergänzen sich beide eigentlich sehr gut. Insbesondere der Einfluss psychotherapeutischen Wissens in die Tantramassage ist eine Bereicherung. Trotzdem bleibt das eine eben weiterhin unbekannt, während das andere eine eher kleine, aber insgesamt recht aktive Gemeinschaft von Leuten kennt.
Es gibt mittlerweile ein erfreulich modernes Buch zum Thema, nämlich "Karmamudra - The Yoga of Bliss" von Nida Chenagtsang. Das Buch enthält einleitende Praxisanweisungen, die verhältnismässig "safe" sind. Anspruchsvollere Praktiken, die mit dem inneren Feuer als Basis arbeiten, sind aber auch in dem Buch nicht enthalten.