"Ist doch nur meine Meinung..."
Das lese ich immer häufiger in sozialen Medien, auch hier in JC-Foren. Und ich lese das als Aufforderung, Kritik an einer dargestellten Position zu unterlassen, bisweilen mit der Anklage verbunden, dass man es an Respekt vor der Meinung des anderen fehle lasse.Ohne Zweifel sollte man Respekt vor anderen Meinungen haben, aber das schützt diese natürlich nicht vor Kritik. Im Gegenteil, Respekt kann eine Position nur erwarten, die kritisierbar ist und die in der Kritik besteht.
Ich will meine Sichtweise, dass "Ist doch nur meine Meinung..." oder "Lass mir doch meine Meinung!" einen nicht gerechtfertigten Versuch darstellen kann, die eigene Position gegen Kritik zu immunisieren, kurz ausführen.
1. Eine Meinung hat einen Wahrheitsanspruch
Das mag für viele trivial, für andere überraschend klingen, aber es ist so: Wenn ich die Meinung äußere, dass XYZ, dann sage ich damit implizit auch, dass ich XYZ für wahr halte. Ich kann nicht meinen, dass XYZ, und gleichzeitig XYZ für falsch halten. Natürlich ist der Wahrheitsanspruch einer bloßen Meinung weniger stark, als wenn ich etwa sage "Ich weiß, dass XYZ." oder "Fakt ist: XYZ".
Und damit kommen wir zu
2. Eine Meinung muss begründbar sein.
Wenn ich etwas als Faktum oder Selbstverständlichkeit oder Inhalt meines Wissens konstatiere, dann muss ich sehr (sehr!) gute Gründe dafür vorbringen können. Natürlich gilt immer, dass Menschen fehlbar sind, aber innerhalb dieses Fehlbarkeitsrahmens sollten meine Gründe unwiderleglich sein.
Oder zumindest mir so erscheinen, bis ich (in der Kritik, durch eigenes Nachdenken) eines Besseren belehrt werde.
Aber auch eine Meinung ist begründungspflichtig. Wenn ich meine, dass der Mond aus grünem Käse gemacht ist, dann sollte ich in der Lage sein, Gründe anzugeben, die mich zu meiner Meinung geführt haben.
Voraussetzungslose Wahrheitsbehauptungen mögen in der religiösen oder ideologischen Dogmatik akzeptabel sein, in einem offenen Diskurs sind sie es nicht.
Und weil eine Meinung Gründe haben muss, muss sie es auch aushalten, dass es Gegengründe gibt:
3. Eine Meinung muss kritisierbar sein.
Wenn mir jemand mit ein wenig Physik nachweisen kann, dass das mittlere spezifische Gewicht des Mondes deutlich über dem aller bekannten Arten von gefrorenem Käse liegt, und der Mond somit nicht - oder zumindest nicht überwiegend - aus grünem Käse bestehen kann, dann muss ich mich zu diesem Gegenargument korrekt verhalten.
Ich kann nicht einfach nur Respekt vor meiner Meinung einfordern, sondern ich muss darlegen, wie meine Meinung mit einem von mir als wahr anerkannten Sachverhalt vereinbar ist.
Oder ich muss den Sachverhalt hinterfragen („Wie erfolgte die Bestimmung des spezifischen Gewichts des Mondes?“). Oder auch: Bereit sein, meine Meinung zu ändern, wenn mir keines von beiden gelingt.
Warum mache ich hier eigentlich solch einen Aufstand? Nun, wegen 4. und 5.
4. Meinungsäußerungen haben einen Relevanzanspruch
Etwa aus den Konversationsmaximen von Grice, aber auch aus der Alltagserfahrung folgt, dass ein Diskursteilnehmer, der etwas zur Sache (und nicht in einem scherzhaften off-topic Kommentar) äußert, implizit behauptet, dass diese seine Äußerung für die aktuelle Diskussion relevant ist.
Und auch der Respekt vor anderen Teilnehmern einer Forumsdiskussion gebietet, dass man annimmt, das sie nicht Belanglosigkeiten äußern wollen.
5. Meinungen können Aufforderungscharakter haben
Meine Meinung (wenn ich sie denn hätte), dass der Mond aus grünem Käse besteht, verpflichtet wohl niemanden zu irgendetwas, aber - gerade in der aktuellen Situation - viele Meinungen konstatieren etwas als ideal oder "zu vermeiden", als gut oder schlecht. Und damit fordern sie, qua Wahrheitsanspruch, die Zuhörer oder Leser zum Handeln auf.
Man muss sich nur die Themen der letzten Jahre und von heute vor Augen führen: Masernimpfpflicht, Coronamaßnahmen, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, den Angriff der Hamas auf Israel und die Reaktion darauf, aber auch Themen wie Klimapolitik oder die "Verkehrswende": Hier fällt es sehr schwer, Meinungen auch nur zu formulieren, die nicht automatisch ein "Die Regierung sollte..." oder ein "Du solltest..." bedeuten.
Wenn es also so ist, dass Meinungen relevante Wahrheitsbehauptungen sind, die oft auch noch Werturteile bedingen und Aufforderungscharakter haben, dann muss eine Meinung auch hinterfragt werden dürfen und sie muss sich begründen lassen.
Sonst, so mein etwas pessimistisch klingender Ausblick, landen wir in einem Szenario des ewigen "Louis de Funès": Nein! Doch! Oh!!!
Und das, was wir als Diskussion kennen und schätzen und lieben, wird zu einem Krieg der Blasen.
Stimmts?
Anmerkung: Im obigem Text kommen Formulierungen vor wie "muss" oder "darf nicht". Diese beziehen sich auf Regeln, etwa Regeln korrekter Argumentation oder eines Diskurses unter rationalen Individuen, aber auch auf logische Gesetze. "Muss" heißt also, dass es von der Regel geboten (oder logisch notwendig) ist, und "darf nicht", dass hier ansonsten ein Regelverstoß (oder eine logische Inkonsistenz) vorläge.