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Jeder Tag zählt - Eine kleine Weihnachtsgeschichte

Jeder Tag zählt - Eine kleine Weihnachtsgeschichte
Es war kurz vor Weihnachten 1989, als mir diese Geschichte im Militärlazarett in Bad Saarow auf die Füße fiel. Ich wusste damals noch nicht, dass mit den Wölfen heulen nicht unbedingt hieß, dass man nicht trotzdem von ihnen gebissen wurde. Aber Schmerz ist der beste Lehrmeister und so begann mein Erfahrungszuwachs an einem Montagmorgen um acht Uhr. Alle Katastrophen beginnen an einem Montagmorgen um acht. Manchmal brechen sie nur erst später aus.
Ich klopfte kurz an die Tür vom Oberarzt und riss sie mit viel Schwung auf.
„Ah, der Rebell“, begrüßte mich Doktor Wurst. Mein Montagmorgen-Optimismus schien von ihm abzuprallen wie Wasser an eingecremter Haut. Offenbar hatte es sich zu ihm herumgesprochen, dass ich mit Autorität, die auf nichts anderem als der Anzahl der Sterne auf den Schulterstücken beruhte, so meine Probleme hatte. Dass ich selbst welche trug, wenn auch nur in Silber und nicht in Gold wie er, änderte nichts daran. Sie waren für mich nur eine ungeliebte Notwendigkeit, damit ich vorankam im Leben, und kein Glaubensbekenntnis.
Aus seinem Gesicht war nichts abzulesen – er sah ruhig und sicher aus, vielleicht sogar ein wenig gelangweilt: ein großer, grauhaariger Mann in einer perfekt sitzenden Uniform mit Bügelfalten zum Brotschneiden, den eine so unbedeutende Sache wie ein frischgebackener Leutnant und Diplompsychologe von wichtigen Aufgaben abhielt. Er musterte mich einen Moment, dann sagte er: „Sie wissen also nicht, in welche Schlangengrube man Sie geworfen hat. Dann werde ich sie mal aufklären. Das hier ist die geschlossene Abteilung. Posten vor der Tür, Gitter vor den Fenstern, kein Zutritt ohne Erlaubnis, keine Besucher ... Straftäter in Uniform ... Mörder, Vergewaltiger, unerlaubter Schusswaffengebrauch, Republikflucht ... der ganze Bodensatz. Der Patient, für den Sie das Gutachten schreiben, hat zwei Menschen umgebracht. Mit einem Tauchermesser.“
Der ganze Bodensatz ... Schon klar. Böse Zungen behaupteten, er könne mit der Kalaschnikow besser umgehen als mit dem Skalpell.
„Ich bringe Sie zu ihm.“ Er warf sich einen Arztkittel über und ging mir voraus. Stumm marschierte ich vorschriftsmäßig einen ganzen Schritt links neben und hinter ihm. Schließlich war ich nur ein frischgebackener Leutnant, der sich genau genommen sein Studium nur erschlichen hatte. Mein Vater war Professor für innere Medizin an der Berliner Charité, meine Mutter eine Augenärztin mit zwei Doktortiteln. Mit dem Elternhaus wäre ich in jedem anderen Land die Nummer eins auf der Liste der Bewerber für einen Psychologie-Studienplatz gewesen. Aber um die Gefährlichkeit dynastischer Intelligenz wusste man im Arbeiter- und Bauernstaat DDR nicht erst seit Pol Pot und so war meine Herkunft gleichbedeutend mit dem letzten möglichen Platz auf der Liste der Anwärter. Doch es gab in jedem System Hintertüren und ich wusste, dass keine Armee der Welt ohne wenigstens ein paar intelligente Leute auskam, wobei das für mich schon ein Oxymoron war – Armee und Intelligenz.
Ich verpflichtete mich als Berufssoldat, „vergaß“ dabei meinen Cousin jenseits des Eisernen Vorhangs zu erwähnen und bekam mein Studium. Vier Jahre später hatte ich meinen Diplompsychologen, trug die Uniform eines Leutnants der NVA mit der silbernen Äskulapschlange auf den Schulterstücken und versah meinen Dienst im Militärlazarett in Bad Saarow in der Nähe von Berlin. Ein Thema für meine Dissertation hatte ich auch, nebst dem zukünftigen Doktorvater. Ich war in der Spur und wenn mein Vater ab und zu bei unseren seltenen abendlichen Gesprächen auf seiner Datscha am Müggelsee mit hochgeschobener Brille die Stirn runzelte und und leise murmelte: Pass auf, was du sagst, nahm ich das nicht sonderlich ernst.
Dr. Wurst stoppte vor einer Tür. „Eins noch: Er kann sechsstellige Zahlen im Kopf multiplizieren, fehlerlos den Inhalt ganzer Bücher zitieren und jede Gesprächsführung analysieren. Darauf ist er trainiert, neben einigem anderem, weniger Schönem. Er ist ein wandelndes Lexikon, aber er wird nicht so reden. Behalten Sie das besser im Hinterkopf und unterschätzen Sie ihn nicht. Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie, der Posten wird Sie hören.“ Damit ließ er mich allein.


Wenn man von den Gittern vor dem kleinen Fenster absah, besaß das Krankenzimmer die tiefgründige Persönlichkeit einer Backsteinmauer. Wie in jedem Krankenzimmer, das auf sich hielt, roch es nach einer Mischung aus Desinfektionsmitteln, kaltem Kantinenessen und Urin. Aus einer Armatur tropfte Wasser in das zerkratzte Waschbecken aus Emaille. Der weiß gestrichene Stahlblechschrank daneben hatte schon ein Leben als Soldatenspind hinter sich und die zerkratzte Sprelakatoberfläche des Nachtschranks neben dem Stahlrohrbett war so leergefegt wie das Südfrüchteregal im Konsum zu Weihnachten. Keine Vase mit einem Blumenstrauß zur Erinnerung an die Liebste und keine Pralinenschachtel von Angehörigen verdeckte die gelben Altersflecken darauf. Daneben stand ein Stuhl, auf dem weder Sachen lagen, noch Schuhe standen; ja, nicht einmal Krücken waren zu sehen. Christian Oldenburg hatte noch nie aus eigener Kraft das Bett verlassen und niemand schien zu erwarten, dass er es in nächster Zeit tun würde.
Er lag auf dem Rücken und atmete tief und gleichmäßig, aber sehr langsam. In beide Armbeugen hatte man ihm Zugänge gelegt, in den linken lief eine Flüssigkeit aus einem Tropf, der Port in seiner rechten Armbeuge war verschlossen.
Er hatte erst dreiundzwanzig Jahre gelebt, doch schien sein Gesicht so festgefügt und unabänderlich, als hätte das Leben darin schon alles abgeschliffen, was es abzuschleifen galt. Es war voller Widersprüche. Das kantige Kinn sprach für Brutalität, doch die deutlich sichtbare Grube darin entschärfte diesen Eindruck wieder und gab ihm etwas Spöttisches. Die schlanke Nase hätte einer Frau besser gestanden, die starken Augenbrauenwülste einem Urmenschen und der breiten und hohen Stirn, die bereits von zwei Falten gefurcht wurde, sah ich an, wie viel Platz zum Denken dahinter war. Obwohl sein Gesicht eingefallen war, die Gesichtshaut totenblass über spitz hervorstehenden Wangenknochen spannte und eine Narbe in frischem Rot auf der linken Wange es verunstaltete, spürte ich einen unbeugsamen Willen dahinter. Bis zu seinem letzten Atemzug würde dieser Mann dem Tod einen erbitterten Kampf liefern.
Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich neben ihn. „Sie sehen besser aus, als man mir erzählt hat,“ begann ich.
„Für nen Schönheitspreis wirds immer noch nich reichen, Doc,“ sagte er.
„Vielleicht wird es nicht zu einem Schönheitspreis reichen, aber sicher bald für einen Gang zur Toilette ohne Hilfe. Ich trage übrigens noch keinen Doktortitel. Ich bin Diplompsychologe. Winfried Gneidsen.“
„Seelenklempner, hm? Oder ersetzen Sie den Pfaffen? Wenn Sie mir helfen wollen, sagen sie mir lieber, was mit mir los iss. Die Quacksalber hier sind alle scheißfreundlich und erzählen nur immer was von Geduld, aber ich traue ihnen nich über den Weg.“
„Sollten Sie aber. Immerhin leben Sie noch.“
Er blies die Backen auf. „Oder trotzdem?“
„Sie mögen Spekulationen?“
„Manchmal. Aber ich würd daraus nie einen Beruf machen. Nie nich.“
Er sprach das wie sie nicht aus. Das musste er nicht, ich hatte es verstanden. „Mögen Sie meinen Beruf nicht?“
„Sie denn? Sie tragen `ne Uniform unterm Kittel.“
„Sie ist ... hilfreich. Ich möchte ein erfolgreicher Arzt werden, damit ich noch vielen Menschen helfen kann. Das ist ein Weg dazu in unserer Gesellschaft. Würden Sie das nicht auch tun, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten, Christian?“
„Nö. Bin kein Diederich Heßling.“
Das war mies. Ich sah mich nicht als Opportunist und er war kaum der Mann, es mir vorzuwerfen. Ich rief mich zur Ordnung, meine Gefühle hatten hier nichts zu suchen und mein Ego schon gar nicht. Er war ein kranker Mensch und ich war hier, um ihm zu helfen. Trotzdem war es der Moment, in dem ich darüber nachdachte, mir eine Brille zuzulegen. Ich hätte sie abnehmen und putzen können. Es hätte mir Zeit verschafft. Zeit, die er mir offenbar nicht geben wollte. Er wollte mir die Führung aus der Hand nehmen und das durfte ich auf keinen Fall zulassen. „Ich bin nicht hier, um mir mit Ihnen einen Kampf zu liefern, Christian.“
Seine Mundwinkel zuckten und ein winziges Lächeln huschte über sein Gesicht. Der Soldat verschwand und stattdessen kam ein junger Mann zum Vorschein, der einen unglaublichen Hunger nach Leben hatte. „Ne, natürlich nich. Sie wollen wissen, was passiert is, nich? Ob ich mich da in Widersprüche verwickle. Aber iss alles wahr, weißt?
„Was ist wahr, Christian?“
„Nu, die Wahrheit. Und die erzähle ich Ihnen jetzt. Als sie mich vor Warnemünde aus dem Wasser gefischt haben, war ich völlig durcheinander. Ich hab was von einer Bombe gefaselt, glaub ich sogar. Iss Blödsinn, ich hatte einfach Angst, dass das passiert, was nu passiert iss. Ich wollte nich in den Knast. Aber es war ganz anders. Werner hatte Probleme mit seinem Sauerstoff, irgendwie ist er ausgetickt, wir kriegten es zu spät mit. Andres wollte ihm helfen und kriegte einen Stich mit dem Messer ab von Werner. Ich schwamm dazwischen, da griff Werner mich auch an, ich musste mich wehren und so isses passiert. Genau so. Jetzt stellen Sie sich das mal bei dreißig Meter Wasserdruck, in völliger Finsternis und bei drei Männern vor, die vor Ausbildungsstress hinter jeder Algenbank das Ungeheuer von Loch Ness gesehen haben. Irgendwann musste das ja mal schief gehen. Und ich bin jetzt der Dumme, weil ich als Einziger wieder nach oben gekommen bin. An irgendeinem müssen sie es ja auslassen, dass das Ausbildungsprogramm einfach nur Scheiße iss, nix für Menschen. Aber Roboter haben sie noch nich, weißt?“
„Was glauben Sie, warum Sie dann hier im Krankenhaus sind und nicht gleich im Gefängnis eingeliefert wurden?“
„Ja, woher soll ich das denn wissen. Vielleicht stimmt ja auch was mit meinem Kopf nich. Sie sind doch der Psychodoktor. Sagen Sie es mir. Es redet ja keiner mit mir. Nich mal Sie.“
„Wenn ich es Ihnen sage, würde es etwas ändern?“
„Aber so was von!“
Er sah nicht danach aus, als würde ihn die Wahrheit umwerfen und wenn, hätte es auch nichts mehr geändert. Im Bett lag er ohnehin schon. Niemand wusste, was wirklich mit ihm los war. Sein Immunsystem war zusammengebrochen, zerstörte statt Krankheitserregern jetzt die eigenen roten Blutplättchen und niemand wusste, warum. Wenn der Prozess fortschritt – und das tat er - würden irgendwann die Organe versagen, weil das Blut nicht mehr genug Sauerstoff zu ihnen transportieren konnte. Man hatte nichts in seinem Körper gefunden, dass dafür verantwortlich gemacht werden konnte und ich fragte mich, ob ich hier vielleicht nicht doch einer noch unbekannten Stressauswirkung auf der Spur war.
Ich sagte: „Es handelt sich um das Evans-Syndrom. Es sieht aber so aus, als ob die Medikamente, die Ihnen gegeben wurden, den Prozess verlangsamen oder sogar aufhalten können. Also gute Aussichten für Sie.“
„Evans-Syndrom, hm?“ Er schloss die Augen. Schweiß trat auf seine Stirn und ich fürchtete, dass ich ihn überfordert hatte. Dabei hatte ich sorgfältig formuliert. Über das Evans Syndrom konnte er unmöglich etwas wissen, selbst ich hatte erst nachlesen und es mir dann noch von Dr. Wurst erklären lassen müssen.
Er schlug die Augen auf. „Sie wissen‘s nich. Sie haben nix gefunden und tappen im Dustern.“
„Aber, aber ... Sie sollten schon ein bisschen Vertrauen in Ihre Ärzte haben. Das kann Ihrer Gesundung nur förderlich sein. Immerhin geht es Ihnen doch schon viel besser.“
„Und das ganz ohne Milzoperation und Knochenmarksspende.“ Er lachte dumpf und musste husten. „Ich bin ein bisschen in meiner Bibliothek spazieren gegangen eben. Da oben in meinem Kopf. Da steht, dass es keine Medikamente dagegen gibt, nur eine Operation der Milz oder eine Knochenmarkspende könnten vielleicht helfen. Irgendwie habe ich aber nix davon mitgekriegt und das heißt, mir bleiben Tage, Wochen, wenns gut läuft, Monate. Und jetzt kommen Sie, Doc. Noch ne Lüge, und ich klatsch Sie gegen die Wand. Dann sind sie nur noch ein feuchter Fleck auf der Diele und dabei haben Sie nich so eine beschissene Diagnose wie ich. Und jetzt muss ich erstmal aufs Klo.“
Er stemmte sich hoch und stellte sich auf die Beine, wankte einen Moment hin- und her, dann brach er zusammen. Noch im Fallen versuchte er, sich irgendwo festzuhalten, griff aber neben den Bügel über dem Bett und erwischte stattdessen die Leitung des Telefons auf dem Board über ihm. Mitsamt der Dose riss er sie aus der Wand und krachte zu Boden.
Ich sprang auf, streckte die Hand nach der Klingel aus, aber meine Reaktion kam viel zu spät. Er packte mich am Bein. „Nicht, Doktor.“
Ich half ihm ins Bett, wollte den Nachtschrank wieder aufrichten, da griff er erneut nach mir. So geschwächt von der Krankheit, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, hatte er trotzdem einen Griff wie eine Stahlzwinge. Etwas stimmte hier nicht.
„Zuhören!“, zischte er, räusperte sich, dann sprach er knapp, aber präzise. „Sie sollen herausfinden, was da unten wirklich geschehen ist. Sie werden dann ein Gutachten über mich schreiben und man lässt Sie glauben, dass es einen Einfluss darauf hätte, ob ich als Doppelmörder verurteilt werde oder als freier Mann hier herauskomme. Den Zahn kann ich Ihnen ziehen, Herr Diplom-Psychologe. Diese Entscheidung ist längst gefallen. Schreiben Sie das falsche Gutachten, landen Sie in einer Zelle und wenn das Leben es böse mit Ihnen meint, in der neben mir. Also: Einsatzbefehl gegen einundzwanzig Uhr. Nur Korvettenkapitän Elsner, nur mündlich. Auftrag: Feindlichen Frachter anschwimmen, Minenattrappe anbringen. Außerhalb der Zwölfmeilenzone. Dann Kartenstudium, hatte jeden Meter Grund im Kopf. Auftrag erfüllt. Starke Strömung, werden auf dem Rückweg abgetrieben, stoßen auf ein Objekt am Grund. Einer macht einen Fehler, etwas tritt aus, dunkle Wolke, schweres Gas oder Flüssigkeit. Keine Detonation, eher rasend schnelle Diffusion. Zwei bekommen etwas ab, ich nicht, war zu weit weg. Die Grundströmung hat es von mir weggetrieben.“
Er nahm sich ein paar Atemzüge, richtete seine Augen zur Decke und sein Gesicht war wie eine Totenmaske, nur noch der Mund bewegte sich: „Erst reagierten sie nicht. Hielten die Position. Fragte, ob alles okay ist, leuchtete meine Hand und den Kreis mit Daumen und Zeigefinger an. Sie schwammen los, schnell, irre schnell, rissen ihre Tauchermesser aus der Scheide ...“
Die Emotionen, die er mit aller Gewalt versuchte, zu kontrollieren, färbten seine warmen rehbraunen Augen so dunkel, dass sie fast schwarz wurden. Der Tod war plötzlich im Zimmer. Vielleicht hatte er auch die ganze Zeit schon hier gelauert, irgendwo in einer dunklen Ecke wartend auf den Moment, an dem er sich sein Opfer holen konnte.
Christian richtete seinen Blick wieder auf mich. „Ich musste sie ... töten. Das war eine Waffe, vielleicht sogar eine Massenvernichtungswaffe, über die ich noch nie etwas gehört habe und Sie können sicher sein, dass in unserer Ausbildung so ziemlich jede bekannte dabei ist. Wenn Sie das so weitergeben, Doktor, hängen Sie mit drin. Man wird Sie wegsperren oder beseitigen, nur weil ich Ihnen davon erzählt habe. Also lassen Sie sich etwas einfallen, wie Sie einen Bericht schreiben, der ohne das alles auskommt. Erfinden Sie eine Psychose oder etwas in der Art, die Vorlage habe ich Ihnen vorhin geliefert. Wahrscheinlich können Sie mir nicht mehr helfen, aber Sie können da noch raus.“
Ich verstand ihn nicht. „Aber warum? Das muss doch an die Öffentlichkeit. Wenn ...“
Wieder packte er mich am Arm. „Es war ein fünfzackiger Stern auf dem Metall! Wollen Sie dem KGB noch eine Einladung schicken? Was glauben Sie eigentlich, warum ich eben das Telefonkabel aus der Wand gerissen habe? Irgendeiner wird hier gleich reingeschissen kommen, weil er nichts mehr hört. Seien Sie nicht so ein Idiot!“
Noch vor zwei Tagen wäre ich es gewesen. Da hatte ich auch noch nicht das Gespräch mit Müller gehabt. Einen Moment zögerte ich, doch dann erzählte ich Christian davon.
Konzentriert hörte er zu. Als ich geendet hatte, sagte er: „Nachtigall, ick hör dir trapsen. Der Name sagt mir etwas. Könnte Oberst Bernard Müller gewesen, Auslandsaufklärung der Stasi. Macht Sinn. Jetzt muss ich mir wirklich Gedanken machen, wie ich Sie da heil heraus bekomme. Wie sah er aus?“
Ich gab ihm eine Personenbeschreibung und war gerade beim Überlegen, welche Konsequenzen das alles für mich haben konnte, da öffnete sich die Tür und Dr. Wurst kam herein. „Ist alles in Ordnung?“
Ich erhob mich. „Ich bin soweit fertig. Der Patient ist beim Versuch gestürzt, aufzustehen, aber es ist nichts geschehen.“
„Das sieht aber anders aus.“ Sein Blick fiel auf den umgestürzten Nachtschrank, blieb auf dem herausgerissenen Telefonkabel hängen und seine Miene wurde finster. „Oberstleutnant Witwer wird von Ihnen nicht begeistert sein, Kollege Gneidsen. Ich bin es auch nicht. Warten Sie draußen auf mich.“
„Mo ... Moment.“ Christian hob die Hand, dann ließ er sie wieder fallen. „War ... mein ... Fehler.“ Er klang fürchterlich schwach. „Bin schlechtes Versuchsobjekt ... für Verhaltensstudien. Ich will eine Aussage machen. Jemand soll kommen. Nicht ...“, er drehte den Kopf zu mir, „der Psychodoktor da.“

Einen Tag später jagte mich - anders kann ich es kaum bezeichnen – Doktor, aber offenbar doch vorrangig Major, Wurst von seiner Station. Warum, erfuhr ich nie, aber wahrscheinlich hatte man sich von mir mehr erwartet. Trotzdem bestand Oberst Müller auf einem Gutachten von mir. Ich nehme an, er wollte wenigstens irgendetwas in seinen Akten haben.
Christian Oldenburg starb nicht. Sein Körper verfiel zusehends, aber er klammerte sich mit einer unglaublichen Kraft ans Leben und so war es wohl eher sein unbeugsamer Wille als die Behandlung, der das, was in ihm wütete, dann doch noch zum Stillstand brachte. Nach drei Wochen wurde er in aller Stille und in Unehren aus der Armee entlassen, aber wenigstens als freier Mann. In der DDR hatte man jetzt andere Sorgen. Die Menschen gingen auf die Straße und brachten das Gebäude, das Parteisoldaten wie Oberst Bernard Müller und ein paar Millionen Mitläufer errichtet hatten, zum Einsturz. Das Ministerium für Staatssicherheit und die Nationale Volksarmee bereiteten sich auf ihre Auflösung vor und ausgerechnet die fettesten Ratten waren es, die am schnellsten das sinkende Schiff verließen und sich in Sicherheit brachten, einige davon nur ein paar hundert Kilometer weiter im Westen, wo man sie mit offenen Armen empfing.
Christian Oldenburg sah ich ein letztes Mal an der Bushaltestelle vor dem Lazarett. Es war der vierundzwanzigste Dezember, ein grauer Vormittag, die Wolken, der Himmel, ja selbst die Bäume schienen grau und der kalte Wind biss in jeden Zentimeter Haut. Geschützt vor dem Regen, warteten zwei Männer und eine Frau unter dem Überdach auf den Bus. Er stand, auf eine Krücke gestützt, mit einem Seesack über der Schulter neben der Bushaltestelle. Obwohl es nur drei Grad waren und ihm das Wasser in den Kragen rann, machte er keine Anstalten, sich unterzustellen. Er blickte über die Kronen der Bäume auf der anderen Straßenseite hinweg.
Er musste Augen im Hinterkopf haben, denn im gleichen Moment, in dem ich neben ihm verhielt, sagte er: „Na, Doc? Wollen Sie mir noch mal auf die Pelle rücken? Erzählen Sie mir nich, dass das ein Zufall iss.“
Natürlich war es keiner. Er schuldete mir noch eine Antwort. Ich hatte mich, so gut es ging, über seinen Zustand auf dem Laufenden gehalten und seinen Entlassungstermin zu erfahren, hatte mich nur ein freundliches Lächeln für eine Schwester gekostet. Dass er gehen konnte, war auch mein Verdienst. Mein erster Erfolg, unter schwierigen Umständen errungen, stolz klopfte ich mir in Gedanken auf die Schulter. „Nennen Sie es Schicksal“, antwortete ich.
Eine Weile schwieg er, dann murmelte er: „Schicksal, hm? Is nur ne Ausrede für Feiglinge, die kein Rückgrat ham. Die Typen, die immer jemand anderem die Schuld in die Stiefel schieben müssen für ihr Versagen. Hab ich zwei Stinkefinger für solche Leute, einen an jeder Hand ... Ich hatte nich grade ein vorbildliches Leben, Müller wird es Ihnen erzählt ham. Aber ich will mich nich beschwer`n, denn ich hatte wenigstens eins, das man so nennen kann. Wenns nich so war, wie `s hätte sein könn`n, iss das weder die Schuld meines Vaters, meiner Mutter, noch die von diesem Oberst Müller von der Stasi oder irgendjemand anderem oder dem Sack Reis, der in China umgefallen iss. Wenn, dann isses ganz allein meine. Ich akzeptiere kein Schicksal, keine Ausreden. Kein Vertun!“
Ich sagte: „Da war noch ein Danke offen, dass Sie mich herausgehalten haben. Außerdem mag ich es nicht, wenn mir jemand sagen will, mit wem ich reden darf und mit wem nicht.“
„Ts, ts ... das iss aber nich gut für Ihre Karriere. Das Danke geht zurück. Ihre Beurteilung hat geholfen.“
„Das freut mich.“
„Mich nicht. Sie haben gelogen und ich habe Sie dazu angestiftet.“
„Wenn es ein Problem wäre, könnte ich ganz gut damit leben.“
„Ja, wahrscheinlich“, sagte er. Ich merkte, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Er starrte eine Weile in den Regen und auf einmal konnte er glasklares Hochdeutsch sprechen. „Mein Körper ist eine defekte Waffe, mein Kopf eine Bibliothek, die vollgestopft ist mit Wissen über Kunst, Literatur und Wissenschaft, aber auch mit Verhörtechniken bis hin zu effektiven Folter- und Mordmethoden und wie ich sie überstehen kann. Ein paar eingestaubte Träume sind auch noch dabei, ganz hinten, in irgendwelchen Gehirnwindungen, die ich bei den Kampfschwimmern nicht gebraucht habe. Heißt: Mir stehen alle Wege offen, wenn sie wahrscheinlich auch nicht mehr lang sein werden. Wofür würden Sie sich entscheiden?“
„Für die Träume“, antwortete ich selbstverständlich. Mein Professor wäre stolz auf mich gewesen.
„Ja, wahrscheinlich ... Aber wie steht es mit Ihnen?“ Jetzt endlich bewegte er sich zum ersten Mal, seit ich gekommen war und drehte den Kopf zu mir. Seine Augen waren kalt und dunkel. „Sie glauben Leuten, nur weil die mehr Sterne auf den Schulterstücken haben als Sie oder weil die einen Schlips tragen. Ihrem eigenen Verstand trauen Sie nicht. Sie haben Angst und die wird ihnen irgendwann die Seele zerfressen, ich weiß, wovon ich rede. Wie wollen Sie dann die Seelen Ihrer Patienten heilen?“ Er machte eine ausholende Bewegung mit seinem freien Arm. „Die Menschen da draußen brauchen einen guten Arzt, keinen erfolgreichen. Wenn Sie den Unterschied nicht verstehen ... werden Sie immer einer von viel zu vielen Diederich Heßlings bleiben. Deswegen sind Sie doch in Wirklichkeit hier, oder? Es hat Ihnen keine Ruhe gelassen.“
Seien Sie also auf einiges gefasst, wenn Sie mit ihm reden und vor allem – unterschätzen Sie ihn nicht. Das hatte Wurst über diesen Mann gesagt und jetzt endlich begriff ich, was er damit gemeint hatte. Ich war es jetzt, der stumm dastand und irgendetwas in mir wünschte sich, der Bus möge endlich kommen. Das Schweigen wurde drückend und ich fragte, nur um es endlich zu beenden: „Was werden Sie jetzt tun?“
„Tanzen im Regen,“ brummte er.
„Es regnet.“
Er blickte zum Himmel. „Tatsächlich.“ Mit einer geschmeidigen Bewegung ließ er den Seesack von seiner Schulter gleiten und hielt ihn mir hin. „Halten Sie mal kurz. Nich runterfallen lassen!“
Ich griff zu und er hinkte auf die Straße, stützte sich fest auf seine Krücke, beugte den Oberkörper ein wenig darüber und dann ... dann begann er zu tanzen, mit geschlossenen Augen und tiefem Ernst im Gesicht. Langsam, zwei Schritte vor, einen zurück, dann wechselte er die Hand auf der Krücke, hinkte um sie im Kreis herum und dirigierte dabei mit der freien Hand ein Orchester, das nur er hörte.
Den Leuten in der Bushaltestelle klappte die Kinnlade nach unten und ich sah wahrscheinlich auch nicht viel intelligenter aus.
Er hörte erst auf damit, als der Bus hinter ihm hupte. Schwer atmend hinkte er wieder zu mir und nahm mir seinen Seesack ab. „Das wollte ich schon immer einmal machen.“ Aus dem Nichts lag plötzlich ein jungenhaftes Grinsen auf seinem Gesicht. „Mach nich so ein Gesicht, Doc. Hab wahrscheinlich ausgesehen wie ein bekiffter Tanzbär – na und? So iss das Leben, meins, deins und wenn ich‘s genau bedenke, das von jedem Menschen auf der Kugel, weißt? Gestern kannst nich mehr ändern und morgen kriegst vielleicht nich mehr mit, weil ein Bus dich platt gemacht hat und du nur noch ein feuchter Schiss auf dem Asphalt bist. Dabei hast nich so `ne beschissene Prognose wie ich. Also heute, Mann, heute! Heute zählt, weil es nich wiederkommt und morgen schon gestern iss. Heute schon eine Frau glücklich gemacht? Irgendjemanden oder wenigsten dich selbst? Gute Musik gehört? Kindern Schokolade geschenkt, dass sie verschmierte Gesichter haben? Deinem Chefarzt eine Möhre in den Auspuff gestopft?“
Er rang um Atem, wankte hin und her und fast fürchtete ich, er würde stürzen. Das Abfahrtssignal ertönte und er krallte sich an der Haltestange im Eingang fest.
„Was werden Sie jetzt tun?“, fragte ich.
„Geschichte studieren“, schnaufte er. „Das ans Licht zerren, was man vor uns verstecken will. Und dann, irgendwann, das Rätsel um die Karte des Piri Reis lösen, solange ich noch die Zeit dazu habe. Aber wie auch immer, jeder Tag ist ein Geschenk, Doktor. Vergeuden wir ihn nicht. Ich nicht und Sie auch nicht. Frohe Weihnachten!“
Mit einem Lächeln im Gesicht ließ der Fahrer die Klingel ertönen. Wahrscheinlich hatte er die letzten Worte gehört. Die Türen schlossen sich, schnitten mein Frohe Weihnacht ab und der Bus fuhr los.
Ich ahnte, dass die Zeit von Christian Oldenburg für seine Pläne nicht mehr reichen würde. Aber wer weiß, dachte ich. Er hat dem Tod jetzt schon zweimal ein Schnippchen geschlagen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn es ihm noch ein drittes Mal gelingen würde. Ich musste lachen und mein Zorn über die Belehrung, die der Diplompsychologe in mir gerade von einem Nichtmediziner erhalten hatte, verflog. Wenn der schwarze Mann viele solcher Kandidaten hatte wie diesen Christian Oldenburg, konnte er sich bald im Westen in die Schlange vor dem Arbeitsamt einreihen.
„Alles Gute“, sagte ich laut, obwohl ich alleine im Regen stand, und noch einmal: „Frohe Weihnachten.“
Als ich am Kontrolldurchlass meinen Dienstausausweis vorzeigte, sah mich der Posten seltsam an. Erst jetzt merkte ich, dass ich eine Melodie summte. Sie war einfach dagewesen wie ein Kinderreim, hatte sich wie ein Ohrwurm in meinen Kopf gefressen. Es war die Ode an die Freude, die Christian Oldenburg bei seinem einsamen Tanz im Regen dirigiert hatte. Heute Abend würde ich sie bei meinen Eltern hören wie jedes Jahr zu Weihnachten. Ob er das gewusst hatte? Zutrauen würde ich es ihm ...

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
Wem der große Wurf gelungen,
eines Freundes Freund zu sein
wer ein holdes Weib errungen,
mische seinen Jubel ein!
Ja--wer auch nur eine Seele
sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle
weinend sich aus diesem Bund!



Frohe Weihnachten Euch allen
RHCSo, Dezember 2021
Die Karte, gezeichnet 1513 durch den Osmanischen General Piri Reis. Doch: Die Antarktis wurde erst im 19. Jahrhundert entdeckt. Außerdem ist sie mit einem grünen Rand gezeichnet. Woher konnte Piri Reis wissen, dass die Antarktis 6000 Jahre zuvor grün war?
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