Mutter 1/ 15
Das Ungewöhnliche und Besondere dieses überraschenden Fundes bekam zusätzliches Gewicht dadurch, dass Mutter von der Existenz dieses Raumes nichts wusste. Mutter entging in der Regel nichts.
Victor bewohnte mit seinem Familienverband einen wunderschönen Altbau inmitten des alten Berlins. Im vierten Stock war sein Wohnbereich, mit hohen Wänden, üppigem Stuck und einem Atem beraubenden Blick über die Stadt.
Wir schreiben die Mitte des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts.
Ein Teil der Familie, Victor inklusive, hatte sich schon seit längerer Zeit über einen uralten Einbauschrank an der Stirnwand des sogenannten Berliner Zimmers geärgert. Der Schrank störte unglaublich die Ästhetik dieser Wohnung und nun war es endlich so weit. Caroline, mit der Victor eine intime Beziehung pflegte und daher mit ihm den Wohnbereich teilte, war mit dem gesamten Familienverband - Männer, Frauen und Kinder - auf dem Land. Vor der Abreise hatten sie noch gemeinsam beschlossen, den Schrank während ihrer Abwesenheit endlich zu entfernen. Er sollte einen anderen Platz bekommen und Victor hatte sich schon die ganze Woche auf diese handwerkliche Arbeit gefreut. Nur aus dem Grund, dass der Schrank anderwärtig Verwendung finden würde - zwei Stockwerke tiefer -, war Mutter einverstanden. Die Ressourcen wurden geschont und der Schrank blieb erhalten. Das war ihre Bedingung - nach langen, zähen Diskussionen.
Mit viel Feingefühl hatte Victor angefangen, den Schrank so in seine Einzelteile zu zerlegen, dass nichts beschädigt wurde. Mutter achtete sehr genau darauf, dass Victor mit allergrößter Vorsicht und Respekt seine Aufgabe erfüllte. Verspachtelte Schraubenköpfe kratzte er vorher sorgsam frei, um die Schrauben aus dem Holz drehen zu können. Die entsprechenden Werkzeuge hatte Mutter ihm bereitgestellt. Es türmte sich schon ein ordentlicher Stapel des alten Holzes in der Mitte des Raumes, als er bei der Demontage der Rückwand einen leichten Windzug und den süßlich-muffigen Geruch abgestandener Luft wahrnahm. Victor war etwas irritiert über das, was sich offensichtlich hinter der Holzverkleidung befand. Ein Kamin aus vergangenen Zeiten etwa? Der würde anders riechen, verbrannt. Neugierig geworden erhöhte er voller Ungeduld das Tempo und starrte unerwartet auf eine einen kleinen Spalt offenstehende Zimmertür. Aufregung erfasste ihn und eine Neugierde, die ihn stark erregte.
Wie konnte sich am Ende seiner Wohnung, hinter der schrecklichen Schrankwand, eine versteckte Tür befinden? Wohin die wohl führte?
Auch Mutter hatte die Öffnung bemerkt und fragte neugierig, „Victor, was ist das?“
Victor konnte sich nicht erinnern, dass Mutter ihn jemals etwas gefragt hätte, was sie selbst nicht wusste. Das irritierte und erstaunte ihn umso mehr.
„Ich weiß es nicht. Hinter dem Schrank scheint sich eine Tür zu befinden.“ Bevor Mutter reagieren konnte, hatte Victor schon die letzten Bretter des Schrankes entfernt und mit einer Taschenlampe durch den schwarzen Türspalt geleuchtet. Mit großen Augen starrte er, die Luft anhaltend, in den Raum. Im Lichtkegel seiner Lampe entdeckte er ein großes Zimmer. Es war stockfinster und schien demnach über kein Fenster zu verfügen. Jedenfalls fiel kein Tageslicht herein, obwohl draußen die Sonne schien. Außerdem bemerkte er, dass der Raum mit Möbeln eingerichtet war. Uralte, aus einer anderen Zeit stammende Möbel zwar, aber...der Raum war komplett eingerichtet.
Gerade wollte er vorsichtig die Tür aufstoßen, um den Raum zu betreten, als Mutter ihn mit barscher Stimme anfuhr. „STOP!“ hielt sie ihn zurück, „der Raum muss erst untersucht werden.“
Kurze Zeit später erschienen Mutters Techniker, keine Menschen, sondern eine Art gesichtslose, ca. einen Meter kleine, autarke Arbeitsroboter. Ohne Victor zu beachten, betraten sie den Raum und leuchteten ihn mit Scheinwerfern aus. Mit Messgeräten überprüften sie die Zusammensetzung der Luft, installierten winzige Kameras und Lautsprecher. Nach wenigen Minuten waren die Aktivitäten beendet und die Techniker genauso lautlos verschwunden, wie sie gekommen waren.
„Es besteht keine Gefahr“, sagte Mutter, „aber erschrecke dich nicht vor dem, was du zu Gesicht bekommen wirst.“ Eine Anmerkung, die seine Zuversicht nicht unbedingt steigerte. Vorsichtig stieß Victor die Tür gänzlich auf und betrat vor Aufregung leicht zitternd diese fremde Welt.
Es roch nach abgestandener, alter Luft. Wirklich unangenehm. Trotz des nun vorhandenen Lichtes behielt der Raum seine gespenstige Atmosphäre bei. In der Mitte stand ein großer Tisch, auf dem unendlich viele eingestaubte Papierstapel lagen, zusammen mit einem ca. 30 x 50 cm großen, silbernen Kasten, dem später eine besondere Bedeutung zukommen sollte. Noch ahnte Viktor aber nichts davon. Er blies den Staub weg und zum Vorschein kam ein mittig auf dem Deckel prangendes Abbild eines schwarzen, angebissenen Apfels. Um den Tisch herum standen mehrere Stühle und an der Längswand befand sich ein raumhohes Regal voll mit alten, verstaubten Büchern. Erstaunt stellte Victor fest, dass es sich nicht nur um einen Raum, sondern um eine ganze Wohnung handelte, die sich hinter der Wohnzimmerwand verbarg. In einer schrägen Wand am Ende des Raumes befand sich eine offenstehende Tür, die in einen kleinen Flur führte. Von hier zweigten mehrere Räume ab, unter anderem eine Küche, in der sich unendlich viele leere, silberne Dosen stapelten. Bestimmt über die Hälfte des Raumes war davon eingenommen. Auch in einem der angrenzenden Zimmer fanden sich hunderte, größtenteils zusammengepresst, von diesen komischen Behältnissen.
„Was ist das, Mutter?“ fragte Victor.
„Konservendosen zur Aufbewahrung von Essen. So konnte es viele Jahre haltbar und halbwegs frisch bleiben. Gemüse oder schon fertig zubereitetes Essen ließ sich dadurch lange einlagern und musste nur aufgewärmt werden.“
Den Raum teilten sich die Konservendosen mit Behältern, die leicht bläulich schimmerten, aber durchsichtig und zerknickt waren.
„Das waren Wasserflaschen aus Kunststoff“, klärte Mutter ihn auf. Das mussten Tausende sein.
Einen Raum weiter blieb ihm das Herz stehen, stockte der Atem, während ein lautloser Schrei seiner Kehle entwich.
„Ich habe dich vorgewarnt, dass du dich nicht erschrecken sollst“, erinnerte Mutter ihn an das Ergebnis ihrer schnellen Inspektion durch die Roboter.
Dieser Raum war eindeutig ein Schlafzimmer, denn in ihm stand ein großes Bett. Das Gruselige war nicht das Bett, sondern die darauf liegenden vier Skelette, zwei kleinere und zwei größere, mit zerfallenen Stoffen bekleidet. Alle Vier hielten sich gegenseitig in den Armen und zeugten eindeutig von einem gemeinsam gefundenen Tod. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Victor auf das Bett, hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. So eine Tragödie hatte er noch nie gesehen.
Die Körperhaltung der Toten war der Grund des tiefgehenden Schreckens. Die Umarmung ging Viktor durch Mark und Bein.
„Was ist hier passiert, Mutter?“ flüsterte er.
Welches Verbrechen wurde hier begangen, fragte sich Victor sichtlich aufgewühlt.
Wurden diese Menschen etwa ermordet? Die ganze Familie? Direkt hinter seiner Wohnzimmerwand? Wie viele Jahre lebte er mit vier Mordopfern praktisch gemeinsam in einer Wohnung? Wand an Wand! Victor hätte sich am Liebsten übergeben.
„Nein, Victor, diese Familie hat sich selbst umgebracht,“ meinte Mutter, als hätte sie seine Gedanken lesen können.
„Aber warum, Mutter? Warum bringt sich eine ganze Familie selbst um? Die beiden kleineren Skelette müssten doch noch Kinder gewesen sein!
Warum wurde diese Wohnung in all den Jahren nicht entdeckt?“
Victor schaute sich verwirrt um. Einiges deutete darauf hin, dass sich die Familie hier versteckt und daher die Wohnung von der Außenwelt abgeschottet hatte. Fenster und Türen waren zugemauert. Anscheinend waren dies ursprünglich weitere Räume seiner Wohnung. Der Türrahmen auf seiner Seite der Wand wurde entfernt, um mit dem Schrank den Zugang zu verstecken. Das erklärte auch, warum die Schrankwand jede Form der Ästhetik missen ließ. Sie hatte eine andere Aufgabe zu erfüllen, von der niemand etwas ahnte in all den Jahrzehnten.
Aber warum hatte sich diese Familie überhaupt versteckt? Siedend heiß stellte sich Victor die nächste - logische - Frage: Vor wem haben sich diese Menschen versteckt?